STELTERS MAILBOX: Was sagen Sie zur politischen Stimmung?
Man schreibt mir:
“Sehr geehrter Herr Stelter,
Sie müssen doch auch – trotz Ihrer täglichen Arbeit am Blog – eine Meinung haben zur Lage im Lande. Oder verfolgen Sie keine Nachrichten mehr?
Mit freundlichen Grüßen,”
Natürlich verfolge ich die Nachrichten und ich habe mir auch einiger der Sondersendungen und Sonder-Talk-Shows angesehen. Einerseits amüsiert andererseits ernsthaft besorgt. Denn wie wird es erst zugehen, wenn die Deutschen aus dem Märchen vom reichen Land erwachen? Dann wird es nämlich offensichtlich, wie schlecht wir in den letzten zehn Jahren gewirtschaftet und unseren Wohlstand auf vielfältige Weise leichtfertig verspielt haben.
Hier meine Gedanken dazu:
Es rumort in Deutschland. Nach zehn Jahren Aufschwung herrscht trotz steigender Einkommen, Rekordbeschäftigung und sprudelnder Steuereinnahmen ein Gefühl der Unzufriedenheit. Deutschland hätte doch allen Grund, ein glückliches Land zu sein. Wir sind es aber nicht, zumindest nicht in dem Maße, wie man es erwarten sollte, wenn man auf die Lage der Wirtschaft blickt.
Die Angst ist zurück
Die „Generation Mitte“, also die 30- bis 59-Jährigen beklagen in einer aktuellen Umfrage des IfD – Institut für Demoskopie Allensbach eine Verschlechterung der Lebensbedingungen.[i] 51 Prozent der Befragten sehen dabei eine Verschlechterung in allen Lebensbereichen: zunehmende Aggressivität im Alltag, abnehmenden gesellschaftlichen Zusammenhalt, zunehmende Fremdenfeindlichkeit und einen immer weitergehenden sozialen Zerfall. Nur 16 Prozent der Befragten gab an, eine Verbesserung der Verhältnisse wahrzunehmen.
Abb. 1: Dokument gesellschaftlichen Niedergangs
Quelle: Allensbach, 2019
Dabei handelt es sich nicht um diffuse Eindrücke, geprägt von den Medien und deren zum Teil dramatisierenden Darstellungen. Es ist auch nicht die Folge von „Filterblasen“ in sozialen Medien, in denen sich immer mehr Menschen befinden.[ii] Es ist die Folge von direkten Erfahrungen der Menschen im Alltag. Im öffentlichen Raum (Straßenverkehr, öffentliche Verkehrsmittel und Plätze, Schulen) und im Internet geben die Befragten an, persönlich Aggressivität erlebt zu haben.
Immerhin Zwei-Drittel der Befragten bemängeln zudem einen abnehmenden gesellschaftlichen Zusammenhalt in den letzten zehn Jahren und halten ihn für „sehr schwach“ (zehn Prozent) oder „eher schwach“ (57 Prozent).
Nun könnte man angesichts dieser Ergebnisse die Schultern zucken und sagen, dass wir es nun mal mit einem gesellschaftlichen Wandel zu tun haben, der normal ist und immer zu entsprechender Unzufriedenheit führt. Man könnte aber auch folgern, dass wir es mit einer Veränderung des gesellschaftlichen Klimas zu tun haben, welches ein düsteres Licht auf die kommende Entwicklung wirft und die ein entschiedenes Gegensteuern erforderlich macht. Niemand sollte sich damit abfinden, dass unsere Gesellschaft als aggressiver, intoleranter und zunehmend gespalten empfunden wird. Finden wir uns damit ab, wird es uns in 20 Jahren nicht besser als heute, sondern deutlich schlechter gehen. Und zwar in jeder Hinsicht.
