Strukturelles Staats­versagen – ein Update im Bayeri­schen Rundfunk

Heute Morgen habe ich im Bayerischen Rundfunk (BR) ein Interview gegeben. Der Anlass ist zwei Jahren Corona und meine vor fast einem Jahr gemachte Aussage – die auch hier umstritten war und ist –, dass es sich um Staatsversagen handelt.

Die Morgensendung mit dem Interview “Zieht die Politik (die richtigen) Lehren aus der Corona-Pandemie?” ist auf der App des BR nachzuhören.

Hier nun der Link zu meinen Thesen vom letzten März:

Strukturelles Staatsversagen

Die Anfrage des BR war ein Grund für mich, meine Gedanken nochmals zu sortieren. Vorweggeschickt sei, ich habe meine Meinung nicht geändert.

Zunächst die Fakten:

Quelle: → Economist

Was sieht man?

  • Deutschland hat eine relativ zu Großbritannien 57%ige geringere „Übersterblichkeit“. Dies zeigt, dass wir es besser gemacht haben.
  • Deutschland hat allerdings relativ zu Schweden eine 16%ige höhere Übersterblichkeit. Was zeigt, andere haben es besser gemacht.

Was sieht man nur schlecht, aber hier besser?

Quelle: → Economist

  • Man sieht, dass Schweden wie auch UK ihre Übersterblichkeit in der ersten Welle hatten. Wir hatten sie in der 2. und der 3. Welle. Damit nähern wir uns meinem Punkt des Staatsversagens. Denn in der ersten Welle hatten wir einfach Glück. Wenn ich wohlwollend sein möchte, kann ich auch sagen, zu dem Zeitpunkt hat die Politik richtig und vor allem schnell gehandelt.

Angesichts Ausgaben für das Gesundheitssystem kein besonders gutes Ergebnis

Immerhin leisten wir uns schon seit Jahren eines der teuersten Gesundheitssysteme der Welt:

Ausgaben Gesundheitswesen und Lebenserwartung

 

Land

 Gesundheitsausgaben/Kopf

 Lebenserwartung

USA

9.870 USD

78.81

Schweiz

7.867 USD

83.56

Norwegen

6.203 USD

82.18

Deutschland

5.463 USD

81.10

Schweden

5.387 USD

82.57

Irland

5.300 USD

82.05

Österreich

5.295 USD

81.35

Niederlande

5.251 USD

82.06

Dänemark

5.093 USD

80.68

OECD -Länder

5.041 USD

Frankreich

4.782 USD

82.46

Kanada

4.718 USD

82.22

Belgien

4.668 USD

81.39

Japan

4.592 USD

84.43

Australien

4.530 USD

83.20

Eurozone

4.273 USD

Großbritannien

4.178 USD

81.15

Finnland

4.112 USD

81.64

EU

3.846 USD

Neuseeland

3.665 USD

82.06

Italien

3.427 USD

83.28

Spanien

3.260 USD

83.36

Portugal

2.778 USD

81.75

Süd-Korea

2.712 USD

82.77

Griechenland

2.261 USD

81.98

Quellen:→ The World Bank Data, “Current Health Care Expenditures per Capita (PPP) und → Statistic Times, “List of Countries by Life Expectancy”

  • Wir geben pro Kopf der Bevölkerung 30 % mehr für Gesundheit aus als die Briten.
  • Die Lebenserwartung in Großbritannien liegt auf unserem Niveau.
  • Die Schweden geben ungefähr so viel aus wie wir mit einer etwas höheren Lebenserwartung.

Und wir haben  so viele Intensivbetten wie niemand sonst.

Intensivbetten/100.000 Einwohner

Quelle: OECD

  • Und zwar konkret drei Mal so viel wie die Briten.
  • Die Schweden habe ich nicht gefunden, aber noch diese Information:

Akutbetten/1.000 Einwohner

Quelle: OECD

Fazit

Wir hatten die allerbesten Voraussetzungen, sehr gut durch die Pandemie zu kommen.

Und: Die zweite und dritte Welle war bei uns so tödlich. Und das war so nicht nötig.

