Strukturwandel ist normal – aber wir müssen den Niedergang in Deutschland verhindern
Deutschlands Konjunktur hinkt. Seit mehreren Quartalen gibt es praktisch kein Wachstum mehr. Die Industrie wandert ab. Unternehmen zögern mit Investitionen. Wie konnte der Konjunkturmotor Europas in diese Lage geraten?
FOCUS online: Herr Stelter, wie ist der Zustand der deutschen Wirtschaft aktuell? Je nachdem, wer gefragt wird, sind die Antworten gar nicht mal so einheitlich.
Daniel Stelter: Wir haben aktuell viele Probleme, die zusammenkommen. Da sind beispielsweise immer noch Nachwehen der Corona-Krise. Erst hatten wir viel Geld, dann kam die Inflation, dann musste man auf die Bremse treten.
Darüber hinaus haben wir strukturelle Faktoren, auch außerhalb Deutschlands – der Konflikt zwischen den USA und China, die Reindustrialisierung Amerikas, ein neues China, welches nicht mehr nur die billige Werkbank sein will, sondern mittlerweile technologisch ein richtiger Wettbewerber ist, wenn nicht sogar Marktführer, bei Batterien, Photovoltaik, und so weiter.
Das Umfeld ist also schwieriger geworden, gerade für unsere Wirtschaft, die sich so auf den Export verlassen hat. Und nun zeigt sich, dass es gar nicht so gut ist, Exportweltmeister zu sein.
FOCUS online: Dabei wurde dieser Titel immer bejubelt.
Stelter: Der Export an sich ist gut. Exportweltmeister zu sein heißt aber auch, dass man nicht nur Waren und Dienstleistungen ausfährt, sondern, dass man sein Geld überwiegend im Ausland anlegt. Und Studien zeigen: Wir legen das Geld besonders schlecht im Ausland an. Wir hätten entweder das Geld besser anlegen oder es in den vergangenen 20 Jahren mehr im Inland investieren sollen. Dann würden wir heute besser dastehen.
FOCUS online: Meinen Sie damit staatliche Investitionen?
Stelter: Es ist unstrittig, dass der Staat nicht genug investiert hat. Aber auch die privaten Unternehmen haben nicht investiert. Seit der Finanzkrise waren die Firmen eher Netto-Sparer. Das ist nicht die Aufgabe. Die Unternehmen hätten Gelder aufnehmen und investieren sollen. Und auch der Staat hätte nicht sparen müssen.
Dazu gesellen sich noch viele weitere Faktoren: Bildung, Überalterung, technologische Umbrüche, Digitalisierung … da sind wir nicht gut aufgestellt.
FOCUS online: Was bleibt uns dann noch?
Stelter: Ich scherze immer, dass wir alle führenden Industrien, die wir noch haben, auch schon hatten, als es in Deutschland noch einen Kaiser gab: Automobilbau, Maschinenbau, Chemie-Industrie. Gut, wir haben außerdem noch SAP, aber der Konzern ist auch schon 50 Jahre alt.
Das heißt, wir leben von alten Industrien, in denen wir uns vor über 100 Jahren eine weltweit dominierende Position erarbeitet und bis heute verteidigt haben. Aber es gibt auch andere Bereiche, in denen wir mal führend waren, die wir heute verloren haben – Fotografie und Unterhaltungselektronik beispielsweise. Es wäre vernünftiger gewesen, erstmal das Angebot an Energie auszuweiten, ehe das Land aus gewissen Energiequellen aussteigt.
In der Summe wirken all diese Faktoren zusammen. Wir haben eine andere Weltkonjunktur, neue Rivalitäten, demographischen Wandel, Energiewende – und wir haben in den letzten Jahren einfach wenig getan, um uns fit zu halten.
FOCUS online: Gerade das Thema Energie besorgt die Industrieunternehmen. Einer DIHK-Umfrage zufolge erwägt die Hälfte der größeren Firmen, die Produktion wegen der hohen Preise ins Ausland zu verlagern.
Stelter: Die Energiepolitik ist nun mal ein wichtiger Standortfaktor. Ich habe nichts gegen die Energiewende per se. Der Knackpunkt ist: Die Energiewende selbst ist energieintensiv! Beispiel Batterien – die sind energieintensiv. Solarzellen sind energieintensiv.
Es wäre vernünftiger gewesen, erstmal das Angebot an Energie auszuweiten, ehe das Land aus gewissen Energiequellen aussteigt. Wir haben aber Wert auf den Ausstieg gelegt, den Einstieg in neue Energien aber nicht ausreichend gut hinbekommen.