Ebenfalls bedenklich stimmt, dass 41 Prozent der Befragten ein Abrutschen der Wirtschaft befürchten. Dabei sind die Menschen mit höherer Bildung und Einkommen skeptischer was die Aussichten der Wirtschaft betrifft als der Rest der Bevölkerung. Auch hier lohnt sich ein Blick auf die Gründe, die die Befragten für ihre Skepsis anführen:
Abb. 2: Realistischer Blick auf die Risiken
Quelle: Allensbach, 2019
Die Top 10-Risiken nach Ansicht der Befragten sollten nicht überraschen, widerspiegeln sie die Themen, die auch die öffentliche Diskussion prägen. Andererseits überrascht die Liste dann doch, ist sie doch von erstaunlichem Realismus gekennzeichnet. Die Deutschen sehen die Gefahr für den künftigen Wohlstand sehr klar. Wir können die Antworten nämlich in Gruppen zusammenfassen:
- Demografische Entwicklung und Fachkräftemangel stehen für steigende Belastungen der alternden Gesellschaft und zugleich für die Herausforderung, bei schrumpfender Erwerbsbevölkerung den Wohlstand zu sichern, nicht zuletzt, um den Sozialstaat finanzierbar zu halten.
- Die offensichtlichen Mängel des Bildungssystems verschärfen das demografische Problem, erschweren sie doch den Weg zu höherer Produktivität, dem entscheidenden Schlüssel, um trotz schrumpfender Bevölkerung den Wohlstand zu erhalten.
- Das Verpassen wichtiger technologischer Entwicklungen ist nirgends so schmerzvoll zu beobachten wie in der deutschen Automobilindustrie. Die Bürger ahnen, dass hier ein dramatischer Niedergang zu erwarten ist und Deutschland eine weitere Schlüsselindustrie, in der wir jahrzehntelang dominant waren, zu verlieren droht.
- Die hohen Energiekosten werden als weiteres Risiko angesehen. Zu Recht, hat Deutschland doch schon die höchsten Preise für Energie in Europa und mit die höchsten Preise weltweit.
Während wir es bei den bisher genannten Faktoren selbst in der Hand haben, unser Schicksal zu ändern, hängen wir bei den anderen Risikofaktoren vom Ausland ab. Dies gilt für die Einschränkungen im freien Welthandel (dazu zählt auch der Aspekt der Politik von Donald Trump) ebenso wie für die Risiken aus dem Klimawandel. Zum direkten Risiko wird der Klimawandel eher durch die Schlussfolgerungen, die unsere Politik und Gesellschaft daraus zieht.
Wie richtig die Bürger mit ihrer Einschätzung zu den wirtschaftlichen Aussichten liegen, zeigte sich bereits 2019. Unsere Industrie verzeichnete einen deutlichen Rückgang und es hat nicht viel gefehlt und Deutschland wäre in eine Rezession geschlittert. Verhindert wurde dies nur durch die nach wie vor gute Bau- und Konsumkonjunktur, getrieben vom billigen Geld der EZB und eine Zwischenerholung der Weltwirtschaft, nachdem sowohl in China wie auch in den USA die Notenbanken die Geldpolitik erneut gelockert hatten.
Dass es unter der guten Oberfläche rumort und die Bürger ein gutes Gespür für die Entwicklung haben, zeigt auch eine Studie der Commerzbank vom Januar 2020.[iii] Demnach sank der Anteil der Industrie an der Wertschöpfung bereits seit 2016 von 23 auf nur noch 21,5 Prozent, den tiefsten Stand seit der Finanzkrise. Da diese Entwicklung nur bei uns stattfindet und die Industrie in den anderen Ländern des Euroraums nicht schrumpft, spricht viel dafür, dass es sich um ein hausgemachtes Problem handelt. Der „kranke Mann Europas“, wenig schmeichelhafter Titel Deutschlands Anfang der 2000er-Jahre, scheint zurückzukehren. Besonders ausgeprägt war der Rückgang in der deutschen Automobilindustrie. Gegenüber 2015 ist die Produktion im Inland um zehn Prozent zurückgegangen, während sie an anderen Standorten in Europa und der Welt gewachsen ist. Die Unternehmen stimmen, wie man so schön sagt, „mit den Füßen ab“ und verlagern Geschäft in das Ausland. Wäre der Standort Deutschland gesund, gäbe es keinen Grund, dies zu tun. Die Ursachen sind vielfältig: hohe Steuer- und Abgabenbelastung, immer weiter steigende Energiepreise bei gleichzeitig absehbarer Unsicherheit der Energieversorgung, verfallende Infrastruktur und die von den Bürgern richtig wahrgenommenen Probleme mit Demografie, Bildung und Innovationsfähigkeit.
