Blut­trans­fusionen und 100 Pillen am Tag für das ewige Leben

Wer heute auf einer Party das Wort „Longevity“ fallen lässt, stößt auf offene Ohren – zumindest in meiner Altersgruppe. Die einen zählen Schritte, die anderen Kalorien, wieder andere Pillen. Wearables, Bluttests, Eisbäder: Die Optimierungsmaschinerie läuft auf Hochtouren.

Und während ich mich noch mit Sport und Ernährung begnüge, treiben es andere auf die Spitze – wie Tech-Multimillionär Bryan Johnson, der sich mit Bluttransfusionen und 100 Pillen am Tag zum „nächsten Evolutionsschritt“ erklärt. Er investiert zwei Millionen Dollar pro Jahr für das Ziel, nicht zu sterben. Longevity ist längst ein Big Business.

Doch was steckt hinter dem Hype? Die Zahlen sind beeindruckend: Mehr als 500.000 Menschen weltweit sind über 100 Jahre alt, Tendenz steigend. In Deutschland hat sich die Zahl der Hundertjährigen in den vergangenen zehn Jahren um ein Viertel erhöht. In Japan, Frankreich und Italien ist das lange Leben fast schon Normalität. Die Lebenserwartung steigt, und mit ihr die Hoffnung, dass die zusätzlichen Jahre am Ende nicht nur drangehängt, sondern aktiv und gesund verbracht werden können.

Die Longevity-Industrie verspricht, dass wir mit der richtigen Kombination aus Verhalten, Medikamenten und bald wohl auch mit biotechnologischen Eingriffen nicht nur älter, sondern auch gesünder alt werden könnten. Die Medikamente Metformin und Rapamycin, ursprünglich gegen Diabetes und zur Immunsuppression entwickelt, werden von Pionieren längst als Anti-Aging-Mittel getestet.

Senolytika sollen alternde Zellen gezielt abräumen. Und die Forschung an epigenetischer Verjüngung verspricht, die Uhr der Zellen zurückzudrehen. Künstliche Intelligenz (KI) hilft dabei, Biomarker des Alterns zu identifizieren und personalisierte Präventionsstrategien zu entwickeln – ein Quantensprung für die Medizin.

Die Folge ist ein Milliardenmarkt. Venture Capital fließt in Start-ups, die das Altern als behandelbare Krankheit sehen. Nahrungsergänzungsmittel boomen, Longevity-Podcasts erreichen ein Millionenpublikum. Was einst als Spleen der Superreichen galt, ist zum Wirtschaftsfaktor geworden – und zum Hoffnungsträger für eine alternde Gesellschaft.

Unternehmen bieten „Longevity-Programme“ für Führungskräfte an, Versicherungen experimentieren mit neuen Tarifen, und sogar Regierungen diskutieren, wie sie den Trend nutzen können.

Doch so faszinierend die Vision ist: Die gesellschaftlichen Folgen sind enorm. Wenn das einhundertste Lebensjahr zur Norm wird, geraten unsere Sozialsysteme unter Druck. Wer finanziert die längeren Ruhestände? Wie gestalten wir Arbeit, wenn das „dritte Lebensalter“ Jahrzehnte umfasst? Und wie verhindern wir, dass Langlebigkeit zur Frage des Geldbeutels wird?

Schon heute sind die Unterschiede bei der Lebenserwartung zwischen Arm und Reich, Stadt und Land, Bildungsschichten frappierend. Die Gefahr wächst, dass sich die Schere weiter öffnet und Langlebigkeit zum Privileg wird.

Wir müssen uns grundlegende Fragen stellen: Wie sieht ein erfülltes Leben im hohen Alter aus? Wie bleibt gesellschaftlicher Zusammenhalt bestehen, wenn sich Generationenverhältnisse verschieben? Welche Rolle spielen Bildung, lebenslanges Lernen und gesellschaftliches Engagement, wenn die Lebensarbeitszeit neu definiert werden muss? Und wie begegnen wir den ethischen Herausforderungen, die mit neuen Technologien einhergehen?

Die Longevity-Revolution ist mehr als ein Modetrend. Sie zwingt uns, über die Grundlagen unseres Zusammenlebens neu nachzudenken. Über Generationenverträge, über das Verhältnis von Arbeit und Ruhestand, über Gesundheit und Pflege. Sie bietet Chancen – für ein erfülltes, aktives Alter, für neue Lebensentwürfe, für gesellschaftliches Engagement. Aber sie verlangt auch Antworten auf Fragen, die wir uns bislang kaum gestellt haben.

Wer länger lebt, muss auch länger vorausdenken. Das gilt für jeden Einzelnen – und für die Politik. Und schon wieder gilt: Die Zeit läuft.