„Sparer in der ‚An­lage-Wüste‘“

Wer derzeit Geld anlegen und für das Alter vorsorgen will, findet sich in einer regelrechten ‚Anlage-Wüste‘ wieder. Dies zeigt sich besonders bei Obligationen: Gemäss einer Statistik des Rückversicherers Swiss Re bringen in Europa rund 65 % aller emittierten Staatsobligationen eine Rendite von weniger als 1 %. Ein Viertel der europäischen Staatsobligationen rentiert sogar im negativen Bereich, also unter 0 %. Die Kurse von Aktien haben sich in den vergangenen Jahren dagegen zwar sehr gut entwickelt, Engagements erscheinen aber riskant. Schliesslich dürfte die Hausse der letzten Jahre stark mit der Geldschwemme der Zentralbanken zusammenhängen, und die dadurch ausgelöste Inflation der Vermögenspreise wird kaum nachhaltig sein. Die herrschende Geldflut hat in den vergangenen Jahren auch zu immer höheren Immobilienpreisen geführt. Die Preise für Liegenschaften in der Schweiz befinden sich nun gemäss Branchenindizes aber in zahlreichen Regionen in der Risikozone. Viele Sparer und Anleger sind deshalb sehr zurückhaltend und lassen grosse Summen einfach auf dem Konto liegen, anstatt diese anzulegen.

Heimlich enteignete Bürger

Der Franken-Schock, also die Aufhebung der Mindestgrenze des Euro zum Franken durch die Schweizerische Nationalbank am 15. Januar dieses Jahres, hat die Geldanlage für Schweizer noch erschwert. Die Dürre bei den Anlagemöglichkeiten ist aber in erster Linie die Folge einer internationalen Entwicklung, die unter dem Namen finanzielle Repression bekannt ist.

Diese hat viele Aspekte. Der wichtigste und bereits stark spürbare Effekt ist das extrem niedrige bis sogar negative Zinsniveau. So werden Sparer bereits seit Jahren heimlich um Renditen auf ihre Ersparnisse gebracht. Die jüngsten Krisen in Griechenland und Zypern haben derweil gezeigt, was in nächsten Phasen der Krise auch in anderen Ländern drohen könnte: Dazu gehören beispielsweise Kapitalverkehrskontrollen oder Einschränkungen beim Zugang zu Konten und Schliessfächern bei Banken. Höhere Steuern auf Spareinlagen, wie beispielsweise Spanien sie eingeführt hat, zählen ebenfalls zur finanziellen Repression. In Ländern wie Italien kommt es längst zu Einschränkungen beim Bargeldverkehr, wenn auch unter dem Deckmantel der Geldwäscherei-Bekämpfung. Der Internationale Währungsfonds (IMF) hat bereits über die Möglichkeit einer einmaligen, zehnprozentigen Abgabe auf alle Vermögen des Privatsektors diskutiert, um der Schuldenkrise zu begegnen. Da ein Ende der Schuldenwirtschaft von Staaten und Banken nicht absehbar ist und der „Schuldenturm“ sogar weiter wächst, werden solche politischen Massnahmen mehr und mehr salonfähig, um ein Einstürzen desselben zu verhindern. Für Sparer und Anleger sind das schlechte Aussichten.

Die Zinsen könnten gar nicht steigen, solange das Verschuldungsproblem nicht gelöst sei, sagt Daniel Stelter, ehemaliger Unternehmensberater und Autor mehrerer Bücher zur Schuldenkrise. Er beschreibt die Situation mit folgendem Bild: Um den riesigen, zunehmend wackligen „Schuldenturm“ zu stabilisieren, gössen die Zentralbanken mit ihrer expansiven Geldpolitik unten Zement hinein. Gleichzeitig bauten Staaten und Private oben aber immer weitere „Schulden-Stockwerke“. Derzeit sei in Europa eine gewisse konjunkturelle Erholung zu beobachten, diese basiere aber vor allem auf Kreditwachstum. Da die Politik sich weigere, das Problem direkt anzugehen, dürften Regierungen aus Stelters Sicht zu noch drastischeren Massnahmen der finanziellen Repression greifen, wenn die Konjunktur nachlässt. Er erwartet beispielsweise noch tiefere Negativzinsen und Einschränkungen beim Bargeldverkehr in europäischen Ländern. So könnten dann beispielsweise Waren nur noch bis zu gewissen Summen mit Bargeld bezahlt werden, auch seien Restriktionen bei den Grössen von Geldscheinen denkbar.

