Der Blick nach vorn ist düster

Die Empfehlung, keiner Statistik zu glauben, die man nicht selbst gefälscht hat, die oft fälschlicherweise Winston Churchill zugeschrieben wird, befolgen viele nur allzu gern – besonders, wenn ihnen die Daten nicht gefallen. Jahrelang war die deutsche Politik mit den Ergebnissen internationaler Vergleichsstudien höchst zufrieden.

Ob Weltbank, Weltwirtschaftsforum oder Schweizer Business School IMD: Überall belegte die Bundesrepublik noch vor einigen Jahren vorderste Plätze bei der Wettbewerbsfähigkeit.

Mittlerweile erstellen nur noch die Schweizer Forscher ihren jährlichen Report, und die aktuelle Ausgabe hat es in sich: Deutschland ist abgestürzt. 2014 noch auf Platz sechs der wettbewerbsfähigsten Volkswirtschaften der Welt, reicht es zehn Jahre später nur noch für Platz 24 von 67.

Besonders schlecht sieht es bei Regierungseffizienz und Infrastruktur aus. Auch die Unternehmen haben einen erheblichen Anteil am Niedergang, belegt doch Deutschland im aktuellen Ranking beim Thema Unternehmenseffizienz nur Platz 35.

Besonders wenig dürfte der Bundesregierung gefallen, dass nur fünf Prozent der Befragten die deutschen Staatenlenker für „fähig“ halten. Sofort waren Unterstützer zur Stelle, die darauf hinwiesen, dass andere Studien Deutschland ein besseres Zeugnis ausstellen.

So vermuten Ökonomen der staatseigenen KfW, dass die schlechten Beurteilungen vor allem die unbefriedigende Konjunkturentwicklung widerspiegeln, wohingegen Deutschland bei Kriterien wie Qualifikation der Bevölkerung (gemessen an der Anzahl der Bildungsjahre), der Logistikinfrastruktur und der geringen Energieintensität der Industrie an der Spitze liege.

Zudem sei Deutschland in der Periode von 2005 bis 2020 das einzige G7-Land, dem es gelungen sei, mit Blick auf das kaufkraftbereinigte Pro-Kopf-Einkommen zu den USA aufzuschließen.

Womit wir beim Kernproblem solcher Studien sind. Sie basieren viel zu sehr auf historischer Leistung und unterschätzen die Veränderung zum Guten oder Schlechten. Länder, die absteigen, werden zunächst langsam nach unten durchgereicht, bis es zum richtigen Absturz kommt. So hatte das Weltwirtschaftsforum Deutschland noch 2019 einen guten siebten Platz bescheinigt.

Getragen war das Ergebnis vor allem vom damaligen guten Ist-Zustand. Doch bei wichtigen Themen wie innerer Sicherheit, Schutz von Eigentumsrechten, Energiepreisen und Abhängigkeit von fossilen Energieträgern war Deutschland damals schon weit abgeschlagen.

Das sind Themen, die seither in jeder Hinsicht an negativer Bedeutung gewonnen haben. Genau solche Faktoren sind es aber, die sich zeitversetzt in den harten Indikatoren niederschlagen.

Statt also internationale Vergleichsstudien abzutun oder zu relativieren, sollten wir dringend anerkennen, wie miserabel es um die entscheidenden Zukunftsvoraussetzungen des Landes steht. Das Bildungssystem ist ausgewiesen schlecht, wie internationale Vergleiche wie PISA unterstreichen.

Der Anteil der Studenten in naturwissenschaftlich-technischen MINT-Fächern ist deutlich zu gering, der Anteil jener, die, statt eine Berufsausbildung zu machen, wenig relevante Fächer studieren, dafür zu hoch. Die Zahl der jungen Menschen ohne jegliche Berufsausbildung ist erschreckend.

Der Zustand der Infrastruktur ist so schlecht, dass sich sogar englische Fußballfans darüber mokieren. Deutschland ist ein Sanierungsfall – und die Verantwortlichen weigern sich, dies anzuerkennen.

In Ernest Hemingways Roman „Fiesta“ fragt ein Gesprächspartner einen anderen, wie es zu dessen Bankrott gekommen sei – woraufhin er die Antwort erhält: „Auf zwei Arten. Allmählich und dann plötzlich.“ Wir nähern uns Phase zwei.

→ handelsblatt.com: „Der Blick nach vorn ist düster“, 30. Juni 2024