Die Bundesregierung selbst hat erklärt, man könne gar nicht beziffern, was die Energiewende kostet. Dabei weiß jeder Kaufmann: Kann man Kosten nicht sicher erfassen, kann man sicher sein, dass sie aus dem Ruder laufen.
FOCUS online: Wie blicken Sie auf die Deindustrialisierung im Generellen? Manche Ökonomen erklären, das sei eher eine „Evolution“. Und historisch betrachtet ist eine Deindustrialisierung, wie beispielsweise im Fall Großbritanniens, ja fast schon „natürlich“. Oder ist es in Deutschland anders?
Stelter: Schon als ich an der Schule war, hieß es: Strukturwandel ist normal. Wer den Strukturwandel bekämpfen will, verliert nur Geld und kann ihn ohnehin nicht aufhalten. Also soll man den Wandel offen angehen.
Aber schauen wir uns doch mal das Beispiel Großbritannien an. Die Briten hatten eine Textilwirtschaft, Autos und so weiter. Aber heute sind London und der Rest Großbritanniens zwei verschiedene Welten. Sobald man aus der Londoner Innenstadt herauskommt, sieht man den Niedergang.
Voriges Jahr war ich in Manchester. Die Situation dort war einfach nur übel. In weiten Teilen sind diese Regionen abgehängt. Sicher, Jetmotoren von Rolls-Royce gibt es noch, und eine Biotech-Branche, aber ansonsten gibt es viel Niedergang. Die Frage ist: Wie verhindern wir das in Deutschland?
FOCUS online: Und was müssten wir dazu unternehmen?
Stelter: Die Grundvoraussetzung ist, dass wir bei zukünftigen Industrien eine Rolle spielen. Nehmen wir an, der Verbrennermotor ist weg. Dann müssen wir bei Elektromobilität weit vorne sein. Es gibt auch Studien, die zeigen, dass in solchen Branchen Arbeitsplätze geschaffen werden. Aber eben nicht in dem Maße, um den Wegfall in anderen Industrien zu kompensieren.
Es kommt hinzu, dass die Arbeitsplätze in Chemie, Autobau und Maschinenbau überdurchschnittlich gut bezahlt sind. Wir haben hier einerseits einen Wegfall beziehungsweise eine Verlagerung, aber eben keinen Aufbau ähnlicher und ähnlich dotierter Jobs.
FOCUS online: Einige Branchen verzweifeln mittlerweile seit Jahren an der Suche nach gut ausgebildeten Mitarbeitern.
Stelter: Natürlich suchen wir händeringend nach Fachkräften, die Häuser sanieren und Wärmepumpen installieren. Alles richtig. Aber diese Stellen haben eine geringere Wertschöpfung und werden perspektivisch nicht so gut bezahlt.
Das wird nicht dauerhaft den Wohlstand sichern. Genau darum ist die Deindustrialisierung so ein Thema. Wir verlieren Industrien, und teilweise nicht, weil der Wettbewerb so viel härter geworden ist, sondern weil wir die Standortbedingungen durch die Politik verschlechtert haben. Bei den Briten war das nicht so.
Der Unterschied zu einer normalen Transformation, wie von der Postkutsche zum Verbrenner beispielsweise, ist, dass die Produkte weiter gefragt sind. Ammoniak von BASF, das wird weiter produziert, nur eben nicht hier, weil es nicht kostengünstig ist. Und warum? Weil wir uns entschieden haben, die Kosten zu erhöhen. Auch aus politischen Gründen.
FOCUS online: Herr Stelter, es scheint, als brauche es jetzt einen großen Wurf aus der Politik, um die Firmen davon abzuhalten, Deutschland zu verlassen.
Stelter: Es kommen ja noch andere Faktoren hinzu. Das Bildungssystem produziert zu viele Akademiker, die irgendwelche unnützen Fächer studieren, und zu wenige Menschen, die eine Berufsausbildung machen und Solarpaneele auf Dächern installieren können. Noch dazu geht meine eigene Generation – ich bin Jahrgang 64 – bald in Rente. Wir haben nicht mehr groß „Bock“, etwas zu tun. Das macht eine Gesellschaft veränderungsunwillig.
Einige sagen nun, der Staat darf jetzt nicht sparen. Es braucht Investitionsprogramme, Konjunkturhilfen, Sonderabschreibungen für den Bau – ganz einfach. Aber wir reden hier nicht über Konjunkturprobleme, sondern von strukturellen Problemen. Allein, die Größe der Erwerbsbevölkerung stabil zu halten, ist schon eine massive Herausforderung.
