Zur „TARGET-Hysterie“
Natürlich bin ich über diesen Artikel gestolpert, natürlich haben ihn mir mehrere Leser von bto geschickt. Kein geringerer als Martin Hellwig, emeritierter Direktor des Max-Planck- Instituts zur Erforschung von Gemeinschaftsgütern, nimmt in der TARGET2-Diskussion Stellung. Er unterstützt dabei jene, die die Sorgen als unberechtigt und die Kritik als Panikmache ansehen. Grund genug, seine Ansichten hier zu diskutieren:
- „Die sogenannten ‚TARGET-Forderungen‘ der Bundesbank gegenüber der EZB sind auf eine Billion Euro angestiegen. Frankfurter Allgemeine Zeitung und Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung widmeten diesem Ereignis mehrere Artikel. Thomas Mayer schrieb, die EZB habe nicht das ‚nötige Geld, um ihre Verbindlichkeit an die Bundesbank begleichen zu können‘. Hans-Werner Sinn meint, Deutschland sei ‚zu einem Selbstbedienungsladen geworden, in dem man nach Belieben anschreiben lassen kann, ohne dass der Ladeninhaber seine Forderungen fällig stellen kann‘.“ – bto: Beide Artikel habe ich bei bto ausführlich besprochen, allerdings auch die Kritik an dieser Sichtweise.
- „Jeder Finanzanalyst weiß, dass man das Kleingedruckte lesen muss, ehe man die Zahlen in einer Bilanz verstehen kann. Dass die Target-Forderungen in der Bilanz der Bundesbank als ‚Forderungen‘ aufgeführt werden, bedeutet zunächst nur, dass dieser Posten auf der Aktiv-Seite der Bilanz steht. Tatsächlich gibt es keinen Rechtsanspruch auf eine Einlösung dieser ‚Forderung‘.“ – bto: Also können wir hierzu festhalten, dass es eine wertlose Position ist, weil man sie nicht einfordern kann.
- Was aber keine Rolle spielt, meint Hellwig. Denn: „Entgegen dem, was behauptet wird, beruhen die TARGET-Forderungen nicht auf Krediten der Bundesbank. Es sind vielmehr Gegenbuchungen im Rahmen des Zahlungsverkehrs. Solche Gegenbuchungen tauchen auch auf, wenn Frau Müller in München 1000 Euro an Herrn Schmitz in Köln überweist. Durch die Überweisung sinkt die Verbindlichkeit der Münchner Bank gegenüber Frau Müller und steigt die Verbindlichkeit der Kölner Bank gegenüber Herrn Schmitz, beides um 1000 Euro. Die Gegenbuchungen erfolgen auf den Konten der beiden Banken bei einem Dritten, der die Verbindung herstellt. Gehören beide derselben Organisation an, etwa als Filialen einer überregional tätigen Bank, so sinkt das Guthaben der Münchner Filiale und steigt das Guthaben der Kölner Filiale bei der Zentrale der Organisation, beides um 1000 Euro. Das ist ein rein mechanischer Vorgang.“ – bto: Das ist eine richtige Beschreibung, dessen was passiert. Wenn jetzt aber Frau Müller mit dem überwiesenen Geld ein Haus in Köln kauft und zudem die Münchner Bank unbegrenzt Geld schaffen kann, das dann für den Kauf in Köln verwendet wird und von der Zentralbank ausgeglichen wird, haben wir eine Vermögensverschiebung. Frau Müller hat ein reales Asset, Herr Schmitz eine Geldforderung, die so viel wert ist wie die Sicherheiten, die bei der Bank liegen. Wenn also in München viel mehr Geld geschaffen wird als in Köln, hat das einen vermögensverschiebenden Effekt. Das spielt innerhalb Deutschlands keine so große Rolle, in Europa schon, finde ich.
- „Wenn die beteiligten Banken unabhängig voneinander sind, so enthält auch der Zahlungsverkehr ein Element der Kreditvergabe. Dann läuft der Vorgang über die Bundesbank, das Guthaben der Münchner Bank bei der Bundesbank sinkt um 1000 Euro, und das der Kölner Bank bei der Bundesbank steigt um 1000 Euro. Und wenn die Münchner Bank bei der Bundesbank im Minus ist, so würde ihre Verbindlichkeit um 1000 Euro steigen; dazu muss die Bundesbank ihren Kredit an die Münchner Bank erhöhen.“ – bto: weshalb es auch im Falle des TARGET2-Systems so ist. Oder?
