STELTERS MAILBOX: Überforderte Politik?

Vor zwei Wochen habe ich meine Sicht auf das politische Klima bei uns in Deutschland dargelegt. Eine intensive Diskussion darüber (und wie für bto-Leser üblich) auch darüber hinaus war die Folge.

→ STELTERS MAILBOX: Was sagen Sie zur politischen Stimmung?

Dabei tauchte die Frage auf: „Was ist mit der Politik, Herr Stelter, hat diese es nicht versäumt, richtige Führung zu zeigen?”

Eine berechtigte Frage. Deshalb heute quasi in Fortsetzung der Diskussion mein persönlicher Blick auf die Rolle der Politik hierzulande. „Überfordert“ dürfte es treffen:

Überforderte Bürger

Angesichts der Stimmungslage in der Bevölkerung und der zunehmenden Polarisierung der Gesellschaft wäre es ein Leichtes, der Politik die Schuld zu geben. Natürlich waren es wichtige politische Entscheidungen, die in erheblichem Maße zu dieser Entwicklung beitrugen. Doch fielen diese Entscheidungen keineswegs zufällig. Sie waren und sind immer im Kontext der gesellschaftlichen Stimmung zu sehen. Denn Politiker haben vor allem ein Ziel: (wieder) gewählt zu werden. Also wird so gehandelt, wie man glaubt, die Bürger für die eigene Partei und Person mobilisieren zu können. Wie gut das funktioniert, hängt dann vor allem davon ab, wie gut die Bürger verstehen, worum es geht.

Und vieles spricht dafür, dass die Deutschen sich beim Verständnis politischer Zusammenhänge massiv überschätzen. Aktuelle Studien dazu finden sich keine – im Unterschied zu anderen Ländern – sodass wir auf eine im Jahr 2011 vom Bayerischen Rundfunk in Auftrag gegebene Studie zurückgreifen müssen:

  • „Die Ergebnisse sind frappierend: So wusste nur ein Drittel der Teilnehmer, dass die Deutsche Bank ein privates und kein staatliches Geldinstitut ist. Nur die Hälfte hatte eine Ahnung davon, wie groß in etwa der Bevölkerungsanteil mit Migrationshintergrund ist (damals ca. 20 Prozent), dass das ökonomische System der DDR Planwirtschaft hieß, wie viele Mitgliedsstaaten die EU hat (damals 27), was es mit dem sozialpolitischen Instrument der Elternzeit auf sich hat, dass die Bundesrepublik 1949 gegründet wurde oder dass Ratingagenturen die Zahlungsfähigkeit von Unternehmen und Staaten bewerten.“ [i] Man muss bei diesen Aussagen im Hinterkopf haben, dass damals angesichts der Schuldenkrise in Europa in den Medien häufig Ratingagenturen angesprochen wurden. Auch das Elterngeld war in der öffentlichen Diskussion. Also Themen, die man durchaus bei normaler Nutzung der Medien „mitbekommen sollte“ – anders als in der Gründungszeit der Bundesrepublik.
  • „Im Durchschnitt erzielten die Befragten die Gesamtnote 3,9 – ausreichend, mehr nicht. Nur zwölf Prozent schafften ein Gut oder Sehr gut. 29 Prozent wussten so wenig, dass sie mit den Noten Fünf oder Sechs bewertet wurden.“ Nicht genug, dass das Wissen der Bürger dürftig war, es stand auch noch im eklatanten Widerspruch zur Selbstwahrnehmung: „Immerhin 60 Prozent glaubten, sie könnten ‘wichtige politische Zusammenhänge gut verstehen und einschätzen’. Von denjenigen mit der Note Fünf glaubte fast ein Drittel, ‘recht viel über Politik und aktuelle politische Ereignisse’ zu wissen. Selbst unter den Totalausfällen (Note Sechs) meinte noch ein Fünftel, ganz gut Bescheid zu wissen. Ignoranz und Selbstüberschätzung sind offenkundig weit verbreitet.“ [ii]

Die Bürger haben offensichtlich nur ein unzureichendes Verständnis für Politik und politische Zusammenhänge, paaren dies aber mit der Überzeugung, im Thema zu sein. Dies macht es der Politik schwer und leicht zugleich. Schwer, weil es gerade bei komplizierteren Zusammenhängen oftmals die leichte Lösung nicht gibt und deshalb ein enormer Kommunikationsaufwand nötig wäre, um die Bürger zu erreichen und aufzuklären. Leicht, weil die Aussagen von Politikern zu wenig hinterfragt werden und sie deshalb mit bestimmten Aussagen durchkommen.

