Deutsch­land hat ein Ab­wanderer­problem

Die Menschheit wächst und mit ihr der Talentpool. Immer mehr Menschen erhalten eine bessere Ausbildung. Deshalb verwundert es nicht, dass Studien den Nutzen von Migration betonen. Für alternde Gesellschaften wie die deutsche, aber auch für die Länder, aus denen die Menschen abwandern.

So beziffert eine aktuelle Auswertung der Unternehmensberatung Boston Consulting Group den jährlichen Verlust an Wirtschaftsleistung aufgrund von Arbeitskräftemangel in den 30 größten Volkswirtschaften auf mehr als eine Billion US-Dollar. Bis 2050 könnte demnach der jährliche wirtschaftliche Nutzen der Migration global 20 Billionen Dollar erreichen.

Es ist gut, dass sich die amtierende Bundesregierung (erneut) des Themas Zuwanderung annimmt. Neue Regeln sollen es gut qualifizierten Menschen erleichtern, einzuwandern und in den Arbeitsmarkt einzutreten.
Was dabei allerdings gern in Vergessenheit gerät, ist die Tatsache, dass Deutschland zwar nach Umfragen eines der beliebtesten Zielländer für Migranten ist, sich aber schwertut, wenn es um die Zuwanderung gut ausgebildeter Menschen geht.

In der Vergangenheit kamen diese zum größten Teil aus anderen EU-Staaten. Angesichts der demografischen Entwicklung in ganz Europa, muss es nun darum gehen, Talente aus aller Welt anzulocken.

Abwanderung aus Deutschland

Während Politik, Wissenschaft und Wirtschaft über geeignete Wege zur Förderung der Zuwanderung streiten, kehren jedes Jahr mehr als 200.000 Deutsche der Heimat den Rücken. Aktuell leben nach Angaben der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) fünf Prozent der Deutschen im Ausland. Damit liegt Deutschland hinter Polen und Großbritannien auf einem unrühmlichen dritten Platz der OECD-Staaten.

Beliebte Länder für deutsche Auswanderer sind laut Recherchen der „FAZ“ (Werte für die vergangenen zehn Jahre):

  • die Schweiz (200.000 deutsche Zuwanderer),
  • die Vereinigten Staaten (127.000),
  • Österreich (108.000)
  • und Großbritannien (82.000).

Diese Abwanderung zu reduzieren ist nicht nur naheliegend, sondern eine Ursachenanalyse dürfte auch dabei helfen, Deutschland für Zuwanderer attraktiver zu machen. Denn nur wer attraktiv für die schon hier Lebenden ist, ist es auch für Neuankömmlinge.

Die Auswanderer aus Deutschland sind jünger und besser ausgebildet als der Durchschnitt der Bevölkerung und können ihr Einkommen im Ausland zumeist deutlich steigern. Die Unterschiede sind zum Teil recht markant: So verdient ein Facharzt zum Einstieg in der Schweiz umgerechnet 7461 Euro brutto pro Monat und in Deutschland 6391 Euro.

Noch gravierender sind die Verdienstmöglichkeiten in den USA. Allerdings sind die Einstiegshürden in den Arbeitsmarkt, speziell für Mediziner, in den Vereinigten Staaten nicht zu unterschätzen.

Löhne in Deutschland müssen steigen

Es führt also kein Weg daran vorbei, dass die Löhne in Deutschland nach Jahren der Zurückhaltung deutlich steigen. Ebenso ist es an der Zeit, das Steuer- und Abgabensystem umzubauen und den Staatsanteil auf ein angemessenes Maß zurückzuführen. So sollte mehr Netto in den Taschen der Arbeitnehmer bleiben. Denn eines dürfen wir von qualifizierten Zu- und Abwanderern erwarten: dass sie rechnen können.

Doch es dürfte nicht nur an den Einkommen liegen. In einigen Wissenschaftsbereichen findet Forschung nicht mehr in Deutschland statt. Der Zustand von Schulen und Infrastruktur ist bekanntlich schlecht. Verzicht und Rückschritt prägen die gesellschaftliche Debatte bei wichtigen Themen wie dem Klimawandel, nicht Aufbruch und Innovation.

Gute Unternehmen führen mit Mitarbeitern, die kündigen, „Exit- Interviews“, um zu lernen und besser zu werden. Höchste Zeit, dass wir das auch als Land tun. Die wenigen Datenpunkte, die vorliegen, sind nicht ermutigend. Nicht nur sind die Auswanderer laut einer Analyse des Bundesinstituts für Bevölkerungsforschung höher qualifiziert, sie sind auch noch deutlich gesünder (um 24 Prozent) und glücklicher (um acht Prozent) als jene, die hierbleiben.

→ handelsblatt.com: “Deutschland hat ein Abwanderungsproblem”, 12. März 2023