Digitali­sierung bleibt keine Priorität

Morgen geht es im Podcast schwerpunktmäßig um Start-up-Unternehmen in Deutschland. Zuvor müssen wir aber ein Thema ansprechen, das nicht so erfreulich ist: den Stand der Digitalisierung der öffentlichen Verwaltung in Deutschland.

Das Institut der deutschen Wirtschaft (IW) hat dazu im März eine Kurzstudie vorgelegt – die Zusammenfassung des schrecklichen Zustands:

  • „Mit dem Jahresende 2022 ist auch das Zieldatum des OZG erreicht worden. Dieses Gesetz sah vor, dass bis zum 31. Dezember des Jahres insgesamt 575 gesetzlich vorgegebene Leistungen und Behördenvorgänge von Bund, Ländern und Gemeinden online verfügbar gemacht werden sollten. Da sich hinter den 575 gesetzlich definierten staatlichen Angeboten oft Leistungsbündel verbergen, stellte das 2017 verabschiedete OZG die weitgehende Digitalisierung der Behördenkontakte für Bürger und Unternehmen in Aussicht. Deutschland sollte damit im E-Government zu den führenden europäischen Ländern wie Estland, Finnland oder den Niederlanden aufschließen, in denen physische Behördengänge und Briefverkehr mit Ämtern weitgehend der Vergangenheit angehören.“ – bto: Wir kennen das. Große Ziele und Versprechungen, viel Sendezeit für den Minister in Film, Funk und Fernsehen. Begeisterung im Publikum. Und dann kollektives Vergessen.

  • „Die Umsetzung des Digitalisierungsgesetzes bis Ende 2022 wurde jedoch trotz eines ‚OZG-Boosters‘ zur Beschleunigung ab Frühjahr 2022 klar verfehlt: zum Jahreswechsel 2022/2023 waren laut OZG-Dashboard 105 Leistungen bundesweit online; dies waren nur 25 mehr als Mitte März 2022. Angestrebt waren in dem Booster-Programm zumindest 115 bundesweit flächendeckend verfügbare Leistungen zu diesem Zeitpunkt. Betrachtet man die die 1.532 zu digitalisierenden einzelnen Verwaltungsprozesse innerhalb der auf den Bund entfallenden 115 OZG-Leistungen, so dürfte der Rückstand noch deutlicher ausfallen: In einer Analyse des Bundesrechnungshofs waren Ende 2021 gerade 58 Prozesse oder 3,5 Prozent der Bundes-Leistungen vollständig und flächendeckend online verfügbar.“ – bto: Ich muss gerade in Berlin einen Termin für die Ausstellung eines neuen Personalausweises finden…
  • „Würden einmal entwickelte und in einzelnen Kommunen eingesetzte Lösungen zügiger landes- und bundesweit übernommen, könnte das E-Government in Deutschland deutlich schnellere Fortschritte machen. (…) Doch fehlende Digital-Kapazitäten in technischer oder personeller Hinsicht, falsche Prioritäten oder schlichtes Desinteresse in den Kommunen wirken weiterhin als Hemmschuh. Zudem sind entwickelte Lösungen oft an die spezifischen Bedingungen sowie die Hard- und Software der jeweiligen Kommune angepasst und lassen sich eben nicht eins-zu-eins von anderen Gemeinden übernehmen, schon gar nicht in anderen Bundesländern.“ – bto: Es ist wieder mal ein Beispiel für den Irrsinn, der in unserer Politik herrscht. „Not-invented-here“ auf die Spitze getrieben!
  • „Bei den digitalen öffentlichen Diensten steht Deutschland in der EU in der aktuellen Erhebung von 2022 an 18. Stelle und schneidet hiermit nach wie vor unterdurchschnittlich ab; im Vergleich zum Vorjahr ist das Land von Platz 17 noch um einen Platz zurückgefallen. Führend in dem Ranking dagegen sind Estland und Finnland, während sich Rumänien abgeschlagen auf dem letzten Platz befindet. Ein klarer Abwärtstrend ist zwar nicht zu erkennen, da Deutschland im Jahr 2020 auf Platz 22 lag, doch kann Deutschland als führende Wirtschaftsnation in der EU mit einer Platzierung im unteren Mittelfeld nicht zufrieden sein.“ – bto: Unsere Politiker sind damit sehr zufrieden.
  • „Verwaltungsdigitalisierung und E-Government kommen in Deutschland weiterhin kaum voran. Trotz der Bemühungen, mithilfe des ‚OZG-Boosters‘ zumindest 115 wichtige bundesweite Leistungen überwiegend für die Bürger – weniger für Unternehmen – bis zum Jahresende 2022 verfügbar zu machen, wurde selbst dieses Minimalziel der Digitalisierung verfehlt. Das Vorhaben, mit dem OZG von 2017 bis 2022 das E-Government in Deutschland weitgehend umzusetzen und Deutschland damit von einem hinteren Platz in Europa bei der staatlichen Digitalisierung in den vorderen Bereich zu befördern, muss sogar als vollständig gescheitert bezeichnet werden: Mit 105 bundesweiten Leistungen wurden nur 18 Prozent des Ziels von 575 Online-Angeboten flächendeckend erreicht.“ – bto: Ein Komplettversagen würde ich das nennen.

