Rezessionsangst unbe­ gründet? – Zumindest für die USA

Nicht wenige Kommentatoren meinten mit Blick auf den aktuellen Podcast, dass mein Gesprächspartner das Risiko einer (durch die Notenbanken ausgelösten) Rezession unterschätzen würde.

Für die USA gibt kein Geringeren als Jim O’Neill, früherer Goldman Sachs-Ökonom und Erfinder des Wortes BRIC Entwarnung. Die Finanz und Wirtschaft (FuW) druckt aus Project Syndicate nach. Die Highlights:

  • “Fast jeder scheint zu glauben, dass die Industrieländer auf eine Rezession zusteuern oder sich bereits in einer solchen befinden. Ich habe mehrere Gespräche mit Unternehmensberatern geführt, die alle wissen wollten, ‘wie man sich auf die Rezession vorbereitet’. Einem von ihnen habe ich gesagt, dass ich keine frühere Rezession kenne, die so sicher vorhergesagt wurde wie die, die jetzt angeblich vor uns liegt.” – bto: Die Berater wieder! Ich denke, vorhergesagte Rezessionen können schlimmer werden, weil man durch Erwartungen eine Rezession herbeiführen kann. Umgekehrt kann man wie hier argumentieren, dass es quasi wie ein Kontraindikator funktioniert und eben keine Rezession folgt. Persönlich überzeugt mich das nicht.
  • “Es stimmt, dass zwei aufeinanderfolgende Quartale mit negativem BIP-Wachstum in der Regel als Zeichen dafür gelten, dass sich eine Wirtschaft in einer Rezession befindet, und das BIP der USA scheint in den ersten beiden Quartalen dieses Jahres tatsächlich gesunken zu sein. Wir sollten jedoch die spezifischen Gründe hierfür berücksichtigen. Einige von ihnen, wie der beträchtliche Rückgang der Lagerbestände, sagen etwas über die Wirtschaft im Allgemeinen aus, was durch andere Indikatoren widerlegt wird. Der Beschäftigungsbericht des US-Büros für Arbeitsstatistik für Juli beispielsweise war deutlich stärker als erwartet. In Anbetracht dieser Daten würde es mich nicht überraschen, wenn das National Bureau of Economic Research (das offizielle Schiedsgericht) erklärt, dass sich die USA nicht in einer Rezession befinden.” – bto: Das kann durchaus sein, würde dann aber der Fed noch mehr Spielraum geben, die Zinsen zu erhöhen.
  • “Der zweite Grund für meine Skepsis gegenüber dem vorherrschenden Narrativ ist, dass nicht alle mittel- und langfristigen Indikatoren auf eine anhaltend höhere Inflation hindeuten. Der vielbeachtete Fünf-Jahres-Inflationserwartungsindex der University of Michigan ist zwar kurzzeitig auf über 3% gestiegen, inzwischen aber wieder auf 2,9% zurückgegangen, was darauf hindeutet, dass die Durchschnittskonsumenten den diesjährigen enormen Inflationsanstieg als vorübergehend betrachten.” – bto: Da fand ich Ricardo Reis mit seiner detaillierteren Analyse der Erwartungen überzeugender.
  • “Drittens sind viele Rohstoffpreise zwar immer noch deutlich höher als vor einem Jahr, doch auch sie haben sich in den vergangenen Wochen entspannt. Sollten sie vergleichsweise stabil bleiben, würde die Gesamtinflation in vielen Ländern zu sinken beginnen, vielleicht sogar deutlich.” – bto: Das passiert vor allem, wenn China weiter schwächelt.
  • “Ich möchte nicht den Eindruck erwecken, dass Rezessionsängste unberechtigt sind. Sollte sich der jüngste Rückgang der Inflationssignale (wie Rohstoff-, Haus- und Gebrauchtwagenpreise) und der langfristigen Inflationserwartungen umkehren, müsste ich einen Rückzieher machen. Aber da ich seit fast vierzig Jahren mit den Finanzmärkten zu tun habe, werde ich immer hellhörig, wenn es einen so starken Konsens über etwas gibt, vor allem, wenn einige Fakten dagegen sprechen.” – bto: Das ist die Argumentation des Contrarian, der ich viel abgewinnen kann. Dennoch.
  • “Die hochentwickelten Volkswirtschaften stehen vor grossen Herausforderungen, nicht zuletzt vor einem anhaltend schwachen Produktivitätswachstum, das viele andere Bereiche des gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Lebens belastet. Wir werden in den kommenden Jahren auf jeden Fall mit massiven, wiederkehrenden Herausforderungen konfrontiert sein.” – bto: Und das wird die Resilienz der Volkswirtschaften testen und diese hängt erheblich von der Qualität des politischen Personals ab.

fuw.ch:„Die Lücken im Szenario der Rezession“, 19. August 2022