„Margin Call für die Weltwirtschaft“
Liquidität ist das Schmiermittel, mit der die Notenbanken die Märkte am Laufen halten. Warum das die Kurse treibt und eine fatale Kettenreaktion droht, wenn die ersten ihre Wertpapiere verkaufen müssen.
Kennen Sie den Film „Margin Call“? Kevin Spacey spielt den Banker, der seine Händler antreibt, demnächst wertlose Wertpapiere noch schnell zu verkaufen, bevor es die anderen tun. Die Geschichte, auf die der Film anspielt, ist der Anfang der Finanzkrise im Jahr 2008. Treffend lief der Film in Deutschland auch unter dem Titel „Der große Crash“.
Heute stehen wir wieder vor einer solchen Situation: Es reicht ein kleiner Anlass, um alle Investoren in Richtung „Exit“ zu bewegen. Wenn alle nur noch verkaufen wollen, geraten die Assetpreise unter Druck und die, die noch nicht verkauft haben, müssen entweder Eigenkapital nachschießen („Margin Call“) oder verkaufen. Der Absturz ist brutal.
Auslöser für eine solche Kettenreaktion könnten dieses Mal die versiegenden Geldströme sein. Bislang hielt schier unendliche Liquidität die durch Schulden finanzierte Maschine am Laufen. Sich verändernde Geldströme drohen ihr das Schmiermittel zu entziehen.
Mit „Hebel“ nach oben
Wir haben an dieser Stelle schon oft vom gigantischen Schuldenberg geschrieben. Zur Erinnerung: die Welt ächzt unter 200 Billionen US-Dollar Schulden, alleine seit 2007 ist der Berg um 50 Billionen gewachsen. Ein Großteil dieser Schulden ist nicht verwendet worden zur Finanzierung von produktiven Investitionen, sondern zum Ankauf weiterer Assets.
Das funktioniert so: Nehmen wir an, Sie könnten sich eine Aktie zu 100 Euro kaufen, die eine sichere Dividende von 10 Euro pro Jahr bezahlt. (Ja, in der heutigen Zeit undenkbar, aber dazu kommen wir gleich!). Setzen Sie für den Kauf nur Eigenkapital ein, erzielen Sie eine Rendite von 10 Prozent. Attraktiver wäre es, sich 100 Euro von der Bank zu leihen und gleich zwei Aktien zu kaufen. Gibt die Bank sich mit fünf Prozent Zinsen zufrieden, gehen 5 Euro an die Bank und 15 Euro bleiben bei Ihnen. Macht 15 Prozent Rendite. In der Praxis dürfte die Bank noch großzügiger sein und sich mit nur 20 Prozent Eigenkapital zufriedengeben. Sie können sich also zu Ihren 100 Euro noch 400 Euro von der Bank leihen und fünf Aktien kaufen. Von den 50 Euro Dividende gingen dann 20 Euro an die Bank (5 Prozent auf 400) und Ihnen blieben 30 Euro! Eine Rendite von dreißig Prozent auf das eingesetzte Eigenkapital.
Nun merken auch andere, was für ein gutes Geschäft das ist und geben sich mit Renditen unter 30 Prozent zufrieden, zahlen also mehr für die Aktie. Steigt der Kurs auf 140 Euro, haben Sie nicht nur einen schönen Kursgewinn erzielt, sondern auch wieder erheblich mehr Eigenkapital. Ihre zur Beleihung zur Verfügung stehende „Margin“ erhöht sich dadurch auf 300 Euro (100 plus 200 Kursgewinne). Zwar ist die Dividendenrendite von 10 auf nur noch 7 Prozent gefallen. Doch liegt sie damit immer noch über dem Zinssatz der Bank. Sie leihen sich weitere 840 Euro und kaufen dazu. Dann haben Sie 11 Aktien im Wert von 1540 Euro und Schulden von 1240 Euro. Die Rendite auf Ihr Eigenkapital von 300 Euro sinkt zwar auf 16 Prozent, der Gesamtüberschuss (Dividende minus Zinsen) wächst allerdings von 30 auf 48 Euro. Es lohnt sich, solange mehr Schulden aufzunehmen, wie die Dividendenrendite über dem Zinssatz der Bank liegt. Man spricht vom Hebeleffekt (Leverage).
Das war in den letzten 30 Jahren ein sicheres Geschäft. Die Zinsen sanken von über 10 Prozent auf heute null und die Banken gaben sich mit immer weniger Margin zufrieden. Alle Assetpreise haben davon profitiert: Aktien, Anleihen, Immobilien, Kunst. Die Kreditvergabe der Banken zum Kauf von vorhandenen Assets hat sich in diesem Zeitraum vervielfacht.
Das funktioniert aber nur so lange, wie die Papiere im Wert steigen und der Kreditgeber keinen Nachschuss auf das Eigenkapital („Margin Call“) verlangt. Kann man dann kein Geld nachschießen, muss nämlich verkauft werden. So war die Situation im Film.