FOCUS online: Also würde es nichts bringen, jetzt konjunkturpolitisch einzugreifen? Welche Alternative hätte die Ampelkoalition dann überhaupt noch, welche hätte jede künftige Regierung?
Stelter: Wir dürfen auf keinen Fall Konjunkturpolitik machen! Das wäre nichts als ein Strohfeuer. Wir überwinden die konjunkturelle Krise, die wir momentan haben, wenn wir glaubhaft machen, dass wir die strukturellen Themen angehen.
Dann sagen Investoren: Super, Deutschland packt an, hier investieren wir. Dann sagen die Verbraucher: Super, ich habe Vertrauen ins Land, weil etwas passiert. Das bringt viel mehr, als ein paar Milliarden in die Bauwirtschaft zu kippen.
Wir müssen glaubhaft machen: Das ist unser Weg – bei den Energiekosten, bei der Regulierung, bei den Steuern und Abgaben, und das sind unsere Maßnahmen, um Menschen länger im Arbeitsleben zu halten. Mit einer Steuerbefreiung beispielsweise. Anreize setzen, statt bestrafen.
FOCUS online: Längere Arbeitszeiten, ein besseres Bildungssystem, schön und gut, aber auch hier stellt sich die Frage nach der Finanzierung. Also sind doch wieder Staatsinvestitionen, in irgendeiner Form, nötig.
Stelter: Ja, natürlich.
FOCUS online: Aber wie genau soll das klappen, insbesondere bei der brisanten Haushaltslage des Bundes? Bräuchte es nicht sogar eine Regierung, die sich nicht streitet, damit der Haushalt wieder „funktioniert“?
Stelter: Da widerspreche ich. Ein Haushalt, der „funktioniert“, ist nicht ein Haushalt, der Probleme löst. Bei der Großen Koalition hat der Haushalt ja funktioniert, aber er hat keine Probleme gelöst. Das habe ich damals selbst geschrieben: „die Schwarze Null ist eine Lüge“.
Der Staat hat damals nicht gespart, wie die Sozialausgaben dieser Jahre deutlich zeigen. Und obwohl die Koalition damals im Geld schwamm – dank Mario Draghi –, hat sie sich gegen Investitionen entschieden.
Was mich bei dieser Debatte heute stört: Es wird oft gesagt, es mangele am Geld. Das stimmt nicht, es mangelt an der Allokation des Kapitals. Nur, weil ich der Regierung mehr Verschuldungsspielraum gebe, heißt das nicht, dass die Gelder dann auch effektiv genutzt werden.
Nehmen wir beispielsweise das Thema Bildung. Seit 20 Jahren werben die Parteien damit, mehr in Bildung investieren. Am Ende wird’s dann nicht gemacht. Das heißt nicht, dass wir nicht Schulden machen dürfen oder sollen. Am besten über Sondertöpfe, mit den entsprechenden Instrumentarien, damit die Gelder nicht zweckentfremdet werden. Trotzdem löst Geld allein die Probleme nicht.
FOCUS online: Was fehlt, neben der Finanzierung?
Stelter: Sagen wir mal, wir nehmen jetzt ganz viel Geld für das Schienennetz in die Hand. Dann folgt direkt die Frage: Wer plant das, wer baut das? Das heißt, wir bräuchten eine Politik, die sich verpflichtet, nachhaltig, auf 20 Jahre hinaus, ein Ausgabenniveau zu halten.
Denn bei solchen Projekten müssten die Architektur- und Baufirmen die Mitarbeiter einstellen, ausbilden, und vorhalten. Und das mit einer Aussicht auf zehn Jahre. Das geht ja nicht. Nach der nächsten Wahl sagt die neue Regierung schlimmstenfalls, dieses Projekt wollen wir nicht mehr.
Das heißt, wir brauchen eine Verstetigung in der Politik. Deswegen bin ich ein wenig misstrauisch, was die Politik angeht. Es ist fast egal, um welche Partei es geht – die Gelder sind da, werden aber tendenziell für die falschen Dinge ausgegeben.
Auf der anderen Seite müssen wir die Widerspruchskultur auflösen. Denken Sie etwa an Stuttgart 21 – wer hat dagegen demonstriert? Eher ältere Bürger. Die Leute, die den Baulärm haben, aber den Nutzen des Projekts nicht mehr erleben werden. Der Anteil der Menschen dieser Gruppe in Deutschland steigt aber an. Das heißt, es wird alles noch mühsamer.
FOCUS online: Was Sie hier skizzieren, wirkt wie eine ausweglose Situation. Gibt es keine konkreten Schritte, die jetzt unternommen werden könnten?