Tabuthemen sollte es nicht geben
Doch nicht nur diese Umfrage gibt Anlass zur Sorge. Mindestens ebenso besorgniserregend sind Umfragen, die zeigen, dass das Vertrauen in die Medien abnimmt und sich zunehmend ein Gefühl breit macht, die Meinungsfreiheit sei eingeschränkt, zumindest im öffentlichen Raum.
Annähernd zwei Drittel der Bürger sind nach einer Allensbach-Studie davon überzeugt, man müsse heute „sehr aufpassen, zu welchen Themen man sich wie äußert“, denn es gäbe viele ungeschriebene Gesetze, welche Meinungen akzeptabel und zulässig sind. Als „Tabuthemen“ gelten dabei vor allem Zuwanderung und Islam. Zudem kritisieren 41 Prozent, dass die Political Correctness übertrieben werde. 35 Prozent ziehen für sich sogar den Schluss, dass freie Meinungsäußerung nur noch im privaten Kreis möglich sei.
“Viele Bürger vermissen in dem Sinne Respekt, dass sie mit ihren Sorgen und Positionen ernst genommen werden wollen, dass über wesentliche Entwicklungen offen diskutiert wird und sie von erzieherischem Furor verschont bleiben” schrieb Renate Köcher vom Institut für Demoskopie Allensbach in ihrem Gastbeitrag in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung.[iv]
Diese Kritik der Bürger müssen wir ernst nehmen. Sie unterstreicht, dass die Gesellschaft zutiefst gespalten ist. Dazu beigetragen hat zweifellos die Strategie der langjährigen Kanzlerin Merkel, über die asymmetrische Demobilisierung die Unterschiede zwischen den klassischen Parteien zu verwischen. Die CDU wird immer „sozialdemokratischer“ wahrgenommen, was den Niedergang der SPD zusätzlich beschleunigt. Profiteure sind die Grünen und die AfD mit jeweils klaren, jedoch völlig gegensätzlichen Positionen. Dies verschärft die Konflikte und führt zu immer geringerem Denken in langfristig guten Lösungen. Die Kompromissfähigkeit nimmt ab. Ein weiterer Punkt der zur Sorge Anlass gibt. Nur mit einer umfassenden Strategie wird es uns gelingen, den Traum von einem Land zu verwirklichen. Dies setzt Gemeinsamkeit und Kooperation voraus. Vor allem auch die Bereitschaft anzuerkennen, dass es die absolute Wahrheit in diesem Sinne nicht gibt. Es ist nicht schwarz oder weiß. Es ist auch oftmals grau.
Das sollten auch die Medien anerkennen. Als die Studie des Allensbach Instituts erschien, mangelte es nicht an Kritik. Stellvertretend sei an dieser Stelle die ZEIT zitiert: „Es sagt viel über die Macherinnen und Macher der Studie aus, dass sie den Begriff ‘politische Korrektheit’ konsequent ohne Anführungszeichen verwenden; ihn also nicht als das markieren, was er ist: eine von vielen arglosen Zeitgenossen unreflektiert nachgebetete Propagandaformel des rechten Kulturkampfes. Und es sagt viel über die Studie aus, mit welcher Nonchalance Renate Köcher in der F.A.Z. Eliten und Bürger gegeneinander in Stellung bringt. Man würde von einem seriösen Forschungsinstitut erwarten, dass es weder das eine noch das andere tut – weder unreflektiert in seiner Begriffswahl ist, noch das Geschäft des rechten Kulturkampfs gegen die ‘Tugenddiktatur’ des ‘linken Mainstreams’ und seiner ‘Eliten’ betreibt.“ Und weiter: „Doch alarmierend ist hier nichts. Es mag Anzeichen für eine gesteigerte Sensibilität in Teilen der öffentlichen Debatte geben, aber ganz gewiss ist deshalb nicht die Meinungsfreiheit in Gefahr.“[v]
So kann man sicherlich argumentieren. Mir ist es jedoch zu kurz gesprungen. Natürlich kann man erklären, wie es der Kommentator der ZEIT macht, dass es jederzeit möglich ist, alles zu sagen, man müsse dann halt auch die Gegenargumente akzeptieren. Je lautstärker und je ausgrenzender diese Gegenargumente jedoch werden und je mehr sie mit einer gesellschaftlichen Ächtung einhergehen, desto eher überlegt man sich, eine Äußerung überhaupt zu machen. Zum Diskurs gehört dann auch dazu, diese Entwicklung anzuerkennen und nicht zu leugnen und gerade als Medium einen Beitrag zu leisten, zu eben dieser Debattenkultur zurückzukehren. Diese Gelegenheit zu verpassen, wie es die ZEIT hier meines Erachtens getan hat, ist sehr bedauerlich. Stehen wir doch vermutlich vor einer ökonomischen und damit auch gesellschaftlich turbulenten Zeit.
