Zur gestrigen Diskussion bei Markus Lanz
Statt der erwarteten und von mir entsprechend vorbereiteten Diskussion zum Thema „Brexit“ entspannte sich gestern Abend eine – wie ich finde – hoch interessante und facettenreiche Diskussion über die grundlegenden Probleme, vor denen wir stehen:
- Die Folgen des demografischen Wandels (also Alterung und Migration).
- Die Wirkung der Globalisierung auf die verschiedenen Gruppen der Gesellschaft.
- Die zu erwartende Änderung der Arbeitswelt.
- Der Strukturwandel unserer Industrie.
- Die Notwendigkeit die (Finanzierung der) Sozialsysteme umzustellen.
- Die falschen politischen Antworten auf diese Herausforderungen.
- Die Neigung von Parteien und Regierung mit Symbolpolitik zu agieren, statt die Themen grundlegend anzupacken.
Nun, kurz nach der Sendung fällt es mir schwer, als Akteur eine Zusammenfassung zu geben. Dazu werde ich mir Markus Lanz noch mal in der Mediathek anschauen. Zu intensiv ist die Diskussion gewesen, zu stark die Konzentration auf den Augenblick. Hatte ich doch das Vergnügen mit Richard David Precht und Markus Lanz zwei Gesprächspartner zu haben, die fundiert und analytisch argumentieren und dabei auch bereit sind, von eingetretenen Pfaden abzuweichen. Diese Aspekte sind mir direkt im Gedächtnis geblieben:
- Zur Zukunft der Innenstädte: Herr Precht brachte das Beispiel seiner Geburtsstadt Solingen, wo er – stellvertretend für viele Städte – eine Verödung der Innenstadt bedauert. Als Ursache identifiziert er das Ladensterben, zunächst durch die Filialketten, in den letzten Jahren durch den Onlinehandel. Er erwähnte dabei auch die Folgen der demografischen Veränderung, weil Solingen mit einem Migrationsanteil von über 30 Prozent auch deshalb eine Veränderung des Stadtbildes erlebt.Bei der Analyse waren wir uns einig, allerdings nicht bei der Lösung. Herr Precht brachte die Idee einer unterschiedlichen Umsatzsteuer für stationäre Händler und Versandhändler wie Amazon in die Diskussion. Ich verwies darauf, dass diese Steuer von den großen Versandhändlern nicht an die Kunden weitergegeben würde und es damit nur zu einer Verdrängung der kleineren Versandhändler kommen würde. Zugleich betonte ich, dass es nicht genügen würde, den Kommunen mehr Geld zu geben. Vielmehr müssten auch neue Konzepte entwickelt werden, um die Innenstädte attraktiver zu machen. Außerdem hätten wir als Land gar nicht die Mittel, überall gegen diesen Wandel anzukämpfen, er ist nun mal auch Folge des Bevölkerungsrückgangs und wird angesichts des industriellen Strukturwandels auch noch weitere Regionen treffen. Deshalb sollten wir auch auf den Ideenwettbewerb und die Initiativkraft auf Ebene der Kommunen setzen und nicht alles zentral vorschreiben. Wahrscheinlich müssen wir auch akzeptieren, dass wir nicht alle Städte erhalten können und dass Regionen auf Dauer zu veröden drohen. Hier wäre aktiver Rückbau und Renaturierung sicher sinnvoller, als die Siedlungen sich selbst zu überlassen und die Abkopplung einfach hinzunehmen.Generell sehe ich die Notwendigkeit, den Kommunen mehr Geld zu geben und auch die Idee einer Entschuldung von Kommunen finde ich prinzipiell begrüßenswert. Das geht aber auch so, ohne eine weitere Steuer, ist doch die Abgabenlast schon hoch genug.
Eine Chance für einen Neustart der Regionen und Kommunen sehe ich im Wandel durch die Anforderungen des Klimaschutzes. Wir werden eine De-Globalisierung von Wertschöpfungsketten erleben, weil es nicht mehr wirtschaftlich sein wird, Waren um die Welt zu verschiffen. Auch werden Digitalisierung und neue Technik wie der 3-D-Druck entsprechend wirken.
- Schrumpfen der Mittelschicht in den Industrieländern: Am Beispiel eines Taxifahrers aus Großbritannien kamen wir auf das Thema des Drucks auf die Mittelschicht. Es wurde deutlich, wie Migration bestimmte Schichten der Gesellschaft härter trifft, als andere. Dies muss im Zuge der Globalisierung gesehen werden, durch die sich in den letzten Jahren das Arbeitskräfteangebot gerade im niedrigeren Qualifikationsbereich deutlich erhöht hat. In den USA stagnieren die Reallöhne bekanntlich seit 40-Jahren, während die Ausgaben für Gesundheit und Bildung beträchtlich gestiegen sind. Dieses Schrumpfen hat erhebliche soziale Folgen und auch politische. Sind doch Donald Trump und der Brexit ohne diese Entwicklung schwer vorstellbar. Die Diskussion kreiste an dieser Stelle auch um Fragen der Bildung und wir konstatierten einen drastischen Verfall der Qualität des Bildungswesens. Herr Precht sprach sich in diesem Zusammenhang für eine stärkere Verzahnung zwischen akademischer und praktischer Ausbildung aus, betonte die Chancen des Handwerks. Zustimmend kritisierte ich den Akademisierungswahn, die Absenkung von Leistungsstandards und die Flut an Einser-Abiturs.
