VW-Debakel ist ein Weckruf: Müssen Abstieg als Wirtschaftsnation verhindern
Mit VW wackelt nicht eine, sondern die Ikone deutscher Industriekraft. Keine Überraschung, sagt der Ökonom Daniel Stelter. Gegenüber FOCUS online erklärt Stelter, welche politischen Fehler die Autoindustrie in diese Lage gebracht haben, wie sinnvoll nun ein Industriestrompreis wäre und was er von Mario Draghis Plan für die EU hält.
FOCUS online: Herr Stelter, Volkswagen, das Symbol deutscher Industriekraft, steckt tief in der Krise. Was sagen Sie dazu?
Stelter: Zunächst muss man dazu sagen: Das darf uns leider nicht überraschen. Wir wissen seit langem, dass die Automobilindustrie vor enormen Herausforderungen steht. Ex-Kanzlerin Merkel hatte bereits im Juni 2017 gesagt, dass sie für die deutsche Automobilindustrie schwarz sieht. Nun könnte man diskutieren, warum sie dagegen nichts unternommen hat. Aber warum hat sie das gesagt? Wir haben es zum einen mit einem Markt zu tun, der in Europa schrumpft. Die Politik tut alles dafür, damit weniger Autos verkauft werden – Autos seien schlecht, vor allem fürs Klima, und so weiter. Dann hatten wir den Dieselskandal und andere Faktoren, die dazu geführt haben, dass die Nachfrage zurückgegangen ist. Und wir haben eine alternde Gesellschaft. Wir haben viele Einflüsse, die dazu führen, dass der Markt in Europa strukturell schrumpft, und das ist durchaus politisch motiviert. Das ist schlecht für eine Firma, die hier beheimatet ist.
FOCUS online: Und zweitens?
Stelter: Wir haben einen massiven technologischen Umbruch, vom Verbrenner zur Elektromobilität. Der wäre so oder so gekommen, das ist unstrittig. Das Elektroauto ist perspektivisch die bessere, die effizientere Technologie. Jetzt hat aber die Politik gesagt, wir wollen das ganz gerne noch schneller haben, als es eigentlich gekommen wäre – durch Subventionen, durch Regulierung, durch Verbrennerverbote. Wir forcieren den Umbruch. Nur muss man dabei den Markt auch verstehen.
FOCUS online: Funktioniert der Automobilmarkt denn anders als andere Märkte?
Stelter: Als Neueinsteiger ist sehr schwer, in einen Markt einzutreten, der verteilt ist, in dem es viele Spieler gibt. Denken Sie nur daran, wie lange die Japaner und Koreaner gebraucht haben. Eine Chance gibt es immer dann, wenn die Technologie sich grundlegend ändert. Von der Pferdekutsche zum Auto, das war so radikal, da hat, glaube ich, nur ein Postkutschenhersteller Widerstand leisten können und noch ein paar Jahrzehnte überlebt. Bezogen auf uns sehen wir, dass unsere Automobilindustrie 100 Jahre Erfolg hatte, weil sie das Produkt optimiert hat. Laufruhige Motoren, leistungsstark, verbrauchsgünstig, gute Getriebe, all diese Dinge. Solche Faktoren lassen sich nicht einfach nachmachen. Und hier haben die Angreifer nun eine einmalige Chance.
FOCUS online: … weil ein Elektroauto kein kompliziertes Getriebe, aber eine Batterie braucht?
Stelter: Genau. Die Kompetenzen sind nun anders – Elektromotor, Batterie, Digitalisierung, und das haben die anderen Wettbewerber genutzt. Tesla hat angefangen, mehr noch aber chinesische Hersteller. Und das ist das Interessante: Wir haben in Europa vor 20 Jahren gesagt, wir wollen das Klima schützen, wir gehen in Richtung Elektromobilität. Aber wir haben nicht das getan, was die Chinesen gemacht haben. Die Chinesen haben sich die Rohstoffe gesichert. Die Chinesen haben Batteriekompetenz aufgebaut. Die Chinesen haben auf eine ganze Menge Faktoren geachtet, auf die wir nicht geachtet haben. Und jetzt haben wir die Situation, dass die Elektromobilität aus China besser ist als die aus Deutschland. Das führte dazu, dass VW, die ja in China viel verkauft haben, nun in China weniger verkaufen und gleichzeitig einen Heimatmarkt haben, der schrumpft.