Ohnehin spielen die Medien eine unglückliche Rolle in Bezug auf die gesellschaftlichen Spannungen. „Spätestens seit der Flüchtlingswelle ab 2015 ist es für viele Journalisten wichtiger, die richtige Haltung zu zeigen, anstatt neutral zu informieren“, sagt der Berliner Medienwissenschaftler Norbert Bolz. Die Hamburg Media School hat nachgewiesen, dass „2015 insgesamt 82 Prozent aller Beiträge zur Flüchtlingsthematik positiv konnotiert waren und zwei Drittel die Probleme der Zuwanderung nicht benannt oder bewusst ignoriert haben“. In der Bevölkerung war es genau umgekehrt, was den Vertrauensverlust in deutsche Medien erklärt, wie die Meinungsforscher von Allensbach bereits 2016 ermittelt haben.[vi] Da wundert es nicht, dass der öffentliche Rundfunk in Deutschland überwiegend das Publikum links der Mitte anspricht, eine deutliche Abweichung vom Zuschauerverhalten in anderen europäischen Ländern wie eine vergleichende Studie der Oxford-Universität aufzeigt.[vii]
Dies zu leugnen, mag aus Sicht der Medien die richtige Strategie sein. Aus Sicht der gesellschaftlichen Entwicklung ist es das nicht. Wir brauchen angesichts der Herausforderungen, vor denen wir stehen, eine deutlich intensivere und kontroversere Debatte im Ringen um die geeigneten Antworten.
Die Probleme sind offensichtlich
Die Stimmungslage der Deutschen ist kein Zufall. Entscheidende Themen sind ungelöst und führen zu zunehmenden Spannungen:
- Der soziale Zusammenhalt wird vermisst. Dies beinhaltet Themen von Einkommens- und Vermögensverteilung bis zu steigenden Mieten.
- Die wirtschaftliche Entwicklung schwächt sich ab. Es wird offensichtlich, dass die guten Jahre hinter uns liegen und nicht dazu genutzt wurden, das Land wetterfest zu machen.
- Der demografische Wandel setzt mit voller Wucht in den kommenden 10 Jahren ein, was Fachkräftemangel verstärkt und Sozialkassen belastet.
- Wesentliche Schlüsselindustrien stehen vor existenziellen Herausforderungen und die Innovationskraft ist unzureichend.
- Die Investitionen in Infrastruktur und Qualifikation der nachfolgenden Generation sind unzureichend bzw. bringen nicht die erforderlichen Ergebnisse.
- Die Integration der Zuwanderer gestaltet sich schwierig und wir erleben zunehmend Parallelgesellschaften. Dies begünstigt eine zunehmende Polarisierung der Gesellschaft.
- Die Antworten der Politik auf die Anforderungen des Klimawandels sind ineffektiv, ineffizient und teuer. Sie enttäuschen jene, die sich einen besseren Klimaschutz wünschen und belasten dennoch Private und Wirtschaft deutlich.