Nehmen wir als offenkundiges Beispiel die Äußerungen des damaligen Justizministers Heiko Maas 2016 in der Talkshow von Maybrit Illner. Mit Blick auf die Kosten der Aufnahme von Flüchtlingen meinte er: „Die Milliarden für die Integration wurden in diesem Land erwirtschaftet und wurden niemanden weggenommen.“ Vermutlich dürfte ein Großteil der Zuschauer aus der persönlichen Erfahrung heraus, dass sich nichts geändert hat, Maas an dieser Stelle zugestimmt haben. Die Aussage blieb unwidersprochen, obwohl es natürlich immer eine Verteilungswirkung hat. Wenn Mittel für einen Zweck ausgegeben werden, fehlen sie an anderer Stelle. Sei es für Investitionen, höhere Sozialleistungen, Schuldentilgung oder aber zur Senkung von Steuern und Abgaben.

Wir machen es der Politik also leicht, bestimmte Aussagen zu treffen, weil wir uns nicht die Mühe machen, die Zusammenhänge zu hinterfragen. Vor allem – und auch diese These dürfte nicht überraschen – mögen wir keine schlechten Nachrichten. Schlechte Nachrichten sind jene, die zu einer Verschlechterung der eigenen Lebenssituation führen könnten. Reformen gehören dazu, aber auch viele der Themen, die in den letzten 15 Jahren die politische Agenda bestimmt haben.

Lange Liste unangenehmer Themen

Was haben wir nicht alles in den letzten 15 Jahren erlebt!

Da war zunächst die Finanzkrise, direkt gefolgt von der Eurokrise. Beide Krisen waren die Folge von zu hoher Verschuldung im Privatsektor und führten das Finanzsystem an den Rand des Kollapses. Der Politik, namentlich auch der deutschen, blieb keine andere Wahl, als das Finanzsystem zu retten. Dies bedeutete direkte Finanzhilfen für angeschlagene Banken bis hin zur Verstaatlichung und damit die Mobilisierung von Steuergeldern in erheblichem Umfang. Aus Sicht der Bürger, vor allem jener, die sich mit den Zusammenhängen im Finanzsystem nicht so auskennen, was für die Mehrzahl der Deutschen zutreffend sein dürfte, musste es so aussehen, dass mit der Politik vor allem die Reichen geschützt wurden.

Dass es in Wahrheit um unser alle Ersparnisse ging, wurde zwar vonseiten der Politik betont, wirkte aber nicht selten wie eine Schutzbehauptung. Der – berechtigt – fade Beigeschmack blieb, nämlich dass Spekulanten vom Staat gerettet wurden und wir in einer Welt leben, in der Gewinne privatisiert und Verluste sozialisiert werden. Dem hätte die Politik durch eine entsprechend glaubwürdige und härtere Regulierung des Finanzsektors entgegentreten können und müssen. Sie hat diese Chance nur unzureichend genutzt.

Gerade auf Ebene der Europäischen Union zeigt sich am immer noch schlechten Zustand des Bankensystems, wie falsch die Politik des Leugnens und des Spielens auf Zeit ist. Im Gegensatz dazu haben die USA unter Präsident Obama die Banken zwangsweise rekapitalisiert und damit die Grundlage für eine rasche Genesung gelegt.

Die Eurokrise – eine Folge zu hoher privater Schulden in Spanien, Portugal und Irland und zu hoher Staatsschulden in Griechenland – hat das Vertrauen in die Politik weiter erschüttert. Entgegen der zur Einführung des Euro abgegebenen Versprechen, dass es zu keiner finanziellen Unterstützung für andere Mitgliedsländer kommt, war genau dies die Folge der Rettungspakete, die seither geschnürt wurden. Für die Politik war die Eurokrise so oder so kein Gewinner-Thema. In der Bevölkerung war es höchst unpopulär, entsprechende Hilfen zu leisten, doch war und ist die Alternative eines ungeordneten Zerfalls der Eurozone mit derart erheblichen Verlusten verbunden, dass niemand gewillt ist, das Risiko einzugehen.

So war es der Politik hier nur allzu recht, dass sie sich hinter der EZB unter Führung von Mario Draghi verstecken konnte, der mit dem Versprechen, „alles Erdenkliche zu tun“, das von milliardenschweren Kaufprogrammen für Staatsanleihen begleitet wurde, die Eurozone letztlich stabilisierte. Damit verbunden war ein weiterer deutlicher Rückgang des Zinsniveaus, was bis heute gerade in Deutschland zu einer erheblichen Belastung der Sparer führt, weil die Deutschen eine Vorliebe für Bankkonto, Sparbuch und Lebensversicherung haben. Da mögen Ökonomen noch so sehr betonen, dass es weitere Gründe für den Rückgang des weltweiten Zinsniveaus gibt und dass nur dank der EZB eine schwere Rezession verhindert wurde. Für die Bürger bleibt der Eindruck, mit Nullzinsen für eine verfehlte Politik bestraft zu werden.[iii]

