Kein Wandel durch An­näherung

Am 19. Juni 2022 geht es im Podcast um die Frage, ob Freihandel zum Frieden beiträgt oder nicht. Zur Einstimmung ein Beitrag des Deutschlandfunks, der die These grundlegend bezweifelt:

  • Der Krieg hat alles geändert: “(…) alle Versuche der dialogischen Diplomatie im Vorfeld des Feldzuges waren fehlgeschlagen. Vertreterinnen und Vertreter einer westlichen Russland-Politik, die auf Entspannung setzten, werden dafür mitverantwortlich gemacht. Auch vom Politologen Herfried Münkler: Aus seiner Sicht ist die vertrauensorientierte Politik des Prinzips ‘Wandel durch Annäherung’ bei Putin gescheitert. ‘Jetzt allerdings sollte es auch dem Letzten klar geworden sein, dass an die Stelle von Vertrauen und vertrauensfördernden Maßnahmen generalisiertes Misstrauen angezeigt ist.’“ – bto: also die Aussage, dass man eben nicht auf Handel und Annäherung setzen sollte.
  • ‘Wandel durch Annäherung’ lautete die Devise, mit der die Entspannungspolitik vor nunmehr sechzig Jahren auf dem Höhepunkt des Kalten Krieges aus der Taufe gehoben wurde. Ihr Architekt war Willy Brandts Vertrauter Egon Bahr. Das Fundament dafür stammte jedoch aus den USA: ‘Das Ganze ist nur rückgängig zu machen durch Krieg. Und Krieg will niemand’, zitiert Bahr den US-Präsidenten John F. Kennedy.” – bto: Das ist einleuchtend. Man vertritt seine Interessen, respektiert dabei den Einflussbereich des anderen.
  • Zwei Jahre nach dem Mauerbau erläuterte der US-Präsident seine Strategie vor der American University in Washington: ‘Beide, die Vereinigten Staaten und ihre Verbündeten sowie die Sowjetunion und ihre Verbündeten, haben ein gemeinsames tiefes Interesse an einem gerechten und wirklichen Frieden und einer Einstellung des Wettrüstens. Abkommen, die zu diesem Ziel führen, sind im Interesse der Sowjets wie auch in unserem Interesse. Selbst bei den feindlichsten Ländern kann man damit rechnen, dass sie solche vertraglichen Verpflichtungen akzeptieren und einhalten, die in ihrem eigenen Interesse sind.’“ – bto: Es war im Prinzip die Anerkennung des Status quo.
  • Dann kam die Entspannungspolitik: “Die Bilanz konnte sich in der Tat sehen lassen. Der Moskauer Vertrag von 1970 war ein Gewaltverzichtsabkommen auf der Basis der seit 1945 entstandenen Realitäten. Der Warschauer Vertrag erkannte die Oder-Neiße-Linie als polnische Westgrenze an. Das Viermächte-Abkommen über Berlin von 1971 sicherte den freien Zugang zum Westteil der Stadt. Und der Grundlagenvertrag mit der DDR vom Dezember 1972 strebte ‘gutnachbarliche Beziehungen’ an, später flankiert von einem Transitabkommen und einem Verkehrsvertrag.” – bto: Es war letztlich der Versuch, das Leben praktisch zu erleichtern. 
  • Im August 1975 erhielt dieser Entspannungsprozess mit der Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa, die KSZE, in Helsinki einen größeren Rahmen. Während Moskau dort den sowjetischen Machtbereich nach 1945, also gleichsam seine Kriegsbeute, festigen wollte, kam es dem Westen auch darauf an, die Freizügigkeit im Kulturellen und auf dem Bildungssektor vertraglich zu verankern. (…)  Dazu Jan Claas Behrends, Osteuropa-Forscher an der Viadrina in Frankfurt an der Oder: ‘Das Problem begann dann ja nach Helsinki mit dieser Überhöhung der >Wandel durch Annäherungs<-Formel, wo man ja glaubte, auf die Dauer würde sich der Ostblock liberalisieren durch diese Entspannungspolitik, auch innenpolitisch sich liberalisieren, das heißt die Leute würden mehr Freiheiten bekommen in der Sowjetunion und in der DDR, aber auch dauerhaft sich eher integrieren in das Weltsystem, und die Gegnerschaft zum Westen würde sich abbauen. Und dies ist ja genau das, was nicht eingetreten ist.’” – bto: Nein, es musste erst das kommunistische System kollabieren. Es gab keinen Wandel, dem ist zuzustimmen.
  • Denn bis zum Amtsantritt Michail Gorbatschows 1985 hatte die UdSSR zur Entspannungspolitik wenig beigetragen. Mit dem Einmarsch der Sowjettruppen in Afghanistan 1979, mit dem Jaruzelski-Putsch in Polen 1981 oder im Nachrüstungsdrama mit der Stationierung der SS 20 und Pershing 2-Raketen. In den USA unter Ronald Reagan wurde die Sowjetunion wieder wie im kältesten Krieg als ‘Macht des Bösen’ wahrgenommen.” – bto: Es hat also in der Form wirklich nichts gebracht.