FOCUS online: Hat sich Volkswagen nicht auch ein wenig von seinem Markenkern entfernt, mit den doch relativ teuren „Einsteiger“-Stromern?
Stelter: Wenn ich jetzt höre, wie Politiker fordern, VW müsse einen Wagen für 20.000 bis 30.000 Euro anbieten, dann stellt sich doch die Frage, warum die Fahrzeuge teurer sind. Das Problem ist, dass Volkswagen noch eine alte Struktur hat, die sie abwickeln oder umbauen müssen. Und zweitens spielen natürlich die Standortfaktoren eine Rolle. Wenn man mal die Stromkosten durchrechnet für die Herstellung eines Autos, dann kommt man in Deutschland auf etwa 1000 Euro, inklusive Vorprodukte wie Stahl und so weiter. In den USA sind das 200 Dollar. Wenn jetzt jemand sagt, die paar hundert Euro, ist doch nicht so viel, dann hat er noch nie mit der Automobilindustrie zu tun gehabt. Bei Zulieferern geht es um Cent-Beträge! Seit Jahren geht der Trend unserer Automobilindustrie hin zu Premium, zu besserer Qualität. Mit höheren Preisen kann man eben höhere Kosten rechtfertigen. Nur wenn man jetzt nicht mehr das beste Produkt hat, kann man auch nicht den höheren Preis verlangen. Damit hat man im Grunde den perfekten Sturm für die Hersteller und auch VW.
FOCUS online: Also hat es weniger mit eigenem Missmanagement bei Volkswagen zu tun, wie nun einige Kritiker unken?
Stelter: Politiker, die nie eine Firma von innen gesehen haben, sagen, das ist Missmanagement. Studien zeigen aber: Es ist maximal schwierig, so einen Umbruch zu gestalten, weil Firmen ihr altes Geschäft – das, was sie gut können – reduzieren müssen. Sie müssen eigentlich gegen sich selbst im Wettbewerb stehen. Ein erdachtes Beispiel: Mit einem Golf verdient Volkswagen 2000 Euro, mit dem Elektroauto 200 Euro. Nun müssen sie trotzdem das Elektroauto pushen, damit sie weniger Verbrenner verkaufen, damit sie weniger Gewinn machen. Das ist strategisch vielleicht wichtig, aber operativ extrem schwer umsetzbar. Weil das auch noch die ganze Wertschöpfungskette betrifft, hängt alles von den Rahmenbedingungen ab. Man muss sagen: Die Rahmenbedingungen, die China geschaffen hat, sind besser. Dadurch haben wir ein Szenario, bei dem wir davon ausgehen müssen, dass die Automobilindustrie im Inland ganz massiv Kapazitäten abbauen wird. Und das ist nur in der Theorie schön.
FOCUS online: Stichwort Rahmenbedingungen – wie groß ist die Schuld der Ampel an der Misere bei VW, und an der Deindustrialisierung generell?
Stelter: Politiker müssen den Umbau ja nicht managen, können aber kluge Sprüche klopfen. Ich denke, es ist so: Die Ampel hat die falsche Politik der Vorjahre mit höherer Geschwindigkeit fortgesetzt. Aber sie ist nicht allein daran schuld. Die Energiepreise stiegen bereits vor der Ampel, der Atomausstieg wurde von Frau Merkel endgültig vollzogen, obwohl es ursprünglich eine rot-grüne Idee war. Also haben die Vorgängerregierungen Fehler gemacht, nur macht es die Ampel nicht besser. Es ist doch klar, dass keiner, der beispielsweise eine Batterieproduktion aufbauen will, das in Deutschland macht. Die Rohstoffe sind nicht da, die Verarbeitung der Rohstoffe ist nicht hier, und die Batteriezellenfertigung selbst enorm energieintensiv. Batterien baut man da, wo es günstigen Kohlestrom gibt. Ich glaube zwar, dass Konzerne wie Volkswagen, Mercedes oder BMW überleben. Ich glaube aber definitiv nicht, dass der Anteil der inländischen Produktion auf dem heutigen Niveau bleibt.
