„Die Stunde des magischen Denkens“

Interessante Gedanken zur Griechenlandkrise aus dem Feuilleton der F.A.Z. Ein paar echte Highlights, wie ich finde. Ausgangspunkt ist der Vergleich der heutigen Situation mit den Folgen des Vertrages von Versailles, wie ihn der Nobelpreisträger für Wirtschaftswissenschaft Amartya Sen in einem Vortrag gezogen hat. John Maynard Keynes hatte diesen in seinem Buch „Die ökonomischen Konsequenzen des Friedens“ 1919 heftig kritisiert und vor einer Abwärtsspirale gewarnt. Wie wir heute wissen zu Recht. Mit fatalen Folgen. Doch nun die F.A.Z. (Hervorhebungen von mir):

  • „Spätestens an dieser Stelle stellt sich die Frage, wofür Sen Keynes zitiert. Was leisten überhaupt historische Analogien in einer gesellschafts- wie wirtschaftsgeschichtlich recht einmaligen und auf einmalige Weise verfahrenen Lage? Die Pointe, dass es heute umgekehrt Berlin ist, von dem angeblich die härtesten Forderungen nach Spardisziplin in Europa ausgehen, liegt nahe.”
  • “Einstweilen dokumentiert das, was sich die Europäer an wechselseitigen Vorurteilen einreden lassen, eher als Niedertracht Orientierungslosigkeit; auch die der Bescheidwisser aller Lager. Die Redeweise etwa, die mitunter Schuldnerländer von Gläubigerländern unterscheidet, als wären nicht auch die Gläubigerländer verschuldet und als handelte es sich um kulturelle Unterschiede, lässt sich leicht durchschauen und ist doch so praktisch. “
  • „Die Dinge sind oft nicht so wie in den zu politischen Vereinfachungen angefertigten Beschreibungen. „Ideologien“ hat der amerikanische Ethnologe Clifford Geertz einmal geschrieben, sind nicht nur rhetorische Waffen, sondern auch kognitive Beruhigungsmittel, die gepflegt werden, weil es sonst zu kompliziert würde. Der Bürger soll entscheiden, aber nicht einmal die Politiker, Banker oder Ökonomen kommen ohne solche Beruhigungen aus.“
  • „Das betrifft jedenfalls die öffentliche Debatte und gilt auch für die Darstellung der Kreditgeber, die als Armee boshafter Technokraten geschildert werden, die einer neoliberalen Wirtschaftsreligion protestantischer Herkunft anhängen, denen gegenüber die Politik – und natürlich die Gerechtigkeit – wieder zu ihrem Recht kommen müsse.“
  • „Dass im selben IWF, dessen Sparformeln seine Chefin vorträgt, die wissenschaftliche Abteilung Aufsätze publiziert, die wenig enthusiastisch sind in der Beurteilung von Austeritätsprogrammen, passt nicht in ein solches Bild.“ – bto: Das wirft allerdings die Frage auf, weshalb der IWF sich dann so aufstellt. Kein Wunder, dass es so immer mehr Verschwörungstheorien gibt, die dahinter eine politisch motivierte Kampagne vermuten. Egal ob das zutrifft oder nicht. Es schafft die Basis für Legenden, von denen noch Generationen von Linksregierungen werden zehren können.
  • „Ist der Euro schlicht ein falsches Konstrukt, hat alles seinen Grund in exzessiven Staatsausgaben, in den drastischen Unterschieden der Wettbewerbsfähigkeit von Industrien oder – vierte Erzählung – in einer fehlenden europäischen Bankenunion?“
  • „Könnte es sein, dass manche den Primat der Politik einfach nur darum beschwören – und verrückterweise seinen Rückgewinn vom Kasperletheater der Herren Varoufakis und Tsipras erwarten –, weil sie Politik irgendwie einfacher finden, vor allem wenn man sie für eine Frage guten Willens hält?“
  • So argumentiert seit Längerem schon Jürgen Habermas. In seinem Plädoyer zugunsten Griechenlands findet er Formulierungen wie die, der Kanzlerin seien schon 2010 Anlegerinteressen wichtiger gewesen „als ein Schuldenschnitt zur Sanierung der griechischen Wirtschaft“. Recht wohl: Dass damals nicht das südliche Land, sondern westliche Banken gerettet wurden, hatte 2010 schon der Ex-Bundesbank-Chef Karl-Otto Pöhl angemerkt.
  • „Nur steht die Vorstellung, ein Schuldenschnitt würde die griechische Wirtschaft sanieren, gegenüber der Phantasie, strenges Sparen und „Strukturanpassung“ genügten, um Wachstum zu erzeugen, oder die Griechen könnten sich als Schwachwährungsland auf Tourismusbasis ökonomisch erholen, an magischem Denken nicht weit zurück.
  • „Denn wenn er schreibt, ‚die Bürger, nicht die Banker‘ sollten in europäischen Schicksalsfragen das letzte Wort behalten, waren ja nicht buchstäblich alle Bürger gemeint. Oder stellt sich Habermas auch in Slowenien, Portugal, Finnland und Deutschland Volksabstimmungen über den Euro, Schuldenschnitte sowie den weiteren Ausbau zur politischen Union vor? (…)  Die von Habermas als ‚postdemokratisch‘ bezeichneten Technokraten sind bei ihrem Versuch, auch ohne Mehrheiten zu regieren, dem Philosophen, der auch ohne Bürgerbefragung weiß, wie Europa als Transferunion auszusehen hat, viel näher, als er es denkt.“

Ein Leser dieser Seite bemängelt immer mein fehlendes politisches Denken. Wohl zu recht. Doch man muss klar festhalten, dass es weitaus mehr Menschen gibt, die politisch argumentieren als sachorientiert. Ich denke, die Lösung unserer Probleme bekommen wir nur, wenn wir die politischen Grenzen überwinden. So wie Gläubiger und Schuldner die Schulden nur gemeinsam in den Griff bekommen können, so können wir nur durch eine Kombination der besten Ideen verschiedener politischer Strömungen die Zukunft sichern. Wie im 10-Punkte-Programm der Billionen Schuldenbombe dargelegt.

→ F.A.Z.: Die Stunde des magischen Denkens, 30. Juni 2015