- „Die Bundesbank ist allerdings weder ganz selbständig noch ganz unselbständig. Als Miteigentümerin der EZB ist sie selbständig. Als operativer Teil des Eurosystems dagegen ist sie unselbständig. Die Regeln des Eurosystems lassen ihr in einigen Dingen relativ viel, in anderen relativ wenig eigenen Spielraum, bei der Durchführung des innereuropäischen Zahlungsverkehrs praktisch keinen. (…) Im Hintergrund steht die Vorgabe des europäischen Vertrags, ‚das reibungslose Funktionieren der Zahlungssysteme zu fördern‘.“ – bto: Es ist also keine Forderung der Bundesbank, sondern der EZB?
- „Mayers Warnung, die EZB habe nicht das ‚nötige Geld, um ihre Verbindlichkeit an die Bundesbank begleichen zu können‘, ist absurd, nur zu verstehen als Folge des Umstands, dass die Filialtätigkeit der Bundesbank als Teil des Eurosystems in der Bilanz der Bundesbank und nicht in der Bilanz der EZB ausgewiesen wird. Wiese man diese Filialtätigkeit bilanziell bei der EZB aus, so erübrigte sich die Diskussion. Alle Forderungen und Verbindlichkeiten der nationalen Zentralbanken aus geldpolitischen Operationen ständen dann in der Bilanz der EZB. Dazu gehören nicht nur die Target-Forderungen der Bundesbank, sondern auch deren Verbindlichkeiten gegenüber Kreditinstituten und aus der Notenausgabe in Höhe von zusammen mehr als 1200 Milliarden Euro, deutlich mehr als die Target-Forderungen.“ – bto: Das Problem ist aber, dass die EZB keine solche Notenbank ist, sondern als Tochter der nationalen Notenbanken nur über eine kleine Bilanz verfügt.
- „Eine Übernahme dieser Verbindlichkeiten könnte die EZB sich ohne weiteres leisten, denn die Verbindlichkeiten aus der Notenausgabe verpflichten sie zu nichts, und die Verbindlichkeiten gegenüber Kreditinstituten verpflichten sie nur zur Einlösung in Noten, die sie selbst herstellen kann, ohne Kosten und ohne weitere Verpflichtung.“ – bto: Klar, die Notenbank kann beliebig Geld erzeugen, um Verpflichtungen nachzukommen, allerdings perspektivisch nicht ohne Folgen für den Geldwert.
- „Und was ist, wenn Italien aus dem Euro ausscheidet und die Banca d’Italia sich weigert, ihre ‚Target-Verbindlichkeiten‘ gegenüber der EZB einzulösen? Da diese Verbindlichkeiten die Banca d’Italia zu nichts verpflichten, ist die Antwort einfach: ‚Nichts!‘ Nur eine Zahlungseinstellung des italienischen Staats würde das Eurosystem treffen, vor allem aber die Banca d’Italia, die italienischen Banken und Privatleute, die den Großteil der Staatsschulden halten.“ – bto: Es ist richtig, dass es vor allem Italiener sind, die im Falle eines Staatsbankrottes ihr Geld verlören. Richtig ist auch, dass man die TARGET2-Forderung ewig stehen lassen kann. Es ist halt dann eine Forderung ohne Wert, wie auch Sinn immer wieder betont. Die Frage ist: Haben wir dafür etwas Echtes gegeben im Tausch? Denn nur dann ist es wirklich ein Verlust.
