„Rückschlag im globalen Wirtschaftskrieg“
Der Schaden, den Volkswagen mit seinem groß angelegten Betrug angerichtet hat, geht weit über das Unternehmen hinaus. Noch können wir hoffen, dass es sich bei VW um einen Einzelfall handelt, fürchten müssen wir jedoch mehr. Dabei ist die Autoindustrie als Rückgrat der deutschen Wirtschaft ohnehin von einem Umbruch historischen Ausmaßes bedroht. Geändertes Konsumentenverhalten, neue Technologien und gänzlich neue Wettbewerber gefährden die deutsche Vorzeigebranche mehr, als diese und vor allem die breite Bevölkerung es wahrhaben will.
Industrien aus der Kaiserzeit
Ohnehin offenbart ein nüchterner Blick auf die Industriestruktur Deutschlands eine Abhängigkeit von Industrien, die es bereits zu Zeiten des letzten deutschen Kaisers gegeben hat: Automobil-, Maschinen- und Anlagenbau, Elektrotechnik und Chemie als besonders prominente Beispiele. Branchen, in denen Deutschland ebenfalls eine Vorreiterrolle gespielt hat, werden mittlerweile von anderen Ländern beherrscht, erinnert sei an Unterhaltungselektronik, Fotografie und Pharma.
Industrien aus dem Kaiserreich
Der Computer wurde zwar in Berlin erfunden, beherrscht wird die Branche jedoch von Konzernen aus den USA, Japan und China. Neue Branchen entwickeln sich in Deutschland nur schwer und nur selten gelingt es hiesigen Unternehmen, eine dauerhafte Position zu erreichen wie SAP im Bereich der Unternehmenssoftware. Die Solarindustrie, mit Milliardensubventionen gepäppelt, wird mittlerweile von China dominiert und den dauerhaften Erfolg muss die Umwelttechnologie noch beweisen.
Wir waren sehr gut in der Verteidigung unserer Position in einigen Industrien und damit weitaus anpassungsfähiger und erfolgreicher als andere Länder.
In vielen Branchen, gerade auch in der Automobilindustrie, suchen deutsche Firmen die Zukunft in noch besserer Technologie und noch höherwertigen Produkten, streben also in das Premiumsegment. Dies hat in der Vergangenheit nicht selten nur für eine Übergangsphase funktioniert, weil das wegbrechende Massengeschäft zu überproportionalen Kostennachteilen geführt hat und die Wettbewerber über Zeit nicht nur das Massengeschäft beherrschten, sondern auch bei den höherwertigen Produkten mithielten. Ich denke hier vor allem an die optische Industrie. Es mag sein, dass uns dieses Schicksal in den verbliebenen Schlüsselindustrien erspart bleibt – sicher ist das keineswegs.
Unabhängig davon macht diese Abhängigkeit von bestehenden Industrien und geringe Fähigkeit zur Entwicklung neuer anfällig für Schocks und Strukturbrüche, die von Skandalen wie dem von Volkswagen beschleunigt werden. Denn sie passieren in einem Umfeld, in dem die deutsche Wirtschaft weltweit mit zunehmendem Unbehagen und teils offener Feindseligkeit gesehen wird.
Gegen den Exportweltmeister
Die ausländische Presse schlägt in der VW-Affäre einen sehr kritischen Ton an, der ein deutsches Muster erkennen will. So erinnert Ambroise Evans-Pritchard, der prominente Kolumnist des britischen The Telegraph, nicht nur an die Rotlichtaffäre bei VW, sondern geht vertieft auf die Schmiergeldaffäre von Siemens ein. Er betont die Tatsache, dass Schmiergeldzahlungen im Ausland lange Zeit in Deutschland straffrei waren, und leitet daraus ab, dass Deutschland zwar auf die Einhaltung des Rechts in den europäischen Verträgen pocht, es aber, wenn es um die eigenen wirtschaftspolitischen Interessen geht, mit Recht und Gesetz nicht so genau nimmt.
Heißt im Klartext: Deutschland ist egoistisch, spielt faul und tritt zugleich lehrmeisterlich gegenüber anderen auf, sei es bei Euro-Rettung oder mit dem einseitigen Vorpreschen in der Flüchtlingsfrage.
Damit wird die eigentliche Gefahr der VW-Krise für die deutsche Vorzeigebranche und die gesamte deutsche Volkswirtschaft deutlich. Es geht in der heutigen Zeit nicht um das Fehlverhalten einzelner Unternehmen, sondern um den Kampf ganzer Volkswirtschaften gegeneinander. Seit langem werden die deutschen Handelsüberschüsse kritisiert. Nicht nur die Euro-Länder sehen darin eine egoistische Politik zu ihren Lasten.