Ursachen

Staatsversagen 1. Welle
1.     Pandemie-Plan nicht umgesetzt
  • Bereits im Jahr 2012 wurde eine von der Bundesregierung beauftragte „Risikoanalyse im Bevölkerungsschutz“ erarbeitet und in diesem Zusammenhang ein Szenario zum Umgang mit einer „Pandemie durch Virus Modi-SARS“ erstellt.
  • Die Behörden in Bund und Ländern hätten vorbereitet sein können, noch bevor das Coronavirus in Deutschland auftrat – oder spätestens beim ersten Fall. Das waren sie nicht und dies, obwohl wir bei Corona im Unterschied zum simulierten Szenario mehr Vorlauf hatten.
  • Wir konnten in Italien beobachten, was passiert.
  • Weder wurden aus der Studie von 2012 die richtigen Schlussfolgerungen gezogen – Beschaffen von Masken und Schutzausrüstung!
  • Noch hielt man sich in der Anfangsphase an den eigenen Plan. Ergebnis: Hektik und Planlosigkeit statt Führung.
2.     Panik
  • In der Folge wurde der Export von Sicherheitsausrüstung und Masken in Nachbarländer wie die Schweiz und Italien verboten.
  • Von der viel gepriesenen europäischen Solidarität war plötzlich keine Rede mehr und der Schaden für das deutsche Ansehen – beispielsweise in Italien – dürfte nachhaltig sein und uns teuer zu stehen kommen.
  • Es ist ein klassisches Beispiel für einen kurzfristigen politischen Nutzen – man demonstriert der Bevölkerung Handlungsfähigkeit und gibt vor, die Interessen der Bürger zu vertreten –, mit dem man vom eigenen Versagen ablenken will.
3.     Funktionslose Corona-App (Datenschutz)
  • Vorbilder für die Effektivität von Warn-Apps finden sich in Asien, beispielsweise in Südkorea, das die Pandemie deutlich besser unter Kontrolle hat.
  • Die daraufhin für über 20 Millionen Euro entwickelte „Corona-Warn-App“ ist ein Rohrkrepierer.
  • Nicht zuletzt wegen des Datenschutzes setzt sie viele manuelle Eingriffe und Zustimmungen voraus, die letztlich dazu führen, dass sie kaum praktischen Nutzen hat.
  • Der Philosoph Julian Nida-Rümelin ist nicht der Einzige, der die Frage aufgeworfen hat, ob es wirklich sinnvoll ist, den Datenschutz als Grundrecht höher zu werten als das Recht auf körperliche Unversehrtheit und freie Lebensentfaltung.
4.     Masken: spät – teuer – korrupt
  • Masken können einen wichtigen Beitrag zum Eindämmen der Pandemie leisten.
  • Zunächst – als die Lager leer waren, siehe Punkt 1 – meinte die Regierung, diese seien ohnehin nutzlos, um dann, als die Lager gefüllt waren, das Gegenteil zu erzählen.
  • Als man feststellte, dass die selbst genähten „Alltagsmasken“ doch nicht genügen, verteilte man FFP2-Masken per Gutschein an rund 34 Millionen Bürger.
  • Abgesehen von den aberwitzigen Kosten des Druckens von fälschungssicheren Gutscheinen und ihres Versands stieß der überaus großzügige Preis von sechs Euro pro Maske bitter auf – gab es sie doch im Handel für weniger als einen Euro.
  • Allein die Kosten für diese Aktion übersteigen das Anfangsbudget der EU für die Beschaffung von Impfstoffen!
  • Als wäre das zum Thema „Masken“ nicht schon genug, häufen sich die Geschichten überteuerter Einkäufe und es gibt Hinweise auf persönliche Bereicherung.
Staatsversagen 2. & 3. Welle
5.     Testen: spät – konzeptlos
  • Schon im Frühjahr 2020 war offensichtlich, dass in umfangreichen Tests ein wesentlicher Schlüssel liegt, die Pandemie unter Kontrolle zu bekommen.
  • Das war ebenfalls in Asien gut zu beobachten.
  • Nach anfänglichen Schwierigkeiten waren einfache Tests seit spätestens Oktober 2020 breit verfügbar.
  • Die Regierung hätte durch frühzeitige Beschaffung und Abnahmegarantien die Produktionskapazitäten für Schnelltests erhöhen können. Ökonomen rechnen vor, dass mit einer Teststrategie ein zweiter Lockdown nicht notwendig gewesen wäre und dies zu einem Bruchteil der Kosten.
  • Obwohl die Tests bereits seit Oktober 2020 verfügbar waren und Vorbilder wie Tübingen diese seither umfangreich einsetzen, dauerte es bis März 2021, bis diese Tests eine bundesweite Zulassung bekamen. Wer dann glaubte, es ginge sofort los, wurde wiederum enttäuscht: Der Staat versagt bei der Beschaffung und setzte eine Beschaffungstaskforce ein.