FOCUS online: Die SPD hat nun erneut einen Industriestrompreis ins Spiel gebracht. Kritiker sagen: Das sind jetzt wieder Pflaster für die Großen, während kleinere Betriebe das Nachsehen haben. Die Befürworter sagen, so halte man die Industrie hier, bis der Strom durch erneuerbare Energiequellen dauerhaft günstig bleibt.
Stelter: Der letzte Punkt ist der entscheidende. Selbst das Wirtschaftsministerium sagt mittlerweile, dass es so eine schöne neue Welt billigen Stroms nicht geben wird. Ein System mit erneuerbaren Energien ist strukturell immer noch teurer als das alte System. Denn dafür müssen wir Überkapazitäten aufbauen, Netzinfrastruktur aufbauen, Backups aufbauen. Ein System erneuerbarer Energien ist per Definition teuer. Ja, der Strom aus der Steckdose direkt am Windpark, direkt am Solarpark, wenn der Wind bläst und die Sonne scheint, ist unschlagbar günstig. Doch die Systemkosten sind höher, weil wir Backup-Kraftwerke brauchen, deren Kilowattstunden umso teurer sind, je weniger ausgelastet sie sind. Es gibt eben nicht diese Welt, wo billige Energie vom Himmel fällt.
FOCUS online: Das klingt nicht so, als würden Sie einen als „Brückenpreis“ gedachten Industriestrompreis gutheißen.
Stelter: Industriestrompreise sind so eine Sache. Es wäre in der Tat unfair, ihn nur für die „Großen“ zu machen, weil wir auch viele Mittelständler haben, die ihn genauso brauchen. Wo zieht man da die Grenzen? Wenn ein solches Instrument nun eine „Brücke“ in eine neue schöne Welt mit billiger Energie sein soll, setzt das voraus, dass wir ein Energiesystem anstreben, das dann auch kostengünstige Energie bereitstellt. So kommen wir aber schnell zu unangenehmen Themen. Wahrscheinlich wäre es günstiger, im Süden der Republik Gaskraftwerke zu bauen, oder vorhandene AKW nicht abzureißen, statt für Hunderte Milliarden eine Stromleitung von Nord nach Süd zu bauen. Ökonomen und Ingenieure würden das sofort machen, die Klimabewegungen sagen aber nein, und das führt in eine Richtung, die einfach sehr teuer ist. Wir verfolgen seit Jahren einen Weg zu einer ideellen Welt, die sich nicht erreichen lässt. Und wir denken, wie wir diesen Weg beschreiten, sei völlig egal, als hätten wir unlimitierte Ressourcen. Jetzt stellen wir zwangsläufig fest: Wir haben doch keine unlimitierten Ressourcen, siehe Staatshaushalt, und erleiden einen erheblichen Kollateralschaden.
FOCUS online: Damit meinen Sie die Deindustrialisierung?
Stelter: Der Anteil der industriellen Wertschöpfung liegt in Deutschland bei 20 Prozent. In Großbritannien und den USA sind es nur 10 Prozent, oder weniger. Mein Eindruck ist: Wir sind jetzt gerade auf der Rutsche. Rutschen kann Spaß machen, nur nicht in diesem Fall. Das Problem an der Sache: Es ist schwer, auf einer Rutschbahn zu stoppen. Das ist meine Sorge. Wir stehen vor einer Situation, in der es ziemlich schnell nach unten gehen kann.
FOCUS online: Aber nochmal zurück zur konkreten Frage: Sind Sie also gegen einen Industriestrompreis?
Stelter: Ich bin gegen den Industriestrompreis, wenn er einfach nur eingeführt wird, ohne eine Änderung zu einer Energiestrategie, mit der wir bald wirklich tiefe Preise haben. Ewig können wir uns Subventionen nicht leisten.
FOCUS online: Können wir es dann überhaupt noch schaffen, den Wohlstand, den die Automobilindustrie generiert, zu erhalten? Gibt es überhaupt noch eine Industrie, die wir hier auf- oder ausbauen könnten, als Alternative?