Das Unglück von Fukushima, ausgelöst durch einen Tsunami, war das nächste politische Großereignis. Aus Angst vor der Stimmung der Wähler und in der Hoffnung, die Wahlen in Baden-Württemberg doch noch gewinnen zu können, beschloss die Regierung Merkel in einer atemberaubenden Kehrtwende, die kurz zuvor festgesetzte Laufzeitverlängerung für Atomkraftwerke nicht nur rückgängig zu machen, sondern die Laufzeiten noch zu verkürzen. Hierin liegt eine der wesentlichen Ursachen dafür, dass wir nun, fast zehn Jahre später, die Ziele zur CO2-Reduktion verfehlen, trotz Rekordförderung für erneuerbare Energien und den höchsten Strompreisen Europas. Ein besseres Beispiel für eine populistische, nur an kurzfristigen Stimmungen der Bürger ausgerichtete Politik ist schwer zu finden.

Letztlich fällt auch die Entscheidung des Sommers 2015 zur Grenzöffnung in diese Kategorie. Nachdem die Politik sich jahrelang nicht um die Probleme der Mittelmeeranrainerstaaten gekümmert hatte, wurde nun über Nacht eine weitere 180-Grad-Drehung vollzogen und eine Zuwanderung zugelassen, die in ihrer Dimension einmalig war. Vieles spricht dafür, dass auch hierbei die Angst vor der öffentlichen Meinung essenziell für die Entscheidungsfindung war.[iv]

Ein Muster ist nicht zu leugnen. Aus Angst vor unzufriedenen Bürgern wurden Entscheidungen getroffen, deren langfristigen Konsequenzen wir erst in Jahren oder Jahrzehnten werden voll erfassen können. Es wurden Probleme verdrängt und unterdrückt, statt sie zu lösen, und es wurde immer mehr auf Zeit gespielt, in der Hoffnung, ein Wunder würde geschehen und die Probleme lösen sich von selbst oder aber – wahrscheinlicher – man könne sie dem Nachfolger hinterlassen. Die Politik als Getriebene der öffentlichen Meinung, unwillig und unfähig sich dieser mit Blick auf die mittel- und langfristigen Folgen entgegenzustellen.

Symbolpolitik statt Ursachenbekämpfung

Hinzu kommt, dass die Politik nicht für alle Probleme eine einfache und wirkungsvolle Lösung bieten kann. Am Beispiel der Eurokrise lässt sich das gut illustrieren. Jede dauerhafte Sanierung der Eurozone muss auf einer Kombination unbequemer Maßnahmen basieren: einer Restrukturierung untragbarer Schulden, einer Neuordnung der Euro-Mitglieder und der Bereitschaft zu einer gemeinsamen Fiskalpolitik und einer Risikoteilung. Ich selbst habe immer wieder ausführlich erklärt, dass selbst bei einer Umsetzung aller Maßnahmen nicht sicher davon ausgegangen werden kann, dass der Euro wirklich auf Dauer überlebt.[v] Zu verschieden sind die Mitgliedsländer, zu unterschiedlich die wirtschaftliche Entwicklung. Das Ziel ist, den Eindruck zu vermitteln „etwas zu tun“, und dank der Schützenhilfe der EZB vordergründig erfolgreich zu sein.

Ähnlich ist es beim Thema Wohnen. Nicht zuletzt aufgrund des billigen Geldes der EZB erlebt Deutschland einen kleinen Boom im Immobilienmarkt „Klein“ deshalb, weil wir trotz des jüngsten Preisanstieges im internationalen Vergleich noch recht günstige Preise haben. Zugleich haben wir einen ungebremsten Zuzug in die Ballungsräume und anhaltende Zuwanderung aus dem Ausland. In einem solchen Umfeld müssen die Mieten steigen, wenn nicht ausreichend für eine Angebotsausweitung gesorgt wird. Nachdem Letzteres nicht im erforderlichen Umfang erfolgt ist, bleibt der Politik keine andere Wahl, als mit anderen Instrumenten in den Wohnungsmarkt einzugreifen. Die angewandten Instrumentarien – zunächst Mietpreisbremse, dann Mietendeckel – treffen auf Zustimmung in der Bevölkerung. Aber nur solange, bis deutlich wird, dass sie letztlich nichts bewirken.

Dann werden die Eingriffe als Symbolpolitik wahrgenommen als Handlungen um des Handelns-, nicht um des Ergebnisses willen. Und die Liste der Symbolpolitik wird immer länger: Forderungen nach einem Schutz der europäischen Außengrenzen werden erhoben und nicht umgesetzt, wie wir gerade wieder live erleben können. Eine europäische Lösung für die Verteilung von Migranten wird gefordert und nicht realisiert.

