Der Mythos ist Realität

Die Worte „Dunkelflaute“ und „Deindustrialisierung“ haben inzwischen Karriere gemacht – nach einer ähnlichen Entwicklung. Zunächst wurden die Begriffe ins Reich der Mythen und Fake News verdammt, heute werden sie im normalen Sprachgebrauch verwendet, auch international.

In beiden Fällen sorgte die Realität dafür, dass aus angeblichen Mythen anerkannte Fakten wurden. Je offensichtlicher die Lücke in der Stromversorgung in den Zeiten von Windstille und Sonnenarmut – den Dunkelflauten – wurde, desto schwerer war sie zu leugnen.

Spätestens seit dem Alarm von Markus Krebber, dem Vorstandsvorsitzenden von RWE, der vor einem möglichen Blackout warnte und den raschen Bau von Reservekapazitäten forderte, müsste dem letzten Beobachter die Dramatik der Situation klar sein. Die Zeit zum Gegensteuern wird knapp, und die Kosten steigen deutlich.

Die Deindustrialisierung ist jedoch noch immer nicht einhellig als signifikante Gefahr für unseren Wohlstand anerkannt. Zwar ist nicht mehr von einem Mythos die Rede – umso mehr aber von einem angeblich normalen Prozess, den man hinnehmen müsse, wie jeden x-beliebigen anderen Strukturwandel.

Und natürlich gibt es Studien, die Hoffnung machen. So rechneten Robert Lehmann und Timo Wollmershäuser vom Ifo-Institut im Februar vor, dass bei einer Betrachtung der Wertschöpfung eine Deindustrialisierung derzeit nicht sichtbar ist.

Bislang greift die Premiumstrategie

In der Tat zeigt sich ein differenziertes Bild: Die Produktion im Inland ist nach den Berechnungen zwar seit 2015 preisbereinigt um rund sechs Prozent gesunken, was zur Theorie der Deindustrialisierung passt. Andererseits ist die preisbereinigte Bruttowertschöpfung des verarbeitenden Gewerbes im selben Zeitraum um sieben Prozent gestiegen. Damit hat sich im Verlauf von knapp acht Jahren eine Divergenz von mehr als 13 Prozent zwischen den Indizes aufgebaut.

Vereinfacht kann man dies so erklären: Die Unternehmen haben die Produktion im Inland reduziert und gleichzeitig andere Aktivitäten ausgebaut, zum Beispiel in Forschung und Entwicklung. Ebenso ist die Konzentration auf hochwertige Produkte ein Treiber.

Solche Produkte erlauben es den Unternehmen, eine Preisprämie im Markt zu realisieren. Die Autoren der Studie sprechen von mehr „Klasse statt Masse“, eine Strategie, die deutsche Unternehmen schon lange verfolgen, um die hohen Kosten am Standort tragen zu können.

Diese Faktoren haben es ermöglicht, mehr inländische Wertschöpfung zu realisieren, während die Verlagerung von Produktion an kostengünstigere Standorte die Profitabilität sicherte. Die entscheidende Voraussetzung, damit das weiterhin funktioniert, ist allerdings, dass die hier entwickelten Waren immer noch eine Preisprämie erzielen.

Entfällt der technische Vorsprung, wird es schwer, höhere Preise durchzusetzen. Steigen die Kostennachteile am Standort zu stark an und werden in der Folge zu hoch, genügt die Preisprämie nicht mehr zur Kompensation. Das ganze System kommt unter Druck.

Genau das erleben wir derzeit. Wie der Sachverständigenrat der Bundesregierung im aktuellen Gutachten vorrechnet, hat sich die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Industrie in den vergangenen Jahren dramatisch verschlechtert.

Die Vermutung liegt also nahe, dass die Premiumstrategie an ihre Grenzen stößt, beziehungsweise von immer weniger Unternehmen erfolgreich umgesetzt werden kann. Was droht, ist ein zeitverzögerter Verlust an Bruttowertschöpfung.

Stimmt diese Analyse, so läge es noch in unserer Hand, eine Deindustrialisierung zu verhindern. Die Zeit dafür wird aber knapp.