- Die EU und die Eurozone bleiben weiter unter Druck, nach Brexit und ohne Antwort auf die existenziellen Fragen: Grenzsicherung und Wohlstandsschaffung
Diese sicherlich unvollständige Aufzählung unterstreicht, vor welchen Aufgaben wir stehen. Vor allem, weil wir mit Blick auf die anderen Länder des Westens zunehmend erleben, wie fragil das soziale Gleichgewicht ist. Zwar haben wir bereits einen Vertrauensverlust in die Medien, zunehmende politische Polarisierung und auch Radikalisierung, jedoch auf einem vergleichsweise tiefen Niveau. Dies zeigt eine Analyse von Ray Dalio, Gründer und Chef des wohl erfolgreichsten Hedgefonds der Welt, Bridgewater[viii]:
Quelle: Bridgewater
Wie in den 1920er-Jahren können wir einen deutlichen Anstieg des Zuspruchs für populistische/Anti-Establishment-Parteien sehen. Blickt man auf die wirtschaftliche Entwicklung der letzten Jahre, kann das nur bedingt überraschen. Während der Zuspruch für die AfD in Deutschland sicherlich mehr mit kulturellen und Identitätsthemen im Zuge der politischen Veränderung der CDU unter Führung von Frau Merkel und mit der Migration zu tun hat, bezweifeln nur wenige Beobachter, dass die Wahl Donald Trumps und der Brexit auch zu einem erheblichen Teil auf die wirtschaftlichen Umstände zurückzuführen sind.
Populismus ist dabei das politische und soziale Phänomen, das auftritt, wenn die Unzufriedenheit der „einfachen Bürger“ überhandnimmt wegen
- einer wahrgenommenen Vermögens- oder Chancenungleichheit;
- empfundener kultureller Bedrohung von Werten im Inland in Konfrontation mit Werten von Fremden;
- abgehobenen Eliten des Establishments, die die Machtpositionen besitzen;
- der Wahrnehmung, dass die Regierung nicht effektiv genug etwas für die Bürgerinteressen tut.
Diese Unzufriedenheit führt zu einem Umfeld, welches den Ruf nach einem „starken Führer“ nährt. Populisten sind dabei eher konfrontativ als kooperationsbereit und eher ausgrenzend als inklusiv. Dies führt dann zu Konflikten zwischen radikalisierten Lagern der Linken und der Rechten innerhalb von Staaten, aber auch zwischen Staaten. Dabei heizen sich die Konflikte immer mehr auf. Eine Abwärtsspirale der politischen Konfrontation droht. Schon bald droht die Situation, dass rechte und linke Radikale gemeinsam so viel Macht haben, dass gegen sie nicht mehr regiert werden kann.
Wohin das führen kann, wissen wir Deutsche aus der Geschichte der Weimarer Republik. Im Januar 2020 war es angesichts der politischen Ereignisse in Thüringen für jeden offensichtlich, wie schnell die Radikalisierung auch im heutigen Deutschland wieder an Fahrt gewinnen kann. Thüringen ist das erste Bundesland, wo die traditionellen Parteien der Mitte – also das Establishment – keine Mehrheit mehr haben. Während SPD und Grüne kein Problem darin sehen, eine Regierung mit der Linkspartei zu bilden, haben FDP und CDU hier mit durchaus berechtigten Gründen, wie ich finde, deutliche Berührungsängste. Zugleich lehnt jede Partei eine Zusammenarbeit mit der AfD ab. Nach der Wahl des FDP-Kandidaten zum Ministerpräsidenten mit Stimmen der AfD konnten wir eine Empörungswelle erleben, die zeigt, wie leicht auf beiden Seiten des politischen Spektrums eine Mobilisierung und eine Radikalisierung erfolgt. Anschläge, Morddrohungen und Hassnachrichten in den sozialen Medien waren an der Tagesordnung.
Ein deutliches Warnzeichen. Wenn wir in Deutschland schon in guten wirtschaftlichen Zeiten eine solche Polarisierung des politischen Spektrums erleben, was droht uns denn erst, wenn die wirtschaftliche Lage kippt?
Es ist leider zu leicht, jetzt ein schlechtes Szenario für unsere Zukunft zu entwerfen – gekennzeichnet von wirtschaftlichem Niedergang, gesellschaftlichen und sozialen Spannungen und politischer Radikalisierung. Der Verlust an Diskursfähigkeit, den wir in den letzten Jahren verzeichnen mussten, sollten beide Lager anerkennen – und vor allem auch die Medien – und versuchen, Brücken zu bauen für gesamtgesellschaftliche Kompromisse.
[ii] Ausführlich mit der Wirkung der veränderten Kommunikationskultur auf die Meinungsbildung und das Meinungsklima beschäftigt sich Henrik Müller, „Kurzschluss Politik – Wie permanente Empörung unsere Demokratie zerstört“, München 2020
[iii] faz.net: „Die schleichende Deindustrialisierung“, 7. Februar 2020