6.     Schutz der Risikogruppen
  • Corona wütet vor allem bei den Alten und hier besonders bei denen, die sich bereits in der Obhut öffentlicher Einrichtungen befinden, also in Alten- und Pflegeeinrichtungen.
  • Statt den Sommer 2020 zur Vorbereitung auf eine zweite Welle zu nutzen, hat die Politik kein funktionsfähiges Konzept zum Schutz dieser Risikogruppen erarbeitet und durchgesetzt.
  • Obwohl es funktionierende Vorbilder gab, setzte man keine konsequenten Maßnahmen um. So wäre es problemlos möglich gewesen, jeden, der ein Heim betritt, an jedem Tag zu testen.
  • Die Tests waren verfügbar, man hätte sie nur kaufen müssen. Das dafür erforderliche Personal hätte man im Sommer beschaffen und ausbilden können.
  • Hätten wir diesen Schutz umgesetzt, hätten wir auf einen zweiten Lockdown verzichten können.
  • Im Herbst 2021 wiederholte sich die Geschichte (auf etwas tieferem Niveau).
7.     Kein Lernen von Best-Practice
  • Die Politik sonnte sich in dem relativ guten Verlauf der ersten Welle, in der wir vor allem Glück hatten – und lernte nicht von erfolgreichen Vorbildern.
  • Taiwan und Korea wurden als „Inseln“ abgetan, deren „Kultur auch eine andere sei“.
  • Den Bürgermeister von Rostock kritisierte man stattdessen wegen seiner (letztlich sehr erfolgreichen!) Teststrategie.
  • Boris Palmer, dem ebenfalls erfolgreichen Bürgermeister von Tübingen, wurde Zynismus vorgeworfen, weil er sich traute, auf die erheblichen Kosten der „mittelalterlichen“ Lockdown-Maßnahmen hinzuweisen.
8.     Versagen beim Einkauf von Impfstoff
  • Es hätte sich gelohnt, bei allen Anbietern für alle Bürger der EU zu kaufen.
  • Die Kosten hätten bei maximal 40 Milliarden Euro gelegen, was dem ökonomischen Schaden des Lockdowns in Europa von etwa zwei Wochen entspricht. Ein Taschenrechner hätte genügt, um dies zu erkennen.
  • Stattdessen hat eine völlig überforderte EU-Kommission auf Einkaufspreise und regionale Balance der Lieferanten geachtet. Und dies unter der Aufsicht der deutschen Ratspräsidentschaft.
  • Die Folge: Der Impfstoff kam später und war zu Beginn nicht ausreichend vorhanden.
9.     Kein Kapazitätsaufbau der Produktion
  • In die gleiche Kategorie fällt das Versagen beim Schaffen ausreichender Produktionskapazitäten.
  • Bill Gates wies bereits im April 2020 auf die einfache Tatsache hin, dass wir sofort anfangen sollten, Produktionskapazitäten für Impfstoffe zu schaffen. Während andere Länder wie Großbritannien sich frühzeitig darum bemühten, hielt es das deutsche Wirtschaftsministerium für nicht erforderlich, sich darum zu kümmern.
  • Dies ist unerklärlich angesichts der gigantischen Mengen, die weltweit benötigt werden, um zu impfen und ein klassischer Bereich, in dem der Privatsektor angesichts der erheblichen Risiken nicht allein die Kapazitäten aufbauen kann.
10.  Wasserpistole statt Bazooka
  • Kann man holprigen Start im Frühjahr 2020 noch verzeihen, so sind die Probleme mit den Hilfsmaßnahmen ab November 2020 eindeutig eine Folge unzureichender Vorbereitung seither.
  • Die Klagen weiter Teile der Wirtschaft über ungenügende und über bürokratische Hilfe waren berechtigt.
  • Es wäre nämlich problemlos möglich gewesen, die Hilfen über das Finanzamt zu organisieren. Keine Behörde arbeitet so effizient und effektiv und kennt vor allem die Steuerzahler. Wie das organisiert werden könnte, habe ich bereits vor einem Jahr gezeigt.
Staatsversagen 4. & aktuellen Welle
11.  Versagen bei der Impfkampagne
  • Verunsicherung der Bevölkerung
  • Astra nur für unter 65-Jährige
  • Astra nur für über 65-Jährige
  • Astra gar nicht.
  • Astra begrenzt wirksam …
  • Keine aktive Mobilisierung und Aufklärung, nach dem Motto, „es wird schon langen“.
12.  Erneute Überraschung über Welle
  • wiederum kein Schutz- und Testkonzept
