Atomkraft wird schlecht­gerechnet

„Was wäre, wenn?“ ist eine entscheidende Frage, die man sich nicht nur bei Großinvestitionen stellen sollte. Bei der Suche nach einer Antwort hilft es zurückzublicken – „Was wäre, wenn wir damals anders entschieden hätten?“ – um Lehren für die Zukunft zu ziehen. Erst recht aber lohnt es, nach vorne zu blicken: „Was wäre, wenn wir einen anderen Weg gehen, zum Beispiel wenn wir an einem anderen Standort investieren oder auf eine andere Technologie setzen?“

Was bei unternehmerischen Entscheidungen üblich ist, wird bei der größten Investition dieses Landes seit dem Zweiten Weltkrieg, der Energiewende, nicht gerne gesehen. Dabei unterstreichen zwei „Was wäre, wenn?“-Studien der letzten Wochen, wie wichtig es gerade bei der Energiewende ist, diese Frage zu stellen.

Der Norweger Jan Emblemsvåg, Professor an der Norwegian University of Science and Technology in Ålesund, hat es gewagt, die Frage aufzuwerfen, was wäre, wenn Deutschland vor 20 Jahren nicht beschlossen hätte, aus der Kernenergie auszusteigen, um stattdessen auf die Dekarbonisierung mit zusätzlichen AKW zu setzen. Das ernüchternde Ergebnis seiner Untersuchung: Nicht nur hätten wir bereits eine CO2-freie Stromerzeugung, wir hätten auch noch hunderte Milliarden Euro gespart.

Studie: Atomkraft spart Milliarden ein

Umgehend wurde von den Befürwortern der Energiewende alles daran gesetzt, die Berechnung zu diskreditieren: Emblemsvåg hätte die Kosten der Energiewende durch Doppelrechnungen viel zu hoch angesetzt, urteilten Forscher des Fraunhofer Instituts für Solare Energiesysteme, deshalb sei die ganze Rechnung nicht ernst zu nehmen.

Angesichts der Tatsache, dass nicht mal die Bundesregierung sagen kann, wie viel bisher für die Energiewende ausgegeben wurde, handelt es sich um ein Scheinargument. Die von Emblemsvåg geschätzen Kosten der Energiewende von über 600 Milliarden Euro sind nicht viel höher als andere Schätzungen, und selbst wenn die Kosten mit unrealistisch tiefen 300 Milliarden angesetzt würden, wäre es immer noch günstiger gewesen, auf Atomkraft zu setzen.

In der letzten Woche erschien nun eine Studie der Umweltorganisation Weplanet, die sich mit der Frage beschäftigte, „Was wäre, wenn wir in Zukunft auf einen Mix von erneuerbaren Energien und Atomkraft setzen? “ Das Ergebnis ist eindeutig: Wir würden Milliarden sparen und das Ziel der klimaneutralen Stromerzeugung sicher erreichen. Im Unterschied zur Fortsetzung des eingeschlagenen Weges, der aufgrund des längerfristigen Mangels an ausreichenden Speichermöglichkeiten und der daraus resultierenden Notwendigkeit erheblicher Back-up-Strukturen nicht nur deutlich teurer ist, sondern auch daran scheitern muss.

Debatte statt Tabuisierung nötig

Hier, wie auch an der Studie von Jan Emblemsvåg, wird kritisiert, dass sie Kosten und Zeitbedarf des Baus neuer Atomkraftwerke unterschätzen. Einmal abgesehen davon, dass es zunächst darum gehen sollte, vorhandene Anlagen wieder in Betrieb zu nehmen, zeigt eine genauere Betrachtung, dass die Kosten von Atomkraftwerken systematisch zu schlecht dargestellt werden.

Nehmen wir als Beispiel erneut das Fraunhofer Institut für Solare Energiesysteme: in einer aktuellen Studie zum Vergleich verschiedener Energieträger arbeiten die Forscher bei Atomkraftwerken mit Kapitalkosten von 9000 Euro/kW, weit mehr als die tatsächlichen Kosten in echten Projekten. Hinzu kommt, dass sie bei AKW mit einem Abzinsungsfaktor von 9,6 Prozent arbeiten, verglichen mit 5,8 Prozent bei Windkraft.

Arbeitet man dann noch, wie Fraunhofer, mit einer unrealistisch tiefen Auslastung statt der in Deutschland früher üblichen 90 Prozent, darf es nicht wundern, wenn sich Atomkraft nicht rechnet. Sie soll sich offensichtlich nicht rechnen.

Andere Staaten wie Korea und China machen vor, wie es geht: standardisierte Kraftwerke mit deutlich kürzeren Bauzeiten und Kosten bei adäquaten Finanzierungskosten. So liegen die Kosten für Atomstrom in China bei etwa 70 Dollar pro Megawattstunde und damit deutlich unter denen in den USA (105 Dollar) und der Europäischen Union (160 Dollar).

Kein Wunder, dass die Internationale Energieagentur (IEA) ebenfalls in einer aktuellen Studie von einer Renaissance der Atomenergie ausgeht und bessere Rahmenbedingungen fordert, um Bauzeit und Finanzierungskosten zu senken.

Der regelmäßige Aufschrei, wenn hierzulande die „Was wäre, wenn?“-Frage im Zusammenhang mit Atomkraft gestellt wird, zeigt nur, dass eine echte Diskussion nicht stattfinden soll, dürfte sie doch zu anderen Ergebnissen führen, als eine starke Lobby-Gruppe sie sich wünscht. Das Problem dabei ist der volkswirtschaftliche Schaden. Mittlerweile ist er so groß, dass wir uns eine solche Tabuisierung nicht mehr leisten können.