Und woran liegt es?

  • „Neben unzureichenden Ressourcen an zentralen Stellen wie dem IT-Planungsrat (…) sowie einem möglicherweise fehlenden Umsetzungswillen in manchen Verwaltungen in Ländern und Kommunen wurde die Basis für diesen Misserfolg bereits in einer schlechten strategischen Konzeption gelegt. Nach Verabschiedung des OZG-Gesetzes im Jahr 2017 fehlte eine klare Umsetzungsstrategie mit ‚Meilensteinen‘ für Bund, Länder und Kommunen, wie sie im Projektmanagement die Regel sein sollte. Erst im Laufe der Zeit wurde die ‚Einer für Alle‘-Strategie aufgesetzt, der zufolge bestimmte Bundesländer und Kommunen definierte OZG-Leistungen erst-entwickeln, damit diese dann von allen Ländern und Kommunen übernommen werden können. Es gibt zudem weiterhin kein rechtliches Instrument, mit dem die Kommunen zu einer zügigen Übernahme erst-entwickelter Leistungen verpflichtet werden können. Oft ist der Elan, auf kommunaler Ebene E-Government-Angebote umzusetzen, gering, da die anderweitig entwickelten Digitalangebote nicht auf bereits bestehende Lösungen in den Verwaltungen übertragen werden können.“ – bto: So kann nur agieren, wer nicht im Wettbewerb steht und dauerhaft alimentiert wird.
  • „Im Koalitionsvertrag der neu gebildeten Bundesregierung wurde im Herbst 2021 ein starkes Augenmerk auf die Beschleunigung von Verwaltungsverfahren und die Digitalisierung des Staates und seiner Leistungen für Bürger und Unternehmen gelegt. Trotzdem ist es im ersten Regierungsjahr der von Bundeskanzler Olaf Scholz geführten Koalition nicht gelungen, die Digitalisierung des Staates und seiner Verwaltung nachhaltig voranzubringen.“ – bto: Man hatte andere Prioritäten.
  • „Insgesamt entsteht in der OZG-Novellierung, der SDG-Umsetzung und beim Digitalcheck der Eindruck, als würde die Bundesregierung ihrem eigenen, im Koalitionsvertrag niedergelegten Anspruch, die Digitalisierung und Modernisierung des Landes schwungvoll voranbringen zu wollen, mit den aktuellen Vorhaben und der Geschwindigkeit ihrer Umsetzung noch nicht gerecht. Eine einheitliche Entwicklungsplattform für digitale Lösungen, die beispielsweise durch eine Kompetenzausweitung des IT-Planungsrates und eine entsprechende Ressourcenausstattung der FITKO erreicht werden könnte, fehlt in den Gesetzesnovellierungen zur Digitalisierung weiterhin.“ – bto: Und es interessiert niemanden.

Fazit IW:

„Derzeit sieht es vielmehr so aus, als würden auch südeuropäische Länder in der Umsetzung von E-Government-Lösungen schneller voranschreiten als das Land der Dichter, Denker und Verwaltungsbürokraten.“

iwkoeln.de: „Verwaltungsdigitalisierung in Deutschland: Der Stand zum Zielzeitpunkt des Onlinezugangsgesetzes Anfang 2023“, 30. März 2023