- Weiterer Druck durch Automatisierung und KI: Die nächste Welle des Drucks auf die Mittelschicht steht bevor oder hat bereits begonnen. Herr Precht führte aus, dass die neuen Technologien Arbeitsplätze bis weit in die höhere Mittelschicht betreffen werden. Dies wird zu einem deutlichen Anstieg der Arbeitslosigkeit führen. Eine Einschätzung, die ich, trotz meines prinzipiellen Zutrauens in die Fähigkeit der Marktwirtschaft, neue Arbeitsplätze zu schaffen, teile. Positiv ist bei uns, dass wir es ohnehin mit einer schrumpfenden Bevölkerung zu tun haben, weshalb wir uns an Japan ein Beispiel nehmen sollten, wo statt auf Migration vor allem auf Roboter und Automatisierung gesetzt wird.
- Der Strukturwandel in der deutschen Industrie wurde in diesem Zusammenhang auch zum Thema: Herr Precht rechnete vor, dass die Umweltbilanz eines Elektroautos deutlich schlechter als die eines Verbrenners sei und betonte die Chancen der Wasserstofftechnologie. Beide waren wir uns einig, dass es falsch ist, wenn wir in Deutschland einseitig auf die Technologie von Elektromobilität setzen und dass es besser wäre, wenn wir schon jetzt auch Wasserstoff als mögliche Lösung sehen. Ich denke sogar, dass unsere Automobilkonzerne es nicht schaffen werden alle Alternativen gleichzeitig zu stemmen. Gut möglich, dass sie in zehn Jahren gar nicht mehr die Kraft hat, den nächsten Technologieschwenk zu vollziehen. Mir war auch wichtig, daran zu erinnern, dass es eine sinnvollere Verwendung für die 40 bis 80 Milliarden wäre, die der Kohleausstieg kostet, wenn wir dieses Geld in die Forschung an neuen Technologien stecken würden.
- Umstellung der Sozialsysteme: Logisch zwingend muss man nach dieser Analyse über die Zukunft der Sozialsysteme nachdenken. Herr Precht verwies darauf, dass wir über Modelle wie das bedingungslose Einkommen nachdenken müssen und dieses auch anders finanzieren müssten, als über eine Belastung der Arbeit. Eine Überlegung, bei der ich ihm folge, allerdings auch davor warne, die Möglichkeiten von Vermögens- und Maschinensteuern zu überschätzen. In diesem Szenario bekommen wir strukturelle Deflation und auch sinkende Vermögenspreise. Ein Aspekt, den ich dann aus Zeitgründen nicht mehr ausführen konnte.
- Falsche/keine Antworten der Politik: Einigkeit herrschte mit Blick auf die Leistungen der Politik. Die Politik tut sich schwer mit der Analyse und noch schwerer mit Antworten. Zu oft setzt man auf Maßnahmen mit Symbolwirkung wie Steuern und Verbote. Während Herr Precht das Verbot von SUV in den Innenstädten mit der Anschnallpflicht und dem Rauchverbot in Gaststätten verglich, sah ich einen Unterschied. Die Bedeutung des Gurtes ist ungleich höher. Mir wäre eine Besteuerung der Zufahrt in Städte lieber, die könnte sich ja am Schadstoffausstoß des Autos orientieren, wie das in Mailand der Fall ist. Einig waren wir uns hingegen darin, dass die Symbolpolitik nicht das Fehlen von grundlegenden Antworten kompensieren kann. Die Politik wird immer mehr zu einem Schauspiel ohne echte Substanz.
Ein breiter Tour d‘Horizon also, den wir in rund einer Stunde bearbeitet haben. Es lohnt sich sicherlich, die Diskussion in der Mediathek anzuschauen. Es war ein guter Ausschnitt der Themen, die wir auch sonst bei bto diskutieren. Und wir hätten sicherlich noch Stoff für weitere Stunden gehabt, wurden doch die Themen Finanzkapitalismus, Verschuldung und EU/Brexit nur am Rande gestreift.
Zum Schluss der Sendung kam dann die Buchautorin und Rangerin Gesa Neitzel zu Wort. Sie berichtete, unterlegt von wunderschönen Natur- und Tierbildern, von ihrem Entscheid, ihr bisheriges Leben in Berlin aufzugeben, um Rangerin in Afrika zu werden. Sie erklärte die Ausbildung und die Arbeit und ihre Absicht, dort mit ihrem Mann einen eigenen kleinen Rangerbetrieb aufzumachen.
Vor der Sendung hatte ich sie gefragt, ob man denn überhaupt angesichts der Klimadiskussion noch auf Foto-Safari gehen dürfte. Ihre Antwort: Unbedingt, denn wenn die Touristen nicht mehr kommen, sterben die Tiere. Keiner passt mehr auf und dann kommen die Wilderer.
→ Stelter bei Markus Lanz, Sendung vom 16. Oktober 2019 (verfügbar bis 16.11.2019)