Stelter: Doch, die gibt es. Ich habe einen konkreten Vorschlag. Deutschland hat offiziell eine Staatsverschuldung von 60 Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Inoffiziell haben Ökonomen wie Bernd Raffelhüschen errechnet, ist die Verschuldung viel höher.
Wir sollten uns, meiner Meinung nach, für Investments höher offiziell verschulden und im Gegenzug die „verdeckte Verschuldung“ abbauen. Das heißt: Versprechen wieder einkassieren. Rentenansprüche. Zusatzansprüche an die Kassen. Und so weiter.
Dann hätten wir höhere laufende Schulden, könnten aber Steuern und Abgaben senken und investieren. Dafür müssten wir sagen: Tut uns leid, ältere Mitbürger, aber wir müssen alle bis 67 arbeiten. Und bei der Krankenkasse gäbe es dann mehr Leistungen, die selbst bezahlt werden müssten.
Das ist sehr unpopulär, und wird deswegen nicht gemacht. Stattdessen eiern die Politiker weiter rum.
FOCUS online: Stichwort Steuern und Abgaben – gibt es hier nicht auch Stellschrauben für den Haushalt? Oder vielleicht auch beim heiß debattierten Bürgergeld?
Stelter: Die Programme, um Bürgergeld-Empfänger aus- und weiterzubilden, haben leider einen stark beschränkten Erfolg. Will man die Menschen wieder in Arbeit kriegen, geht es weniger ums Absenken des Bürgergelds, sondern eher um diesen Übergang. Und da ist die Grenzbelastung zu hoch. Deswegen arbeiten die Empfänger lieber schwarz.
Generell ist die Belastung in Deutschland im unteren Einkommensbereich eh schon viel zu hoch. Also müsste man das ganze System umbauen. Man könnte dann auch noch die Reichen mehr belasten, aber hier ist das Problem, dass es davon gar nicht so viele gibt.
Die meiste Umverteilung findet ohnehin in der Mitte statt, das müsste man lassen. Besser wäre, den Bedürftigen mehr zuzugestehen und den Übergang aus der Erwerbslosigkeit in den Arbeitsmarkt attraktiver zu gestalten. Aber auch hier ist die Frage: Welche Politiker würden sich das trauen?
FOCUS online: Wenn die Bürger nun nachvollziehbarerweise nicht gegen ihre eigenen Interessen stimmen, wie beispielsweise ein höheres Renteneintrittsalter, wie kommt Deutschland dann aus dieser Gemengelage heraus?
Stelter: Das frage ich mich auch oft. Ich denke dennoch, dass es über den Abbau der verdeckten Schulden klappen kann – mehr offizielle Schulden, und ein richtiges Reformprogramm für die Masse mit weniger Abgaben. Vielleicht auch mit höheren Steuern für Reiche oder auf Erbschaften. Und damit ein wenig mehr Gerechtigkeit.
Im Gegenzug gehen wir die genannten Probleme an. Das müsste der große Deal sein. Stattdessen reden wir über 15 Euro beim Bürgergeld – das ist irre, das ist einfach Quatsch. Die Politik verliert sich in dieser kleinteiligen Komplexität.
Wenn wir genau das angehen, mit einem späteren Renteneintritt und mit weniger Rente, dafür aber noch mit einem Alterssicherungsfonds, wie es sie beispielsweise in Skandinavien zur Altersvorsorge gibt, dann können sich die jungen Bürger auch darauf einstellen, und sich vorbereiten. So müssen wir diese großen Themen angehen.
Sonst wird sich der Niedergang, zumindest relativ zu anderen Regionen, fortsetzen. Das wird man hier nicht so spüren, aber wer dann mal im Ausland urlaubt, wird sehen, wie es ist, wenn man schnelles Internet oder ein lückenloses Mobilfunknetz hat und digitalisierte Behörden.
Ein Nebeneffekt des Niedergangs wird übrigens eine steigende politische Unzufriedenheit sein, und eine immer größere politische Fragmentierung. Dann wird es noch viel schwieriger, das Land zu sanieren.
FOCUS online: Zum Abschluss – was würden Sie jetzt den Jüngeren raten, welche die Folgen des Strukturwandels noch am ehesten spüren werden, im Guten wie im Schlechten?
Stelter: Definitiv eine gescheite Ausbildung, ein gutes Studium, in den Naturwissenschaften. Und: Über Deutschlands Grenzen hinweggucken, auf Länder mit besseren Perspektiven, so leid es mir tut, das zu sagen.
Und wer bleiben möchte, sollte sich engagieren, dass doch etwas passiert. Entweder gehen oder für Verbesserungen kämpfen. Ich würde mir wünschen, dass mehr Leute kämpfen.