Stelter: Ich kann diese Frage nicht beantworten. Ich glaube, keiner kann diese Frage beantworten. Persönlich glaube ich nicht an staatlich gesteuerte Industriepolitik. Jetzt könnte man sagen: In China funktioniert’s doch, siehe Elektromobilität, siehe Photovoltaik. Ich sehe aber nicht die Möglichkeit, dass es bei uns so funktioniert. Wir haben Industrien mit Potenzial. Sogar Raumfahrt bietet Potenzial. Ich fürchte nur, dass wir da zu kleinteilig herangehen. Und vor allem, wenn der Staat jetzt ein Programm macht – mal dahingesponnen – zu Raumfahrt, oder zu Flugtaxis. Dann droht die Gefahr, dass es wie bei Photovoltaik läuft. Wir haben Photovoltaik erst marktfähig finanziert, wir Deutschen, mit Subventionen. Heute ist es in chinesischer Hand. Entscheidend sind die Rahmenbedingungen. Ich glaube eher, wir müssen es so machen wie es auch Herr Draghi vorgeschlagen hat. Es muss die Chance geben für neue Gründer, für neue Firmen, nicht nur zu starten, sondern auch dauerhaft erfolgreich zu werden.
FOCUS online: Also sehen Sie für die Zukunft der deutschen Industrie schwarz?
Stelter: Es gibt noch Bereiche, in denen wir so einen technologischen Vorsprung haben, dass wir auch mit höheren Kosten zu Rande kommen. Natürlich haben wir noch Marktstellungen, an die keiner rankommt. Bei der Automobilindustrie ist das so eine Sache. Ein Umbruch wie der zur Elektromobilität passiert nur alle paar Jahrzehnte. Insofern bin ich nicht generell pessimistisch. Nur: Wir sind in letzter Zeit sehr gut darin, Dinge kaputtgehen zu lassen oder kaputtzumachen. Und wenig gut darin, Dinge aufzubauen. Wir tun uns schwer, die großen neuen Industrien zu gestalten, und sind stolz darauf, Regulierungsweltmeister zu sein. Schauen sie nur mal auf das neue Apple iPhone – die neue KI-Funktion steht in Europa und damit in Deutschland gar nicht erst zur Verfügung, wegen des Digital Service Act – Bingo!
FOCUS online: Könnte man sich denn etwas von Draghis Forderungen versprechen? Er pocht auch auf eine gemeinsame Verschuldung, ein Punkt, bei dem Sie vermutlich skeptisch sind.
Stelter: Aber selbstverständlich bin ich das. Die anderen EU-Länder haben ihre Verschuldungskapazität ausgeschöpft, wir noch nicht. Zum einen, weil wir hohe Steuern und Abgaben haben, zum anderen, weil der Staat, aus irrsinnigen Gründen heraus, seit Jahren zu wenig ins Land investiert. Wo soll die Logik sein, dass wir unser Geld, was wir gespart haben, an andere überweisen, die viele Schulden gemacht haben? Wenn wir schon sagen, wir kehren von finanzpolitischer Solidität ab, dann doch bitte für Investitionen im eigenen Land.
FOCUS online: Das dürfte nicht Draghis Vorstellungen europäischer Solidarität entsprechen.
Stelter: Italien und Frankreich haben viele Staatsschulden gemacht und viel investiert, in Straßen, Digitalisierung, und so weiter. Und jetzt brauchen sie mehr Geld von uns, und wir haben weiterhin Schlaglöcher und Mobilfunklöcher? Da wäre es einfacher vernünftiger, ins eigene Land zu investieren. Ich bin nicht EU-feindlich, aber wenn wir hohe Abgaben und schlechte Infrastruktur haben, und jetzt den anderen aushelfen sollen, dann erschließt sich mir diese Logik nicht. Wir sollten lieber aufholen, was wir versäumt haben. Auch das leistet einen Impuls für die europäische Wirtschaft. Wir würden sanieren, wieder kreditwürdiger werden, würden mehr Güter importieren, hätten mehr Nachfrage. Die wahre Solidarität mit der EU ist, dass wir unseren Abstieg als Wirtschaftsnation verhindern. Die EU wird es so nicht mehr geben, wenn es nicht mehr die großen Schecks aus Deutschland gibt.
FOCUS online: Herr Stelter, danke für das Gespräch.