  • Die Regierung Kohl setzte die Politik fort. “Derweil betrieb die SPD aus der Opposition heraus, gestützt auf ihre guten Kontakte zur SED, eine sogenannte ‘neben-gouvernementale Außenpolitik’. Sie war getragen von einem fragwürdigen Entspannungsdogma, das da lautete: dem Frieden und dem Überleben der Menschheit hätten sich alle anderen politischen Ziele unterzuordnen, auch die nationale Selbstbestimmung. Damit wurden Systemkritiker als Friedensstörer stigmatisiert. Die einst progressive Neue Ostpolitik hatte sich – vor allem dank der SPD – zu einer strukturkonservativen Veranstaltung zurückentwickelt. Verknöcherten Regimen im Osten nutzte sie. Dennoch mischten sich Egon Bahr und die Seinen, als die Mauer fiel, unter die Sieger der Geschichte.” – bto: Klar, das ist naheliegend.
  • Mit dieser teilweise auf Deutsch vorgetragenen Rede im Deutschen Bundestag löste Wladimir Putin, der neue russische Hoffnungsträger aus Sankt Petersburg am 25. September 2001 Begeisterung unter den Abgeordneten aus. (….)
    ‘Man hat darauf gehofft und vertraut, dass es ein gutes Verhältnis mit Russland gibt. Wir hatten keinen Wandel durch Annäherung, sondern einen Wandel durch Anbiederung erlebt, den Kanzler Schröder betrieben hat.’
    Noch auf der Schlussgeraden seiner Kanzlerschaft besorgte er Russland eine hohe Bürgschaft. Siebzehn Tage nach seinem Ausscheiden aus dem Kanzleramt erhielt er den Chefposten im Aufsichtsrat des Gaspipeline-Unternehmens Nord Stream AG. In der SPD wurde selbst das von vielen als logische Fortsetzung der Entspannungspolitik betrachtet.”
  • “Schröder-Nachfolgerin Angela Merkel hielt am Primat der besonderen Beziehungen zu Russland fest. Trotz des blanken Entsetzens in Europa über die Annexion der Krim 2014 wurde im Jahr darauf der Deal mit der Ostseepipeline Nord Stream 2 vereinbart – gegen alle Bedenken in Osteuropa, vor allem in der Ukraine. Unverdrossen klammerte Merkel sich später an ihre Dialog-Diplomatie (…) ‘Wir wollen gute Beziehungen zu Russland. Und die Zahl der Probleme, die uns beschäftigen, von der Ukraine bis zu Syrien, bis zu der Frage, auch der Zusammenarbeit im wirtschaftlichen Bereich, ist so zahlreich, dass es gerechtfertigt ist, dass man doch in einem permanenten Dialog ist. Und zu all den Themen hat Russland doch einen großen Einfluss. Und wenn wir friedliche Lösungen wollen, muss man das über das Gespräch immer wieder versuchen.’” – bto: Dagegen ist nun mal wirklich nichts zu sagen.
  • So waren die sogenannten ‘Putin-Versteher’ nicht nur unter den ostpolitischen Nostalgikern der SPD anzutreffen, sondern auch in der wirtschaftsfreundlicher orientierten Union mit vielen Kritikern der EU-Sanktionen, ‘ging es dann unter Merkel und für die CSU doch recht pragmatisch wohl eher ums Geschäftemachen bis hin um die Eindämmung von Putin. Das war eine Politik, die Frau Merkel durchgesetzt hat, bis zum Schluss, wo sie in ihrer letzten Legislaturperiode noch konsequent verweigert hat, dass auch nur eine Flinte an die Ukraine geliefert wird.’” – bto: Es ist eine wirtschaftliche Verbindung, die durchaus relevant war. Klar, die Abhängigkeit von russischem Gas ist ein Fehler, ich denke aber, dieser beruht auf der verfehlten Energiepolitik hierzulande. 
  • “(…) Hoffnungen auf einen ‘Wandel durch Handel’ oder gar einer ‘Modernisierungspartnerschaft’ mit Russland war für viele seiner Parteifreundinnen und -freunde stets wichtiger als die Verteidigung des Selbstbestimmungsrechts im bedrohten Nachbarstaat. (…) Doch mit Beginn von Putins Überfall musste auch Steinmeier eine bittere Bilanz ziehen. Es sei eindeutig ein Fehler gewesen, an Nordstream 2 festgehalten zu haben, erklärte der Präsident, und es sei auch ein Fehler gewesen, an ein gemeinsames europäisches Haus und eine gemeinsame europäische Sicherheitsarchitektur unter Einschluss Russlands zu glauben. ‘Zu dieser bitteren Bilanz gehört auch die Fehleinschätzung, dass wir und auch ich gedacht haben, dass auch ein Putin des Jahres 2022 am Ende nicht den totalen, politischen, wirtschaftlichen, moralischen Ruin des Landes hinnehmen würde für seine imperialen Träume oder seinen imperialen Wahn.’” – bto: Den hat er nicht erwartet. Er ging von einer kurzen Operation aus, der der Westen wenig entgegenzusetzen hatte.

deutschlandfunk.de: „Warum die Entspannungspolitik keinen Wandel durch Annäherung brachte“, 24. Mai 2022