Führende Ökonomen wie der frühere US-Notenbankchef Ben Bernanke und der ehemalige US-Finanzminister Larry Summers sehen sie gar als eine Hauptursache von Finanzkrise und globalen Ungleichgewichten. Dies ist zwar falsch, zeigt aber, welches Konfliktpotenzial diese Überschüsse in einer Zeit schwachen globalen Wachstums und hoher Verschuldung haben. Alle Regionen der Welt suchen verzweifelt Wachstum, um sich aus der Überschuldung zu befreien und eine Euro-Zone die – maßgeblich von Deutschland getrieben – der Welt Kaufkraft in der Größenordnung der argentinischen Volkswirtschaft entzieht, muss sich nicht wundern, im Fokus der Kritik zu stehen.
Bis jetzt haben die einzelnen Regionen versucht, durch die Schwächung der eigenen Währung einen Vorteil zu erzielen. Den Anfang machten die USA im Zuge der Finanzkrise, nun sind mit Japan, Europa und demnächst wohl auch China andere Regionen in diesen Währungskrieg eingestiegen. Per Definition kann diesen keiner gewinnen, es ist ein gemeinsamer Wettlauf nach unten.
Umso besser also, wenn es andere Möglichkeiten gibt, den Wettbewerb zu schwächen. Hier zeigt sich, welches dramatische Eigentor Volkswagen für uns alle geschossen hat. Erstmals lässt sich die deutsche Vorzeigebranche ausbremsen, indem man den Nimbus der technischen Überlegenheit zerstört.
Umweltschädliche Fahrzeuge sind ein überzeugendes Argument, um gegen die Branche vorzugehen und damit den deutschen Export zu treffen. Unsere Wettbewerber werden sich eine solche Steilvorlage nicht entgehen lassen. Die französischen Linken sind wahrlich nicht die einzigen, die lauthals fordern, dass „die Arroganz und Unanfechtbarkeit des ‚Made in Germany‘ ein Ende haben müsse“. Ohne gegen die Regeln des offenen Handels zu verstoßen, kann man nun ganz legal gegen die unliebsame Konkurrenz aus Deutschland vorgehen.
Die deutsche Wohlstandsillusion
Dabei sind wir selbst schuld an den Ungleichgewichten im Handel. Zu sehr haben wir in den letzten Jahrzehnten auf den Export gesetzt. Damit sind wir nicht nur von wenigen Schlüsselindustrien abhängig, sondern im besonderen Maße vom Gesundheitszustand der Weltwirtschaft.
Letztere ist spätestens seit der Krise 2009 massiv angeschlagen, wenngleich wir bis dato davon wenig gespürt haben; dem chinesischen Kreditboom sei Dank. Nun, wo dieser lautstark in sich zusammenbricht, droht uns ein Schock, zusätzlich verstärkt durch mehr oder weniger offene Handelshemmnisse. Der Skandal liefert da gefährliche weitere Munition.
Es gehört wenig Fantasie dazu, die kürzlich vorgelegten optimistischen Konjunkturprognosen in den Müll zu werfen. Eine Rezession 2016 ist in der Mischung aus globalen Ungleichgewichten, ungelösten Schuldenproblemen, zunehmenden Spannungen zwischen Regionen und Ländern und der hausgemachten Torpedierung der Schlüsselindustrie wahrscheinlicher als eine Fortsetzung des Aufschwungs.
Dann werden wir auch erkennen, auf welchem tönenden Fundament unser Wohlstand ruht und dass wir keineswegs die unbegrenzte Finanzkraft haben, die wir und andere bei uns vermuten. Dann wird sehr deutlich werden, dass das Geld eben nicht da ist, im Unterschied zu dem, was uns die Medien gerade auch mit Blick auf die Flüchtlingskrise einreden wollen.
Nur zur Erinnerung: Die ungedeckten Versprechen für Renten, Pensionen und Gesundheitsleistungen wurden schon vor den jüngsten „Reformen“ der Bundesregierung auf 400 Prozent des BIP geschätzt, die Energiewende schlägt mit einer weiteren Billion zu Buche, die Euro-Krise dürfte letztlich ein bis zwei Billionen kosten und die Flüchtlingskrise droht, wie ich an dieser Stelle vor einigen Wochen vorgerechnet habe, ebenfalls zu einer Billionenlast zu werden.
Große Beträge für eine Volkswirtschaft, deren Erwerbsbevölkerung schrumpft und die von wenigen Industrien abhängig ist, die vor erheblichen Strukturbrüchen stehen. Schon ohne VW-Skandal besorgniserregend.
→ manager-magazin.de: „Rückschlag im globalen Wirtschaftskrieg“, 24. September 2015