Europas teure Aufrüstungs­illusion

Die Zahlen sind atemberaubend: Deutschland will seine Verteidigungsausgaben bis 2029 auf 152,8 Milliarden Euro nahezu verdreifachen. Die Nato hat ihr Ausgabenziel von zwei auf fünf Prozent des Bruttoinlandsprodukts erhöht. Die EU mobilisiert 800 Milliarden Euro für die Wiederaufrüstung. Eine neue Studie des Kieler Instituts für Weltwirtschaft zeigt allerdings, dass Geld allein keine Sicherheit bringt.

Die Analyse „Fit for war by 2030?” zeichnet ein nüchternes Bild europäischer Verteidigungsfähigkeit. Trotz massiver Ausgabensteigerungen seit 2022 bleibt Europa „hochgradig verwundbar und abhängig von den USA”. Russland übertrifft weiterhin die kombinierte Produktion von Deutschland, Großbritannien, Frankreich und Polen bei entscheidenden Waffensystemen.

Während Russland seine Panzerproduktion um 260 Prozent, die von Schützenpanzern um 180 Prozent und die Artillerieproduktion um 180 Prozent steigerte, haben sich Europas Bestände seit 2021 nicht wesentlich verbessert. Was nicht zuletzt am langsamen Beschaffungswesen, fehlenden industriellen Kapazitäten und entsprechend langen Lieferzeiten liegt. Die Folge von 30 Jahren „Friedensdividende“ seit dem Fall des Eisernen Vorhangs.

Gemessen an der „militärischen Kaufkraftparität“ – diese berücksichtigt neben den normalen Unterschieden in der Kaufkraft zwischen Ländern die spezifischen Kostenunterschiede bei Militärgütern – investiert Russland mindestens so viel in die Rüstung wie ganz Europa und erzielt damit aber deutlich mehr Output. Die Gefahr ist groß, dass Europas Politiker der klassischen Illusion erliegen, einfach nur mit mehr Geld für die Verteidigung den eingetretenen Rückstand aufholen zu können.

Das beginnt bereits beim Beschaffungsprozess. Das für die Beschaffung zuständige Bundesamt für Ausrüstung, Informationstechnik und Nutzung (BAAINBw) der Bundeswehr in Koblenz – elf Dienststellen im Bundesgebiet und rund 11.000 Beamte, Angestellte und Arbeiter – ist mehr Problem als Lösung. Im Jahr 2022 betrugen die Kosten für diesen Moloch atemberaubende 8,86 Milliarden Euro, was bezogen auf die Summe verteidigungsinvestiver Ausgaben von ca. 14,2 Milliarden Euro circa 60 Prozent des Beschaffungsvolumens entsprach.

Sicherlich war das tatsächlich im Jahr 2022 vorbereitete Beschaffungsvolumen höher, da diese Prozesse ja wie im Falle der Auswahl des letzten Sturmgewehrs (sieben Jahre) oder neuer Helme für Hubschrauberpiloten (über zehn Jahre) im bürokratischen Sumpf längere Zeit benötigen. Klar ist aber, dass sich mit dieser Struktur Russland keine großen Sorgen machen muss, dass Deutschland zeitnah wehrbereit wird.

Hinzu kommt, dass die Rüstungsindustrie in Europa sich grundlegend ändern muss. Zum einen geht es um den Umstieg von Kleinserienherstellung – oftmals ist es nicht einmal das, sondern Einzelfertigung – auf Großserienfertigung, zum anderen um Standardisierung und Kostenfokus. Die Studie zeigt: Preisunterschiede zwischen ähnlichen Ausrüstungstypen sind „sehr groß“, weshalb Europa sich auf Kosteneffizienz konzentrieren muss. Da denkt man eher daran, ein Team aus Einkäufern von Volkswagen und Lidl – stellvertretend für die Kollegen bei anderen Unternehmen – in einer neuen Bundeswehreinkaufseinheit zu bündeln und an Koblenz vorbei agieren zu lassen.

Mindestens ebenso wichtig und schwer zu realisieren dürfte der Vorschlag sein, in Europa mehr gemeinsam einzukaufen und nicht die jeweiligen nationalen Anbieter zu bevorzugen. Das ist zwar ökonomisch – Kosten und Zeit – zwingend, aber mit Blick auf wichtige Länder wie Frankreich, welches fast ausschließlich bei französischen Herstellern einkauft, völlig utopisch. Dabei ist die Notwendigkeit, die europäischen Kapazitäten in allen Gebieten deutlich auszuweiten, so groß, dass für alle Länder unter dem Strich mehr Volumen anfallen sollte.

Noch in einem weiteren Punkt machen die Autoren der Fit-for-war?-Studie die Herausforderung klar. Neue Technologien führen zu einem massiven Umbruch in der Art und Weise, wie Krieg geführt wird. Es geht oft nicht um die Produktion großer Mengen auf Vorrat, sondern um die Fähigkeit, große Mengen im Kriegsfall schnell produzieren zu können. Beispiel: Drohnen. Hierfür müssen die entsprechenden Kapazitäten und Fähigkeiten bereitstehen.

Mindestens ebenso wichtig ist, die technologische Kompetenz zu haben, deutlich mehr und deutlich innovativere Waffensysteme zu entwickeln. Auch hier gilt es in Europa, zunächst die zum Teil erheblichen Fähigkeitslücken zu schließen und die Kompetenzen aufzubauen.

So gesehen stehen wir vor zwei Szenarien: Im schlechten Fall steckt die Politik viele Hundert Milliarden in eine bestehende Struktur mit entsprechend geringer Wirkung. Oder aber, sie verbindet es mit grundlegenden Reformen, die weit über den reinen Rüstungsbereich hinausgehen – Stichwort: Forschung an Universitäten –, und es gelingt nicht nur, eine glaubwürdige Abschreckung zu etablieren, sondern zugleich Technologien zu entwickeln, von denen der Wirtschaftsstandort EU als Ganzes profitiert. Europa braucht eine industrielle Verteidigungsstrategie, nicht nur einen größeren Verteidigungshaushalt. Geld ist das kleinste Problem – Zeit und Effizienz sind viel entscheidender.

→ handelsblatt.com: „Europas teure Illusion der Aufrüstung“, 13. Juli 2025