  • immer noch kein vernünftiges System für wirtschaftliche Hilfen.
  • immer noch unzureichende IT für Online-Unterricht in Schulen.
  • unzureichende technische Ausstattung
13.  Versagen beim Boostern
  • RKI hat auf der Homepage Studien zur Verfügung gestellt, die Wirksamkeit von Boostern nach 4 Monaten untersuchen. Ergebnis: wirkt.
  • Trotzdem hat man an 6 Monaten festgehalten,
  • anders als in anderen Ländern, die bereits früher von der 6-Monatsregel abwichen.
  • Dann hat man Moderna das Image als „Restposten“ und „zweite Wahl“ verpasst, weil man die Bestände nutzen wollte,
  • um es dann besser als Biontech zu loben.
14.  Testkapazität unzureichend
  • Aktuell werden PCR-Tests knapp.
  • Das ist eine reine Logistik- und Beschaffungsfrage.
  • Allein in Wien werden mehr PCR-Tests durchgeführt als in ganz Deutschland. Etwa 2,4 Millionen pro Woche.
  • Für das gut vierzig Mal größere Deutschland meldet das Robert-Koch-Institut in der zweiten Kalenderwoche dagegen bloß 2.050.740 PCR-Testungen.
  • Seit Beginn der Pandemie wurde in Deutschland im Schnitt 1,17 PCR-Tests pro Einwohner durchgeführt;
  • in Österreich dagegen 5,9 pro Einwohner.
  • UK: doppelt so viele Test/Tag als in D. Auf die Bevölkerung gerechnet hat jeder Brite 2,82 PCR-Testungen sequenzieren lassen.
  • Dänemark: Auf die Bevölkerung umgerechnet hat jeder Däne im Schnitt 9,9 PCR Tests wahrgenommen, also gut acht Mal so viele wie jeder Durchschnittsdeutsche.
  • Sogar Frankreich liegt vor uns.
  • Ein Muster, was sich weiter durchzieht: Großbritannien analysiert pro Tag so viele Viren auf Mutationen wie wir in einem Monat.
15.  Willkürliche Vorgaben
  • Gesundheitsminister Lauterbach halbiert den Genesenenstatus auf 3 Monate –
  • außer für Bundestagsabgeordnete, da gelten weiterhin sechs Monate.
  • Gleichzeitig stellt die EU fest: Es bleibt bei sechs Monaten.
 16.  Keine Daten!
  • Wir legen Maßnahmen fest, wie Schließungen von Restaurants etc., ohne überhaupt die Daten zu haben, wo sich wer wie ansteckt.
  • Manche Entscheidungen, die getroffen werden, entbehren jeder statistisch belastbaren Grundlage.
  • Dabei haben wir mehr als ein Jahr Zeit gehabt, genau diese Zahlen zu sammeln.
  • Wir wissen nicht wirklich, wie viele geimpft sind.
  • Wir wissen nicht, wie viele genesen sind.
  • Wir brauchten eine groß angelegte Immunitäts-Studie,
  • eine Kohorte von 40.000 bis 50.000 Deutschen, die sauber strukturiert die Gesellschaft abbildet, damit wir über Blutproben und Tests dieser Menschen genauer sehen können, wie der Immunstatus der Gesellschaft ist.
17.  Gesundheitsämter
  • Die Inzidenzzahl begleitet uns seit Monaten, wenn es darum geht, Dauer und Ausmaß von Lockdown-Maßnahmen zu bestimmen.
  • Dabei ist der Inzidenz-Ziel-Wert (35/50/100) nicht medizinischen Gründen geschuldet, sondern der fehlenden Fähigkeit der Gesundheitsämter, Infektionsketten nachzuverfolgen.
  • Neben der nicht funktionsfähigen App liegt dies an der steinzeitlichen Ausstattung der Gesundheitsämter, die in vielen Fällen immer noch per Fax kommunizieren. Statt wie versprochen eine einheitliche Software zu nutzen, herrscht ein Wildwuchs.
  • Übersetzt: Restaurants und Einzelhandel müssen schließen, weil die Politik es in einem Jahr nicht schafft, die Effizienz und Effektivität der Gesundheitsämter zu erhöhen. In die gleiche Richtung gehen unzureichende Nachverfolgung von Einreisen aus Risikogebieten oder die Durchsetzung von Quarantänemaßnahmen. Klassische Aufgaben des Staates, die nicht wahrgenommen werden.
18.  Kosten/Nutzen-Rechnung fehlt
  • Politisch heikel, dennoch relevant: Wir müssen die Frage stellen, ob die wirtschaftlichen und sozialen Schäden in Relation zum Nutzen stehen.
  • Schulausfall – langjährige Schäden durch geringere Lebenseinkommen
  • schlechtere Integration der Zuwanderer der letzten Jahre
  • psychische Schäden
  • häusliche Gewalt – Gewalt gegen Kinder
  • Vernichten wirtschaftlicher Existenzen
  • vervollständigbar …