Negativzinsen als „Steuer“

Letztlich ist das dahinterstehende Ziel, die Bürger stärker zu kontrollieren und im Falle noch tieferer Negativzinsen zu verhindern, dass die Sparer in Massen ihr Geld bei den Banken abheben. Der Wille der staatlichen Akteure sei es, Sparer und Wohlhabende daran zu hindern, ihre Vermögen zu retten, diese aus dem System zu schaffen oder in andere Länder zu bringen, sagt Stelter. Negativzinsen seien eine Art Steuer, mit der Geld von Sparern zu Schuldnern umverteilt werde.

Auch Philipp Vorndran von der Vermögensverwaltungsgesellschaft Flossbach von Storch sieht in den kommenden Jahren keine Entspannung beim Zustand der Staatsfinanzen. So rechnet er damit, dass die finanzielle Repression in Europa, Japan und den USA weiter zunimmt. Es würde ihn auch nicht überraschen, wenn die Politik künftig – im Namen der „sozialen Gerechtigkeit“ – die Vermögen und Einkünfte der Wohlhabenden noch stärker zur Melkkuh der Umverteilung machen würde. Eines der Argumente hierfür könnte sein, dass diese Bevölkerungsgruppe besonders von der expansiven Geldpolitik der vergangenen Jahre profitiert hat. Schliesslich haben sich die Kurse von riskanten Anlagen wie Aktien, Immobilien oder sonstigen Sachwerten, die bei Wohlhabenden stärker verbreitet sind als beim risikoaversen Durchschnitt der Bevölkerung, in den vergangenen Jahren sehr gut entwickelt.

Dafür, dass die finanzielle Repression und die damit verbundene Schmälerung von Vermögen auch in den kommenden Jahren anhält, spricht auch die Tatsache, dass sie ein Instrument darstellt, um Staatsschulden abzubauen. Wie eine Statistik von Swiss Re auf Basis von Zahlen der Bank für Internationalen Zahlungsausgleich zeigt, trug sie massgeblich dazu bei, dass die Staatsverschuldung in den USA im Zeitraum 1945 bis 1955 von 116 % des Bruttoinlandprodukts (BIP) auf 66 % fiel. Ohne finanzielle Repression hätte der Wert 1955 gemäss den Schätzungen 144 % betragen. Ein Index des Rückversicherers zeigt, dass sich die finanzielle Repression zurzeit weiterhin auf hohem Niveau bewegt.

Swiss Re warnt vor den Nebenwirkungen der ultraexpansiven Geldpolitik der Notenbanken. Solch expansive Massnahmen wie derzeit wären aus Sicht des Anlagechefs des Unternehmens, Guido Fürer, allenfalls in einer grossen Krise angebracht – als Krisenmanagement, aber nicht für deren Lösung. Die Kosten der finanziellen Repression dürften mittlerweile deutlich grösser als der Nutzen sein.

Gefahren der Entwicklung

Aufgrund der repressiven Politik werden Gelder in Märkte geleitet, in die sie normalerweise nicht fliessen würden. Dies führt zu Ungleichgewichten. Die Finanzmärkte können ihre „Urfunktion“, Kapital dorthin zu bringen, wo es am effizientesten arbeitet, unter diesen Umständen kaum mehr erbringen. Ausserdem drohten durch diese Politik Blasen in gewissen Anlagemärkten zu entstehen. Dies dürfte mittel- bis längerfristig erhebliche Folgen für die Altersvorsorge der Bürger haben.

Die Verpflichtungen von Pensionskassen sind laut Fürer im vergangenen Jahr bereits sehr stark gestiegen. Schon heute müssen Bürger deutlich mehr einzahlen, um dieselbe Rente wie früher zu erhalten. Eine grobe Rechnung zeigt, dass infolge der niedrigeren Zinsen ein 50-jähriger Schweizer bereits gegenwärtig rund 700 Fr. monatlich mehr sparen müsste, um ab dem Ruhestand über 30 Jahre hinweg eine monatliche Rente von 3000 Fr. zu erhalten.

Ausserdem haben die Vorsorgeeinrichtungen zunehmend schlechtere Chancen, die zur Erfüllung ihrer Verpflichtungen nötigen Erträge zu erzielen. Bleiben die Zinsen auf den ultraniedrigen Niveaus, dürfte dies nachhaltig negative Folgen für die Marktwirtschaft haben. Zudem werde das Wirtschaftswachstum gebremst, sagt Fürer. Realisierten die Bürger, dass ihre Altersvorsorge wacklig werde, sparten sie noch mehr als zuvor.

→ NZZ: Ökonom: „Sparer in der ‚Anlage-Wüste‘“, 19. September 2015“