Zur Wirkung des Bürger­geldes

In meinem Podcast am 9. Oktober 2022 geht es morgen erneut um das Bürgergeld. Bereits in Folge 116 (Anreiz zur Arbeit statt Transfers) habe ich mich damit beschäftigt und für die Einführung einer negativen Einkommenssteuer plädiert. Damals war Beat Kappeler mein Gast.

Diesmal ist Holger Schäfer, Senior Economist für Beschäftigung und Arbeitslosigkeit am Institut der Deutschen Wirtschaft in Köln, mein Gesprächspartner. In einem Aufsatz hat er kürzlich die wesentlichen Aspekte zusammengefasst:

  • „Im Koalitionsvertrag wird in Aussicht gestellt, erstens in den ersten beiden Jahren des Bezugs von Bürgergeld keine Anrechnung des Vermögens und der Angemessenheit der Kosten der Unterkunft vorzunehmen und zweitens das Schonvermögen dauerhaft zu erhöhen.“ – bto: Die Anhebung der Vermögensgrenze ist, wie ich finde, richtig, weil wir ja gerade die private Vorsorge fördern und belohnen wollen. Die Unterkunft kann problematisch sein, vor allem, wenn man an die Nebenkosten denkt.
  • „Es muss allerdings gegen die Frage abgewogen werden, ob die Grundsicherung ihren Charakter als nachrangige Leistung behält. Der Akzeptanz des Bürgergeldes würde es wenig helfen, wenn die Begünstigten im Zweifel über ein höheres Vermögen verfügen als diejenigen, die diese Leistung mit ihren Steuern finanzieren. Gleichsam wäre es der Akzeptanz abträglich, wenn Transferempfangenden Kosten der Unterkunft erstattet werden, die sich die Steuerzahlenden nicht leisten könnten. Im Falle der Unterkunftskosten erscheint (…) die Pauschalierung von Leistungen als eine bessere Lösung gegenüber der temporären Abschaffung jeglicher Zugangsvoraussetzungen.“ – bto: Die Pauschalisierung hätte zudem den Vorteil, einen Sparanreiz zu geben. Ich denke vor allem an die Heiznebenkosten.
  • „Profitieren würden vorrangig ältere Menschen mit beruflicher Qualifikation und langer Erwerbserfahrung. Somit könnte die Aussetzung der Vermögensanrechnung in Kombination mit der verlängerten Bezugsdauer von Arbeitslosengeld auf der einen Seite einen neuen Pfad zum vorzeitigen Ausscheiden aus dem Erwerbsleben eröffnen. Andererseits könnte durch die Maßnahme der Anreiz gestärkt werden, privat Vermögen zur Altersvorsorge zu bilden.“ – bto: Letzteres wollen wir, erstes bestimmt nicht.
  • „Eine gesetzliche Neuregelung der Sanktionen, die durch das Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom November 2019 erforderlich wurde, wird für dieses Jahr in Aussicht gestellt. Bis dahin solle ein einjähriges „Moratorium“ für Sanktionen gelten, wobei die genauen Umstände unklar bleiben. Derzeit werden Sanktionen im Vergleich zu den gesetzlichen Formulierungen in einer abgeschwächten Form verhängt. Im Hinblick auf das Urteil werden Meldeversäumnisse mit einer Kürzung des Regelsatzes um 10 % und darüber hinaus gehende Pflichtverletzungen mit einer Kürzung von 30 % des Regelsatzes sanktioniert. Selbst Fälle, in denen eine Mitwirkung vom Hilfebedürftigen in jeglicher Hinsicht verweigert wird, können somit derzeit mit einer Kürzung in Höhe von maximal 135 Euro sanktioniert werden – das entspricht einem Anteil von rund 15 % an der gesamten Transferleistung inklusive Kosten der Unterkunft eines Alleinstehenden.“ – bto: ein Betrag, den man völlig entspannt durch Schwarzarbeit wieder hereinbekommt.

Womit wir zur Frage kommen, ob Sanktionen etwas bringen?

