STELTERS MAILBOX: Bestätigen Sie Pikettys „großen Wurf“?

In der letzten Woche gab es die erste Folge von STELTERS MAILBOX. Viele Leser fanden die Idee gut, einige machen sich Sorgen, bto würde nun zu einer schlechteren Anlagekolumne verkommen. Nun, ich werde mir alle Mühe geben, dass es nicht soweit kommt. Außerdem erhalte ich ja auch andere Zuschriften, wie diese:

Sehr geehrter Herr Stelter,

ich habe mit Interesse Ihre Replik zu Piketty gelesen.

Ich muss sagen, dass ich sehr erstaunt war (oder auch nicht), dass selbst nach der Lektüre Ihres Buchs Piketty keineswegs so schlecht dasteht, wie ich es vermutet hatte. Noch mehr hat mich erstaunt, dass Ihre Haltung zu vielen Thesen und Haltungen Pikettys im linken Lager nicht für mehr Aufsehen erregt hat. Offenbar ist Ihr Buch tatsächlich in die ‘falschen Hände’ geraten oder wurde in seiner Konsequenz noch gar nicht richtig verstanden.

Spannend fand ich besonders das Kapitel 4.2. Ich hoffe, Ihre Leser haben dies gut verstanden und beherzigt. Allerdings nicht in der von Ihnen erstaunlich offen angedeuteten Weise, sich möglichst gut zu überlegen, wo sie ihr Vermögen verstecken können. Das ist ja leider ein altes übles Spiel, das eines Tages tatsächlich zu weiteren üblen Dingen führen könnte.

Leider vermisse ich stattdessen Ihren Appell an das, was man einmal Solidarität genannt hat (bzw. nicht nur genannt, sondern auch praktiziert). Wenn Schulden abgebaut werden müssen, ist es doch nicht verkehrt zu fragen, wer denn im Verlauf des Schuldenaufbaus auf der anderen Seite des gesellschaftlichen Spektrums die größten Profite eingefahren hat.

Auch Kapitel 5 gibt mir Rätsel auf? In wesentlichen Dingen bestätigen Sie ja regelrecht Pikettys großen Wurf. Man müsste das, was in Ihrem Buch über Ungleichverteilung und die Lösung der Schuldenkrise steht, eigentlich 1:1 der SPD oder der LINKEN ins Parteibuch schreiben. Sehr erstaunlich!! Eine Steilvorlage und ein Schlag ins Gesicht etwa einer Frau Göbel bei der FAZ.

Ich weiß nicht, wie Sie das sehen, aber habe ich da etwas missverstanden in Ihrem Buch? Es würde mich brennend interessieren.

Mit freundlichem Gruß“

Grund genug für mich, mal wieder in mein Buch “Die Schulden im 21. Jahrhundert” zu blicken. Erschienen ist es bereits 2014 als Zusammenfassung, Bewertung und Ergänzung von Thomas Pikettys Buch Das Kapital im 21. Jahrhundertund schaffte es damals immerhin auf die Bestsellerliste für Wirtschaftsbücher. Im Unterschied zu Pikettys Werk dürfte mein Buch von den meisten Käufern auch wirklich bis zu Ende gelesen worden sein, ist es doch deutlich kürzer.

Im kommenden Frühjahr erscheint das neue Werk von Piketty, welches bisher nur auf Französisch verfügbar ist. Es trägt den Titel Kapital und Ideologie” und wird uns sicherlich zu gegebener Zeit beschäftigen. Soweit ich weiß, setzt er auf dem Bekannten auf und korrigiert bzw. hinterfragt seine Aussagen aus dem letzten Buch nicht. Stattdessen erläutert er ausführlich, wie seiner Meinung nach die Kapitalbesitzer Medien und Öffentlichkeit manipulieren, um ihren privilegierten Status zu sichern. Als Gegenmaßnahme empfiehlt er hohe Steuern und Vermögenskonfiskation. Ideen, die in Berlin sicherlich auf fruchtbaren Boden fallen.

Doch nun zu den Fragen des Lesers, die ich so zusammenfasse:

  1. Sind die Analysen von Piketty zutreffend?
  2. Was ist dran an Pikettys Empfehlungen?
  3. Bestätige ich Pikettys „großen Wurf“?

