Was von Klima-Kipppunkten zu halten ist
Am Sonntag (12. Februar 2023) geht es in meinem Podcast um die Arbeit des IPCC und wie sie in der Öffentlichkeit wahrgenommen wird. Der Grund, mich erneut mit dem Thema auseinanderzusetzen, war eine Flut an wahrlich akopolyptischen Nachrichten.
So hielt Johan Rockström, Direktor des Potsdam-Instituts für Klimafolgenforschung (Potsdam Institute for Climate Impact Research), einen Vortrag in Davos, in dem er nicht weniger als 16 Kipppunkte identifizierte:
→ ‘This is a planetary crisis’ says Director of the Potsdam Institute for Climate Impact Research
… und eine „planetare Krise“ ausrief.
Parallel dazu erklärte Volker Quaschning, Professor für Regenerative Energiesysteme an der Hochschule für Technik und Wirtschaft in Berlin, dass der Meeresspiegel um 60-70 Meter ansteigen wird:
→ Volker Quaschning in der Heute Show
Und Eckart von Hirschhausen veredelte seinen Bühnenabschied mit dem Bekenntnis, nun alles dafür tun zu wollen, damit wir nicht alle eines Hitzetodes sterben, weil wir Lützerath abbaggern:
→ Eckart von Hirschhausen über Lützerath
Da muss man doch Angst bekommen.
Schon kurz nach Weihnachten hat ein weiterer professioneller „Klimamahner“ bei Spiegel Online vor den unumkehrbaren Kipppunkten gewarnt. Der Klimaforscher Stefan Rahmstorf vom Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung (PIK) darf dort nun alle paar Wochen seine Sicht auf den Klimawandel in einem Text beschreiben und dabei für Panik sorgen.
Axel Bojanowski nimmt die Argumentation in seinem Blog nüchtern auseinander. Es lohnt, das zu lesen. Leider erreicht er nur einen Bruchteil der Leser, die Rahmstorf mit seinen Thesen erreicht. Ob das gut ist, mag man bezweifeln. Die Kritik:
- „Forschern, die den Stand der Wissenschaft verzerrt katastrophistisch wiedergeben, wird öffentlich selten widersprochen. Klima geriet zum identitäts- und machtstiftenden Politikum, das bei Abweichung soziale und berufliche Risiken birgt.Wichtiges Mittel im Agenda-Setting sind Kipppunkte, theoretische Schwellen im Klimasystem, die unwiderrufliche Änderungen beschreiben sollen.“ – bto: Vor allem, weil sie natürlich eine Dramatik vermitteln, die das Denken und Argumentieren in Alternativen faktisch als sozialschädlich brandmarkt.
- „Rahmstorf bezieht sich nur dreimal auf den aktuellen UN-Klimareport, dafür wie üblich gerne auf sich selbst und mit ihm verbandelte Wissenschaftler. Der erste Satz seines Artikels lautet: ‚97-mal steht der Begriff Kipppunkt allein im ersten Band des aktuellen Weltklimaberichts‘. Den im Klimabericht dargestellten Sachstand der Wissenschaft zu Kipppunkten aber ignoriert Rahmstorf weitgehend.“ – bto: Der besagt nämlich, dass der Eintritt dieser Kippunkte sehr unwahrscheinlich ist und vor allem weit in der Zukunft liegt.
- „Martin Claußen, emeritierter Direktor des Max-Planck-Instituts für Meteorologie (MPI-M), dem bedeutendsten deutschen Klimaforschungsinstitut, hält schon die Existenz von Kipppunkten für unsicher: ‚Die Forschung ist noch nicht so weit, dass man von allgemein anerkannten zukünftigen Kippelementen sprechen könne‘, sagte Claußen.“ – bto: Sein Nachfolger, Jochem Marotzke, äußert sich ähnlich.
- „Ähnlich äußerte sich der bekannte Klimaforscher Zeke Hausfather: ‚Unsere Modelle berücksichtigen heute so ziemlich alle wichtigen Rückkopplungen oder Kippelemente, von denen wir wissen. Und sie zeigen im Allgemeinen, dass die Reaktion des Klimas ziemlich linear ist. Für eine bestimmte Menge CO2, die emittiert wird, erhält man ein bestimmtes Maß an Erwärmung. Große Klimaüberraschungen sehen wir in einer Welt mit 2 Grad Erwärmung sicher nicht‘, sagt Hausfather.“ – bto: Das klingt ganz anders als das, was wir sonst so hören.