Die Energiewende wird seit Jahren exekutiert, ohne den CO2-Ausstoß zu reduzieren. Bildung wird im Wahlkampf groß plakatiert, ohne dass sich danach irgendwas zum Besseren ändert.

Das ist das gesellschaftliche Klima, das in Großbritannien zum Brexit und in den USA zur Wahl Donald Trumps beitrug. Dass es bei uns noch nicht soweit ist, liegt daran, dass es den Deutschen tatsächlich besser geht als den Briten und den Amerikanern. Studien zeigen auf, dass der soziale Zusammenhalt in der westlichen Welt besonders dort gelitten hat, wo die Einkommen der Bürger hinter den steigenden Kosten für Wohnraum, Gesundheitsversorgung und Bildung zurückgeblieben sind.[vi] Dies ist in Deutschland (noch) nicht der Fall, aber die Unzufriedenheit wächst. Je mehr sich die Politik scheut, Probleme grundlegend anzugehen und außerdem Konflikte mit der öffentlichen Meinung zu vermeiden, wenn es um das Erreichen langfristiger Ziele geht, desto größer ist die Gefahr, dass auch bei uns Polarisierung und Radikalisierung zunehmen.

Neues Denken ist erforderlich

Neues Denken ist erforderlich, um die Krise der Gesellschaft zu überwinden. Vielmehr noch, um eine noch tiefere und weitergehende Krise zu verhindern. Trotz zehn Jahren wirtschaftlichen Aufschwungs sind wir nur sehr schlecht auf einen Rückgang der Konjunktur vorbereitet und schon gar nicht auf eine existenzielle Strukturkrise in unseren Schlüsselindustrien. Wir brauchen also ein Programm, das die Widerstandsfähigkeit von Wirtschaft und Gesellschaft stärkt und die Grundlagen für künftigen Wohlstand sichert.

Als Bürger dieses Landes wünsche ich mir, dass wir unsere Politiker an diesem Programm messen. Sind ihre Handlungen geeignet, unseren Wohlstand in den kommenden 20 Jahren zu sichern, oder bringen sie uns von diesem Weg ab? Sind die Prioritäten richtig gesetzt oder geht es nur um kurzfristige Beliebtheit vor dem nächsten Wahlsonntag? Fragen, die prominenter in der Öffentlichkeit diskutiert werden müssen und die voraussetzen, dass die Medien ihrer Verpflichtung nachkommen, gründlich zu informieren und die Bürger aufzuklären. Und es fordert uns, die Interessen der Bürger, mehr zu hinterfragen und nicht alles, was uns vorgesetzt wird, für bare Münze zu nehmen. Es fordert uns außerdem, selbst mehr zu tun.

Ist es realistisch? Nein, ich bin skeptisch. Die Bevölkerung ist noch nicht so weit und es steht zu befürchten, dass sie nie so weit sein wird. Der gesamtgesellschaftliche Konsens ist erodiert, so dass es immer schwerer wird, zu einem gemeinschaftlichen Handeln zu kommen. Wer daran zweifelt, dem empfehle ich nur ein Blick auf die Diskussion zum Umgang mit der Migration aus der Türkei. Es beginnt schon bei der Begrifflichkeit. „Migranten“ oder „Flüchtlinge“?

Damit bleibt die Politik getrieben und es wächst die Gefahr, dass wir doch einen ausgewachsenen Populisten erleben.


[i] Zitiert hier nach Henrik Müller, „Kurzschluss Politik – Wie permanente Empörung unsere Demokratie zerstört“, München 2020, S. 108f.

[ii] Zitiert hier nach Henrik Müller, „Kurzschluss Politik – Wie permanente Empörung unsere Demokratie zerstört“, München 2020, S. 109.

[iii] Ausführlich beschäftige ich mich mit den Ursachen und Folgen von Finanz- und Eurokrise in: Daniel Stelter, „Eiszeit in der Weltwirtschaft“, Frankfurt, 2016

[iv] Robin Alexander, „Die Getriebenen.  Merkel und die Flüchtlingspolitik. Report aus dem Innern der Macht.“, München 2017

[v] Daniel Stelter, manager magazin, “Die Rezepte der Groko werden Euroland nicht retten“, 22. Februar 2018, abrufbar unter: https://www.manager-magazin.de/politik/europa/rettung-der-eurozone-die-groko-folgt-den-falschen-rezepten-a-1194493.html

[vi] McKinsey Global Institute, „The social contract in the 21. Century”, Februar 2020, abrufbar unter: https://www.mckinsey.com/industries/social-sector/our-insights/the-social-contract-in-the-21st-century?sid=2747e592-d3cc-437f-9d63-0cfcb085d56d