Gehen wir die Fragen nacheinander durch:

1.     Sind die Analysen von Piketty zutreffend?

Ich will an dieser Stelle nicht mein Buch abschreiben. In verschiedenen Kommentaren bei bto habe ich mich mit den Thesen von Piketty ebenfalls auseinandergesetzt. Darum hier in Stichpunkten:

  • Piketty beobachtet ein Wachstum von Vermögen, das über der Wachstumsrate der Wirtschaft liegt. In der Folge steigt die sogenannte Vermögens/Einkommens-Quote kontinuierlich an.
  • Er führt dies auf ein „Naturgesetz“ zurück, wonach die Rendite auf Kapital über der Wachstumsrate der Wirtschaft liegt
  • und bemängelt, dass vor allem die großen Vermögen hohe Renditen erwirtschaften und damit nicht nur die Vermögen wachsen, sondern auch die Vermögenskonzentration.
  • Er erkennt im Anstieg der Vermögens-/Einkommens-Quote ein Versagen des Staates, der nicht ausreichend besteuert und damit den Anstieg nicht bremst.
  • Piketty fordert konsequenterweise eine drastische Besteuerung von Einkommen und Vermögen, um so wieder mehr Gleichheit herzustellen.

In meiner Analyse von Pikettys Arbeit stelle ich fest, dass:

  • die Daten von Piketty in der Tat einen Anstieg der Vermögens-/Einkommens-Quote zeigen.
  • die Daten ebenfalls die Aussage, dass es im oberen Bereich zu besonders starken Vermögenszuwächsen gekommen ist, unterstützen.
  • sich kein Naturgesetz dauerhaft höherer Kapitalrenditen als Wachstumsraten finden lässt. Im Gegenteil vernachlässigt Piketty Faktoren wie Steuern, kalkulatorische Miete selbst genutzter Immobilien (die ja per Definition sofort konsumiert und nicht gespart wird) und die Tatsache, dass immer höhere Vermögenswerte mit einer immer geringeren Rendite einhergehen. Je höher die sogenannten Multiples, desto geringer der künftige Ertrag.
  • er die Wirkung des säkularen Trends der Zinssenkung seit Beginn der 1980er-Jahre bei seiner Analyse völlig übersieht, wobei dieser einen wesentlichen Anteil an den steigenden Vermögenspreisen hat.
  • er in diesem Zusammenhang nicht bemerkt, dass faktisch der gesamte Anstieg der Vermögens-/Einkommens-Quote mit der Entwicklung der Preise von Immobilien erklärt werden kann.
  • Piketty die Wirkung von Schulden und vor allem den selbstverstärkenden Effekt eines immer höheren Verschuldungsgrades (Leverage) nicht versteht und deshalb die Kernursache der Entwicklung übersieht: die Verschuldung. Dabei wäre der Anstieg der Vermögen ohne die zunehmende Verschuldung – zu immer tieferen Zinsen entsprechend angefacht – gar nicht denkbar. Deshalb auch der Titel meines Buches.

Aus meiner Sicht arbeitet sich Piketty an den Symptomen ab, statt die Ursache zu beleuchten. Wer eine geringere Vermögens-/Einkommens-Quote wünscht, muss zwangsläufig an unserem Geldsystem ansetzen.

2.     Was ist dran an Pikettys Empfehlungen?

Im Kapitel 4.2 beschäftige ich mich in der Tat mit Pikettys Empfehlungen, die letztlich auf eine konfiskatorische Besteuerung hinauslaufen, um so eine gleichere Vermögensverteilung zu erzielen. Das kann man so fordern, wenn man wie er nur die Symptome betrachtet und die Ursachen nicht erkennt.

Andererseits sehen wir ja, wenn wir auf die Verschuldung der westlichen Welt blicken – im Unterschied zu Piketty betrachte ich bekanntlich nicht nur die Staatsschulden, sondern auch die Schulden des Privatsektors –, dass diese zunehmend negative Wirkungen hat:

  • Die Verschuldung zwingt zu immer tieferen Zinsen, was wiederum zu noch mehr Schulden führt.
  • Damit einhergeht eine zunehmende „Zombifizierung“ der Wirtschaft, was wiederum zu geringerem Wachstum und einer geringeren Schuldentragfähigkeit führt.
  • Neue Kredite haben immer weniger Effekt auf die Realwirtschaft, dienen sie doch zur Aufrechterhaltung der Illusion der Bedienbarkeit alter Kredite und zur Spekulation oder dem Erwerb vorhandener Vermögensgegenstände.
  • Diese ökonomische Eiszeit führt dann weiter in eine Interventionsspirale immer radikalerer geld- und demnächst auch fiskalpolitischer Maßnahmen.
  • Derweil steigen die Vermögenswerte relativ zum Volleinkommen immer weiter, zum einen, weil Geld immer weniger kostet, zum anderen durch zunehmende Spekulation und immer mehr auch wegen eines Vertrauensverlustes der Vermögenden in das System.
  • Ebenso wächst die Bedeutung des Finanzsektors. Diese „Financialization“ führt zu Gewinnen aus unproduktiver Tätigkeit und durchzieht immer mehr auch die Realwirtschaft.

