Ist es zulässig von “Staats­versagen” zu sprechen?

Das Eingangsstatement von Dr. Stelter mit dem Rundumschlag vom STAATSVERSAGEN ist VÖLLIG daneben und zudem noch KONTRAPRODUKTIV, weil es nur POLARISIERT.”, so der sehr geschätzte Herr Tischer gestern im Kommentar zu meinem Auftritt bei Markus Lanz. In bewährter Betonung wichtiger Aussagen durch Großbuchstaben.

Nachzusehen ist der Auftritt hier: → Lasst uns nicht so weitermachen wie bisher

Es mag sein, dass diese Einschätzung zutrifft. Andererseits bin ich keineswegs allein mit dieser Aussage, titelte doch Sascha Lobo bei SPIEGEL Online am selben Tag: “Staatsversagen in der Pandemie – Sätze zum Ausflippen”. Nochmals: SPIEGEL Online, nicht eine abstruse Hetz-Seite. Seine Argumentation ähnelt durchaus meiner:

  • “Der amerikanische Schriftsteller Edward Estlin Cummings hat einen gloriosen Spruch geprägt: ‘There is some shit I will not eat’. Ich glaube, bei mir war dieser Punkt spätestens erreicht, als ich hörte, was Angela Merkel diese Woche in der Unionsfraktion gesagt hat: Wir brauchen sicherlich den Monat März, um eine umfassende Teststrategie aufzubauen. (…) Merkels betulicher Satz (ist) mehr als eine Zumutung, mehr als eine Unverschämtheit, mehr als nur eine Katastrophe. Nicht im März 2020, sondern im März 2021 eine ‘umfassende Teststrategie aufzubauen’ – das ist in meinen Augen nicht weniger als ein Ausweis von Staatsversagen.” – bto: und in meinen Augen auch und das habe ich gestern Morgen deshalb genauso gesagt.

Dazu packt Lobo einen Link zu einem TAGESSPIEGEL-Artikel, der ebenfalls von “Staatsversagen” spricht:

