„Tiefe Zinsen, bis der Ketchup spritzt“
Wer daran zweifelte, wurde vergangene Woche eines Besseren belehrt. Obwohl die Realwirtschaft in der Eurozone sich stabilisiert und die private – erneut kreditfinanzierte – Nachfrage wieder anzieht, hat die EZB es eilig, den Finanzmärkten neues Geld zu versprechen. Sie reagiert damit mit kaum zu verbergendem Aktionismus auf die erneut gesunkene Inflation: Dabei sollte es mittlerweile auch im Frankfurter EZB-Turm den einen oder anderen Geldexperten geben, der sieht, dass eine immer höhere Dosis der gleichen Medizin schlicht nicht wirken will und versteht, dass tiefe Zinsen vermutlich Deflation und Stagnation eher befördern als sie sie verhindern. Warum? Habe ich auch schon hier diskutiert. Im Kern liegt es an mindestens vier Faktoren:
- Die tiefen Zinsen verhindern die dringende Bereinigung im Markt. Kranke Unternehmen und Überkapazitäten bleiben erhalten, statt den Markt zu bereinigen. Dies vergiftet das Wasser für alle.
- Tiefe Zinsen verleiten zu Spekulation und Fehlinvestments, was die Stabilität des Finanzsystems weiter gefährdet.
- Sparer müssen immer mehr sparen, wenn sie bei niedrigen Zinsen für das Alter vorsorgen wollen.
- Die Verschärfung einer erfolglosen Politik macht misstrauisch. So verliert die EZB ihr wichtigstes Instrument – ihre Glaubwürdigkeit.
Wer das weiß – und wir sollten annehmen, dass die EZB das tut – und dennoch die Zinsen tief hält, der macht es wohl aus zwei Gründen: den Euro weiter zu schwächen und immer weiter Zeit zu kaufen. Nur: Zeit für was?
Mit Zinserhöhungen gewinnt man keine Wähler
In der letzten Woche habe ich an einer Tagung verschiedener Experten für Geld- und Notenbankpolitik teilgenommen. Dabei ging es um die ganze Bandbreite der Themen, die uns seit Jahren beschäftigen: Nullzins, Negativzins, Quantitative Easing, Bargeldverbot und natürlich die alles entscheidende Frage: wie lange noch? Die Experten wissen sehr wohl, dass die Notenbanken den Ausputzer spielen müssen für die Politiker, die sich um die harten Entscheidungen drücken.
Welche harten Entscheidungen anstehen, ist offensichtlich: Es geht um die Bereinigung der untragbaren Schuldenlast von Staaten und Privaten durch Schuldenschnitte mit Gläubigerbeteiligung – Zypern lässt grüßen – oder Vermögensabgaben. Die Vorlagen dazu haben der IWF und die Bundesbank schon vor Jahren geliefert. Beides nicht gerade ein Programm, mit dem man Wahlen gewinnt.
Gilt auch für den Euro. Nur dank der Zinssubvention der EZB mit dem Versprechen, alles zu tun, konnten Staaten wie Portugal halbwegs stabilisiert werden. Ohne diese Garantie der EZB für alle (Staats-)Schulden einzustehen, wäre der Euro schon längst Geschichte.
Damit ist auch klar: Den Notenbanken bleibt keine andere Wahl als weiterzumachen. Selbst wenn die Inflation am Ende doch anziehen wird, was angesichts des massiven deflationären Drucks aus faulen Schulden, Überkapazitäten, Fehlinvestitionen und ausgeschöpfter Verschuldungskapazität durchaus sehr lange dauern kann, werden sie die Zinsen so lange so tief halten, wie es nur geht. Denn nur durch massiv negative Zinsen und eine wahre Explosion des nominalen BIP, was angesichts von Demografie und schwachen Produktivitätsfortschritten nur durch Inflation passieren kann, wird es möglich sein, die Schulden in den Griff zu bekommen. Die Notenbanken werden also auf dem Gas bleiben, selbst wenn die Inflation anzieht. Schließlich werden Inflationsraten von vier Prozent ebenfalls von Experten schon seit Jahren gefordert.
Das Problem dabei ist, dass die Notenbanken schon jetzt viel Zentralbankgeld geschaffen haben, was sich nicht in entsprechendem Kreditwachstum niederschlägt. Der sogenannte Multiplikator, der das Verhältnis von Zentralbankgeld (M0 bestehend aus Bargeldumlauf und den Einlagen der Banken bei der Notenbank) und den breiteren Geldmengen wie M3 (M0 plus der Bestand auf Bankkonten und kurzfristigen Bankanleihen und Geldmarktfonds) misst, ist von Werten deutlich über fünf seit Beginn der Krise auf Werte unter zwei gefallen. Zeigt: Wir fragen das von den Notenbanken angebotene Geld nicht nach – noch nicht. Sollte sich das ändern, besteht angesichts des überbordenden Angebots ein erhebliches inflationäres Potenzial.
Wenn die Inflation kommt, gibt es kein Halten mehr
Wann „gute“ Inflation in schlechte „Hyper-Inflation“ umschlägt, hat viel zu tun mit dem Faktor Glaubwürdigkeit. Ist sie gefährdet (siehe oben), bleibt es nicht bei vier Prozent, sondern es droht eine Flucht aus Geld. Das passende Bild bleibt die Ketchup-Sauerei, die entsteht, nachdem man die Flasche lange genug schüttelt. Genau das tun die Notenbanken. Alle Hyperinflationen haben sich innerhalb von wenigen Monaten abgespielt. Fehlt das Vertrauen in Geld, fällt der Wert rasch auf den intrinsischen Wert: null.
Nun könnten Sie hier einwenden. Was soll diese Nörgelei von Skeptikern wie mir? Schließlich hat der Zauber wieder einmal gewirkt, die Kurse aller Risiko-Assets sind gestiegen, und es keimt die Hoffnung auf eine Jahresendrallye. Wer will da schon abseits stehen!
Dennoch: Der anerkannte Inflationsforscher Peter Bernholz gibt folgenden Rat: Sobald die Preise schneller steigen als die Geldmenge M3, sind wir in der Inflation. Noch ist es nicht so weit. Doch wenn es so weit kommen sollte, gibt es kein Halten mehr. Wir wissen zwar, was kommt, aber nicht wann. Deshalb weiterhin Vorsicht mit Schulden und Festhalten am diversifizierten Portfolio: Aktien, Immobilien, physisches Gold und Liquidität. Und das global gestreut.
→ WirtschaftsWoche Online: „Tiefe Zinsen, bis der Ketchup spritzt“, 29. Oktober 2015