Verschuldung als solche ist aus meiner Sicht kein Problem, sofern sie für produktive Zwecke erfolgt. Das habe ich immer wieder geschrieben und auch in meiner Serie zur Eigentumsökonomik herausgestellt.

Problematisch ist die unproduktive Verschuldung, die die oben genannten Nebenwirkungen hat und damit das System immer mehr ins Ungleichgewicht bringt. Deshalb muss man darüber nachdenken, wie man die Schulden wieder auf ein nachhaltiges Niveau senkt, relativ zum BIP. Die Optionen sind klar:

  • Sparen und tilgen: Problem ist, dass dies auf Ebene einzelner Sektoren und sogar in einzelnen Ländern funktionieren kann – allerdings nicht in einer ganzen Region wie Europa oder gar weltweit. Denn wird gespart aus dem laufenden Einkommen, drückt dies Nachfrage und Wachstum. Italien wird immer wieder als Beispiel für Sparen ohne Erfolg angeführt.
  • Schneller wachsen: Diese Option ist zweifellos die attraktivste. Gelänge es, dass Wachstum der Wirtschaft über das Wachstum der Schulden zu bringen, würde die Schuldenquote über Zeit sinken. Ein Erfolg. Problem ist nur, dass zum einen die Demografie, zum anderen die geringen Produktivitätsfortschritte (auch in Folge der schuldenbedingten Zombifizierung) dazu führen, dass diese Option nicht funktioniert.
  • Höhere Inflation: Klappt das mit dem Realwachstum nicht, würde es helfen, dass nominale Wachstum über das Wachstum der Schulden zu hieven. Also über höhere Inflationsraten. Wie wir in den letzten Jahren gesehen haben, ist es im Umfeld von Überkapazitäten, Globalisierung, Überschuldung und Zombifizierung extrem schwer, die Inflation nach oben zu bekommen. Die genannten Faktoren wirken nämlich alle eher deflationär.
  • Pleiten und Konkurse: Sind die Schuldner zu hoch verschuldet, ist es naheliegend über Zahlungseinstellungen und Pleiten nachzudenken. Dies haben wir in der Großen Depression der 1930er-Jahre erlebt, vor allem konnte man beobachten, wie derartige Prozesse aus dem Ruder laufen und auch Schuldner mit in den Abgrund gezogen werden, die eigentlich solide waren. Deshalb setzt die Politik alles daran, eine solche Bereinigungswelle zu verhindern. Allerdings sind die Nebenwirkungen, wie gezeigt, erheblich.
  • Steuern und Vermögensabgaben: Bleibt als weitere Option jenes, was ich noch zu BCG-Zeiten als „Back to Mesopotamia“ beschrieben habe: ein Schuldenschnitt, der durch Steuern und vor allem Vermögensabgaben finanziert wird. Dann sänken Schulden und Vermögen im Gleichschritt und man könnte das Problem in einem geordneten Verfahren lösen. Wie aktuell diese Überlegungen sind, sieht man an den Überlegungen von IWF und Bundesbank zu Vermögensabgaben und den Empfehlungen von France Strategie zur Teil-Verstaatlichung von Grundbesitz.

In diesem letzten Punkt gibt es – wie ich auch in meinem Buch ausführe – eine gewisse Logik für die Vorschläge von Piketty. Ich glaube auch, dass seine Vorschläge unter dem Deckmantel der Herstellung von Gerechtigkeit teilweise Realität werden. Dies bedeutet allerdings nicht, dass ich seine Analyse teile.

3.     Bestätige ich Pikettys „großen Wurf“?

Nein. Ich sehe zwar die Notwendigkeit, das Problem der Überschuldung durch eine Restrukturierung der Schulden, die zwangsläufig mit entsprechenden Verlusten für die Vermögen verbunden sind, zu lösen. Ich tue dies aber nicht, weil ich Pikettys Analyse teile. Wie gezeigt, verkennt er die eigentliche Ursache für das von ihm analysierte Ergebnis. Er verkennt die Wirkung von Finanzsystem und Geldordnung. Hier hätte er ansetzen müssen, um einen echten Wurf vorzulegen.