- „Aber hinter den Target-Forderungen stehen doch deutsche Leistungen? Hier gewährt doch ‚Deutschland anderen Euroländern gleichsam unbegrenzt und unverzinst Kredit‘. Und die Bundesbank hat es ‚anderen Volkswirtschaften des Euroraums ermöglicht, einen Nettozustrom von deutschen Waren, Dienstleistungen und Vermögenstiteln zu bezahlen‘ (Sinn). Sätze wie diese sind semantisch unsinnig, da Worte und Begriffe außerhalb des Kontexts gebraucht werden, für den sie gedacht sind. Länder und Volkswirtschaften sind keine handelnden Personen oder Institutionen. Die Vergabe und Aufnahme von Krediten und der Kauf und Verkauf von Waren, Dienstleistungen und Vermögenstiteln sind die Angelegenheit von Personen und Institutionen in den verschiedenen Ländern und Volkswirtschaften. Und diese haben mit den Target-Positionen im Eurosystem nichts zu tun.“ – bto: Da habe ich nun wieder einen Hänger. Ja, es sind privatwirtschaftliche Entscheidungen, die aber zu Folgen im EZB-System und in heutiger Ausgestaltung der Bilanz der Bundesbank führen, ohne dass Letztere dagegen oder dafür etwas tun könnte. So gesehen führen die privatwirtschaftlichen Entscheide zu einem volkswirtschaftlichen Ergebnis. Die Forderungen werden zum Auslandsvermögen gezählt. Schon in der Vergangenheit haben wir Auslandsvermögen verloren. Das könnten wir wieder.
- „Ein guter Teil der Maßnahmen, die den Anstieg der Target-Salden verursacht haben, ist auch Personen und Institutionen in Deutschland zugutegekommen, so 2008, als die deutschen Banken ihre Kredite an griechische Banken abzogen und die griechische Zentralbank einsprang. Und deutsche Investoren haben davon profitiert, dass sie Staatspapiere aller Art an die Zentralbankenverkaufen konnten.“ – bto: Das stimmt. Doch was bedeutet es ökonomisch? Dass die Forderung keine Forderung ist oder aber, dass sich private Gläubiger zurückgezogen haben und nun staatliche Gläubiger dafür eingesprungen sind. Alle Steuerzahler tragen das Risiko der Bundesbank (und seien es nur geringere Gewinne), während einzelne Akteure profitieren.
- „Und die Kapitalflucht der Südeuropäer? Im europäischen Binnenmarkt steht es allen, Griechen und Italienern genauso wie Deutschen, frei, ihr Geld anzulegen, wo sie wollen. Vielleicht bringen einige ihr Geld ja auch nach Frankfurt, weil der Finanzplatz so attraktiv ist. Wenn das die Immobilienpreise erhöht, ist das für Deutsche, die Wohnungen kaufen wollen, schlecht, aber gut für Deutsche, die Wohnungen verkaufen wollen. Preiseffekte sind immer ambivalent, aber bisher sind wir immer davon ausgegangen, dass die Marktöffnungsstrategie der EU für uns von Vorteil war.“ – bto: Auch dem kann man folgen. Die Frage ist aber, ob übermäßige Geldschöpfung in einigen Ländern nicht doch zu einer Wohlstandsverschiebung zwischen den Ländern führt, die ohne das Zahlungsverkehrssystem des Target2 mit seiner fehlenden Tilgungsverpflichtung – siehe Beitrag von Hans-Werner Sinn – nicht denkbar wäre.
Mein Fazit: Hellwig betont zu Recht, dass es eine Zahlungsverkehrsgröße ist, die, wenn die EZB eine echte Notenbank wäre, gar nicht auffallen würde. Er betont auch zu Recht, dass es eben zu einer Währungsunion gehört, dass die Bürger ihr Geld anlegen können, wo sie wollen. Auch stimmt es, dass deutsche Wirtschaftssubjekte von den TARGET2-Forderungen profitieren. Es mag auch sein, dass ein Austritt Italiens (bei dem es allerdings nicht bliebe) zu keinen Verlusten führt, weil die EZB das Geld einfach schafft bzw. eine Abschreibung einfach nicht vorgenommen wird. Damit sind wir aber immer weiter auf dem Weg des Zauberlehrlings und unsere Geldordnung wird immer fragwürdiger. Wenn wir allerdings echte Vermögenswerte dafür hingeben und im Gegenzug die TARGET”-Position aufbauen, tauschen wir unsere Vermögen in eine geringer verzinsliche und nicht einforderbare Geldposition, was in Summe die Ertragskraft unseres Auslandsvermögens schmälert. Mindestens hier haben wir einen erheblichen finanziellen Nachteil aus der Entwicklung.
→ faz.net: “Wider die deutsche Target-Hysterie”, 29. Juli 2018