Eine solche Situation gab es in den letzten 20 Jahren schon mehrmals. Doch jedes Mal gelang es Notenbanken und Regierungen, einen Kollaps zu verhindern. Mit noch tieferen Zinsen, noch geringeren Eigenkapitalanforderungen, mit der Änderung der Rechnungslegung (Banken zeigen keine Verluste mehr) und schließlich dem direkten Aufkauf der Wertpapiere. Spekulanten hatten immer eine Versicherung, weil es immer Käufer gab, die das Rad am Laufen hielten: die Notenbanken der Welt, die nach einer Studie der Deutschen Bank seit Anfang des Jahrtausends 10 Billionen US-Dollar in die Märkte gepumpt haben; die Schwellenländer, die um die Exporte zu steigern, jahrelang ihre eigene Währung geschwächt und dazu andere Währungen aufgekauft haben und die Öl exportierenden Länder, die ihre Überschüsse verlässlich in die Kapitalmärkte des Westens investiert haben.
Das Schmiermittel könnte knapp werden
Diese Geldströme könnten allmählich versiegen. China wird seine Wirtschaft stabilisieren, dazu aber Währungsreserven abbauen. Vom Gipfel, der im ersten Quartal 2014 bei Währungsreserven von 4 Billionen Dollar lag, sind bislang bereits 300 Milliarden Dollar abgeschmolzen. Weitere 510 Milliarden Euro, so schätzen die Analysten von Barclays, wird die People´s Bank of China bis Jahresende auf den Markt bringen. Ölexporteure wie Saudi Arabien knabbern ihre Ersparnisse an, um die laufenden Ausgaben zu finanzieren. Schwellenländer wie die Türkei leiden unter hohen Auslandsschulden und einer beginnenden Kapitalflucht und Rohstoffexporteure wie Chile durchlaufen eine schwere Rezession. Und die Zentralbank der USA, sucht nach dem richtigen Zeitpunkt, um ihr QE-Programm endgültig beenden.
In Anspielung darauf nennt die Deutsche Bank die vor uns stehende Zeitenwende „Quantitative Tightening“. Sie würde unser schönes Modell des schuldenfinanzierten Reichtums mächtig unter Druck bringen. Zum einen steigen die Finanzierungskosten, weil die Notenbanken vor allem Staatsanleihen aufgekauft haben. Das ist gefährlich, weil der Ertrag unseres oben geschilderten Leverage-Modells schon jetzt kaum über den Finanzierungskosten liegt.
Mit Hebel nach unten
Gleichzeitig fallen die Vermögenspreise wegen nachlassender Nachfrage und zunehmenden Verkäufen. Sehr schnell sind wir dann am dem Punkt, wo Verkäufe nicht mehr freiwillig, sondern erzwungen erfolgen. Für mich der Hauptgrund für die derzeitigen Turbulenzen.
Natürlich gibt es noch andere Notenbanken, die die Welt mit mehr Liquidität versorgen, allen voran die EZB und die Bank of Japan. Doch so groß deren Aufkaufprogramme auch sind und noch werden, sie reichen nicht, um den Abbau der weltweiten Liquidität zu kompensieren, höchstens um ihn zu verlangsamen.
Die Deutsche Bank erwartet aufgrund dieser Entwicklung vermehrten „Gegenwind“ für die Kapitalmärkte. Ich sehe es kritischer. Auf dem Weg nach oben wirkt Verschuldung stabilisierend. Dabei haben wir mit immer mehr Krediten die Weltwirtschaft immer höher gehebelt. Doch obwohl die Zinsen faktisch auf null gefallen sind, liegen die zu erwartenden Erträge von Kapitalanlagen nur noch geringfügig darüber. Kleine Verluste können also die Märkte ins Rutschen bringen. Auf dem Weg nach unten wirken Schulden dann als Brandbeschleuniger. Knallt es irgendwo – zum Beispiel weil wir eine Zahlungsbilanzkrise wie Ende der 1990er-Jahre in Asien bekommen – stehen die Notenbanken zwar bereit. Doch wie hier bereits diskutiert, könnte es gut sein, dass die Munition alle ist. Dann hätten wir den größten „Margin Call“ der Weltgeschichte.
Selbst wenn Sie als Privatanleger Ihre Investments nie mit Schulden, sondern nur mit Eigenkapital finanziert haben, könnten Sie sich einem breiten Preisverfall aller Assets nicht entziehen. Zeit also, Risiken zu reduzieren. Weniger Schulden und weniger optimistische Annahmen bezüglich der Kapitalrenditen sind angezeigt. Und wenn Kredit für Immobilien, dann sollte die Rate aus dem Mietertrag komfortabel zu bedienen sein und die Kreditsumme auch den konservativst geschätzten Wert des Hauses nicht übersteigen.
→ WiWo.de: „Margin Call für die Weltwirtschaft, 10. September 2015“