- Und was steht im IPCC? Bojanowski zählt auf: „Ungenügende Evidenz“, „Können nicht ausgeschlossen werden“, „Mangel an Daten“, „Challenging Topic“. Aber was soll‘s. Im Spiegel genügt die Erwähnung des Themas als Beweis der unmittelbaren Relevanz…
Rahmstorf erläutert sechs mögliche Kipppunkte, die Bojanowski mit dem UN-Klimabericht abgleicht:
- „1. Atlantikzirkulation: Rahmstorf beschreibt ein dramatisches Szenario, wonach das System kippt, die Folge: ‚Meeresökosystemen droht der Kollaps, es gibt nie gekannte Wetterextreme in Europa‘. Rahmstorf erwähnt nicht, dass der UN-Klimareport ‚low confidence‘ ausweist für die Rahmstorf-These von einer bereits vollzogenen Abschwächung der Atlantikzirkulation.“ – bto: … was nicht heißt, dass es keine Gefahr ist, aber eben eine sehr geringe. Keine, die morgen akut wird.
- „2. Grönlandeis: ‚Schon in den nächsten 20 Jahren droht das System zu kippen, was kommende Generationen dazu verurteilt, die meisten Küstenstädte aufzugeben‘, schreibt Rahmstorf im ‚Spiegel‘. Der UN-Klimarat hingegen schreibt zum Greenland Ice Sheet: ‚Potential Abrupt Climate Change? No (high confidence)‘.“ – bto: Abgesehen davon kann man sich auf steigende Meeresspiegel einstellen.
- „3. Antarktiseis: Beim Westantarktischen Eisschild könnte der Kipppunkt bereits überschritten sein, schreibt Rahmstorf im ‚Spiegel‘. Wahrscheinlich liege er aber zwischen 1,5 und 2 Grad Erderwärmung. Drei Meter globaler Meeresspiegelanstieg wären die Folge. ‚Ähnliches gilt für die beiden Kipppunkte am Ostantarktischen Eisschild‘, schreibt Rahmstorf. Den Ostantarktischen Eisschild (EAIS) nennt der UN-Klimareport allerdings gar nicht in seiner Liste über Phänomene mit theoretischen Kipppunkt-Eigenschaften. Über des West Antarctic Ice Shield (WAIS) schreibt der neue UN-Klimareport, dass in der Tat eine Stabilitätsgrenze nahe bei 1,5 bis 2 Grad liegen könnte, (…) Komplettverlust des Eises bis 2 Grad Erwärmung gebe es ungenügende Belege, es würde jedenfalls Jahrtausende dauern.“ – bto: Auch das ist alles schlimm, aber eben nicht so wie im Spiegel beschrieben. Jahrtausende sind ein langer Zeitraum, um sich anzupassen.
- „4. Zum Permafrost schreibt Rahmstorf von einer ‚Kompostbombe‘, die einen selbstverstärkenden Prozess auslöse: ‚Dabei werden große Mengen des sehr potenten Treibhausgases Methan freigesetzt, was die globale Erwärmung weiter anheizt, ohne dass die Menschen dann noch etwas dagegen tun können‘.“ – bto: Das dürfte unstrittig sein, aber eben nicht im Sinne einer raschen, dramatischen Änderung, sondern in einem graduellen und damit beherrschbaren Prozess.
- „5. Der Kipppunkt des Amazonas-Regenwalds, schreibt Rahmstorf, werde überschritten, ‚wenn der Wald zu weit abgeholzt wird und/oder Dürren durch den Klimawandel zu stark ausfallen‘.(…) Der UN-Klimareport benennt das Risiko, aber gibt nur ‚low confidence‘ auf die Beweislage…“ – bto: Da fragt man sich schon, ob in Potsdam Wissenschaftler oder politisch getriebene Akteure arbeiten.
- „6. Der Kipppunkt bei Korallenriffen, schreibt Rahmstorf, ‚ist offenbar bereits erreicht‘. (…) Der Weltklimarat IPCC schätzt, (…) bei zwei Grad Erwärmung wären so gut wie alle verloren.‘ Der Weltklimarat hingegen schreibt etwas anderes: Bei 1,5 Grad Erwärmung würden die meisten Korallenriffe kleiner (nicht ‚wären so gut wie verloren‘): ‚For instance, 70–90% of coral reefs are projected to decline at a warming level of 1.5°C, with larger losses at 2°C.‘“ – bto: „larger losses“ versus „alle verloren“. Hm.
„Die Rahmstorf-Kolumne im ‚Spiegel‘ zeigt, wie problematisch es sein kann, einen einzelnen Wissenschaftler mit eigenen Zielen den Stand der Forschung darlegen zu lassen. Einer Agenda mag es helfen, aber wohl kaum dem Informationsbedürfnis der Leser“, so Axel Bojanowski zu Recht.
→ axelbojanowski.substack.com: „Das Klima kippt, Punkt?“, 22. Januar 2023