Wenn Corona weiterherrscht, ist es Staatsversagen

  • “‘Testen, testen, testen’ war schon im März 2020 die Strategie, mit der unter anderem Südkorea einen harten Lockdown verhindern konnte. Wie kann man ein ganzes Jahr lang aus Erfolgen anderer Länder und Regionen nicht lernen? Wie sehr muss man für eine solche Realitätsresistenz an einem Überlegenheitskomplex leiden? Und dass immer und immer und immer wieder die gleichen Fehler gemacht werden, nein: die gleichen Fehler zelebriert werden. Zum Beispiel von der Ministerpräsidentenkonferenz, die weiter den Holzweg entlang tanzt, damit nicht auffällt, wie falsch ihre Entscheidungen zuvor waren.” – bto: Direkt vor Lanz lief die Pressekonferenz von Bodo Ramelow, der sich dafür lobte, dass Thüringen als erstes Bundesland die privat entwickelte Corona-Warn-App Luca nutzt. Merkel meinte dann, dass die anderen Bundesländer prüfen wollen, ob die auch diese oder eine andere nehmen … Und da soll ich mich nicht aufregen??
  • “Nachdem Deutschland und die EU so unfassbar danebengelegen haben mit ihrer Sparstrategie beim Impfstoffeinkauf, ist es in der letzten Woche im Corona-Kabinett der Bundeskanzlerin tatsächlich zu dieser vom SPIEGEL zitierten Situation gekommen: ‘(…) es ging um Geld für Schnell- und Selbsttests: alles zu teuer, so der Tenor. Am Ende stand die Erkenntnis: Spahns Versprechen, allen Deutschen kostenlose Tests zu ermöglichen, ist so kaum zu erfüllen, allein aus Kostengründen nicht.­’” – bto: Angesichts von zwei bis vier Milliarden Euro Schaden pro Woche ist es völlig irrsinnig, auf die Kosten von Tests zu blicken.
  • “Ich muss mich aktiv zwingen, nicht selbst zum Grollbürger zu werden, und es gelingt mir manchmal nur mittelgut. Zu manchen Gelegenheiten gelingt es mir sogar überhaupt nicht. Wenn zum Beispiel Kanzleramtsminister, Arzt und Digitalstratege Helge Braun bei Anne Will auf Kritik an der komplett vergurkten, verschleppten, verGroKoten Corona-Warn-App den Satz sagt: ‘Warum muss der Staat immer alles anbieten?’ Wieder so ein Flippsatz. Der, gerade weil er aus der Hüfte geschossen war, eine geradezu gespenstische Eingeschnapptheit offenbart. Als ginge es nicht allein darum, die Pandemie in den Griff zu bekommen, und als sei deshalb ausschließlich dieser Maßstab anzulegen. Und Deutschland hat die Pandemie außerordentlich nicht im Griff.” – bto: So ist es! Und das Schlimme ist, dass er damit bei der Moderatorin auch durchkommt!
  • “Das mit dem Impfstoff AstraZeneca ‘ist irgendwie nicht so gut gelaufen’, sagte der Chef der Ständigen Impfkommission, auch das ein Satz zum hauptberuflichen Ausflippen. Angeblich komme die Impfkampagne langsam in Fahrt, seit Ende Februar schafft Deutschland, täglich rund 180.000 Menschen zu impfen. Außer am Wochenende natürlich, meine qualifizierte Vermutung wäre, dass man bloß keinen Wochenendaufschlag gemäß der Impfarbeitsvergütungsrahmenverordnungsverordnung bezahlen möchte, Nachtaufschlag ohnehin nicht.” – bto: Angesichts der hohen Schäden und der Risiken für Leben und Gesundheit ist es schlichtweg ein Desaster – meines Erachtens Staatsversagen.
  • “Wenn Deutschland wie bisher weiter mit unter 200.000 Impfungen am Tag vor sich hin dümpelt, dann stehen nicht nur zu Ostern über sechs Millionen Dosen unverimpft in der Gegend rum. Sondern dann bräuchte dieses Land bei der mit Abstand wichtigsten Einzel-Organisationsleistung seit 1946 noch ungefähr bis zum Januar 2022, bis die Impfungen durch sind. Wenn die Minderimpfung am Wochenende bestehen bleibt, dann bis Februar 2022. Wenn die digitale Organisation so gut klappt wie mit der Corona-Warn-App, dann bis März 2084 (Schätzwert).” – bto: Und es regt sich keiner darüber auf, sondern über meine Wortwahl zur Charakterisierung der Situation??!
  • “Meine Befürchtung ist, dass die grollbürgerlichen Anfälle, ausgelöst durch staatliches Versagen, bei vielen Leuten demokratische Spätschäden verursachen. (…) Vor der Pandemie hätte ich Institutionen wie die EU und bundesrepublikanische Praktiken wie den Föderalismus mit einem gewissen Eifer verteidigt. Dazu war seit Jahrzehnten angesichts der real existierenden EU eine Portion Idealismus notwendig, aber den habe ich gern aufgebracht. Aufgebraucht.” – bto: Dieses Gefühl kenne ich, denn auch ich bin Befürworter der EU, mahne aber seit Langem deutliche Reformen an!
  • “Und ja, durch fortgesetztes Staatsversagen kann natürlich auch die Demokratie selbst beschädigt werden. Die Überzeugung, dass der Apparat im Großen und Ganzen angemessen funktioniert, ist bereits implodiert durch das multidimensionale Versagen bei Impfdebakel, Warn-App-Desaster, Testversagen, Schulnotstand, Pflegekatastrophe, Maßnahmenverwirrung, bösartige Großverbockung der Hilfen für Selbstständige und so fort.” – bto: Die Übel werden beim Namen genannt.

TAGESSPIEGEL und SPIEGEL Online sprechen vom “Staatsversagen”. Ich tue es auch und lese die Aufregung so: Es darf nicht beim Namen genannt werden. Wobei ich – dies betone ich hier auch! – ausdrücklich Herrn Tischer nicht in die Kategorie jener Kritiker packe, die alles tun, um die amtierende Regierung und vor allem die Chefin in Schutz zu nehmen. Geht es um die Taktik des Auftritts in solchen TV-Sendungen, mag es besser sein, diplomatischer aufzutreten. Meine Sache war es in dem Moment sicherlich nicht.

Inhaltlich möchte ich ergänzen: Was wir erleben, ist auch die Folge von jahrelangen falschen Prioritäten der Politik, die auf Konsum statt Investition gesetzt hat. Ausführlich beschrieben in “Das Märchen vom reichen Land”. Was zu tun ist, um Deutschland zu sanieren, steht in “Ein Traum von einem Land”. Das Letzteres ein so umfangreiches Buch geworden ist, zeigt, wie viel zu tun ist. Es ist eben die Folge eines Politikversagens, die letztlich in meinen Augen zum Staatsversagen geführt hat. Und das ist jetzt für jeden offensichtlich.

spiegel.de: “Sätze zum Ausflippen”, 3. März 2021