  • „Verschiedene Evaluationsstudien konnten Indizien für die Wirksamkeit von Sanktionen hinsichtlich des Übergangs in Beschäftigung finden. Bernhard et al. fassen den Forschungsstand folgendermaßen zusammen: „Sanktionen entfalten bei den Betroffenen durch eine im Schnitt beschleunigte Aufnahme einer Erwerbstätigkeit intendierte Wirkungen.“ Allerdings ergeben sich auch Nebenwirkungen. So finden van den Berg et al. für junge Männer neben einer erhöhten Übergangswahrscheinlichkeit in Arbeit auch eine erhöhte Wahrscheinlichkeit für das Ausscheiden aus dem Arbeitsmarkt sowie einen Lohnabschlag. Wolf kann zudem zeigen, dass Sanktionen in der kurzen und mittleren Frist zwar einen positiven Effekt auf die Eingliederung in Beschäftigung haben, dieser sich aber in der längeren Frist ab etwa 30 Monaten umkehrt. Insofern ergebe sich ein Zielkonflikt zwischen schneller und nachhaltiger Integration in den Arbeitsmarkt.“ – bto: Wenn dies für junge Männer gilt, stellt sich natürlich auch die Frage, ob das Alternativszenario nicht der Dauerbezug von Leistungen wäre, weil diese die Beendigung der neuen Tätigkeit durch aktives Tun provozieren.
  • „Aus den Befunden der Wirkungsforschung kann eine Forderung nach Abschaffung der Sanktionen nicht abgeleitet werden. Sie sind ein Instrument, mit dem die unmittelbare Integration in Beschäftigung erleichtert wird. Darüber hinaus sind sie ein wichtiger Ausdruck des Prinzips der Reziprozität in der Grundsicherung: Die Gesellschaft hilft denen, die sich nicht selbst helfen können. Im Gegenzug schulden Hilfeempfangende im Rahmen ihrer Möglichkeiten das Bemühen, künftig ohne diese Hilfe auszukommen. Sollte das im Koalitionsvertrag avisierte Moratorium also eine vollständige vorübergehende Aussetzung der Sanktionen bedeuten, müsste mit einer Verringerung der Übergänge aus dem Transferbezug in Arbeit gerechnet werden.“ – bto: Genau das Gegenteil von dem, was eine alternde Gesellschaft benötigt.
  • „Überlegenswert wäre, den Spielraum des Verfassungsgerichtsurteils in der Hinsicht zu nutzen, als dass es eine Totalsanktion für die Verweigerung einer Erwerbstätigkeit ohne wichtigen Grund durchaus ermöglichen würde, da es in diesem Fall an den Voraussetzungen für Hilfebedürftigkeit fehle (Bundesverfassungsgericht, 2019, Rz 209).“ – bto: Das wäre so richtig und widerspräche dem Kern der Politik, die wir erleben, zu 100 Prozent. Diese stellt Umverteilung vor Leistung.

Kommen wir zum entscheidenden Hemmnis: der hohen Grenzbelastung bei Arbeitsaufnahme:

  • „Die geltende Regelung sieht einen Grundfreibetrag von 100 Euro vor. Für Bruttoeinkommen über 100 bis 1.000 Euro werden 20 % nicht angerechnet, für darüber hinausgehende Einkommen gilt ein Freibetrag von 10 %. Der Freibetrag wird bei 1.200 Euro bei Hilfebedürftigen ohne Kinder bzw. 1.500 Euro bei solchen mit Kindern gedeckelt. Die Regelung begünstigt in starkem Maße die Kombination von Transferbezug und einer Beschäftigung mit geringer Stundenzahl und entsprechend geringem Erwerbseinkommen auf Kosten von Beschäftigungsverhältnissen mit höherer Stundenzahl. In der Folge liegt das zusätzliche verfügbare Einkommen je zusätzlicher Stunde Arbeit bei einer Ausweitung der Arbeitszeit von Teilzeit zu Vollzeit bei rund einem Euro, teilweise noch darunter.“ – bto: Komischerweise können die Menschen rechnen. Im Unterschied zu den Politikern, mag man meinen, die solche Systeme konzipieren.
  • „Eine simple Erhöhung der Freibeträge löst zwar das Problem der geringen Anreize, ruft dafür aber neue Probleme hervor. Erstens gehen höhere Freibeträge mit fiskalischen Kosten einher. Zweitens vergrößert sich der Kreis der Anspruchsberechtigten, weil sich die Einkommensgrenze, bis zu der ein Anspruch auf ergänzende Leistungen besteht, nach oben verschiebt. Im Ergebnis könnte eine solche Reform zu mehr Leistungsempfangenden führen. Drittens erhalten Erwerbstätige mit einem Einkommen knapp oberhalb der zur Aufstockung berechtigenden Grenze einen Anreiz zur Reduzierung ihres Arbeitsangebots.“ – bto: weshalb das Modell der negativen Einkommenssteuer so überlegen wäre.
  • „Bereits 2010 untersuchte der Sachverständigenrat die fiskalischen und die Beschäftigungswirkungen von insgesamt 972 Reformszenarien mit Hilfe eines Mikrosimulationsmodells. (…) Ihnen gemeinsam ist, dass der Grundfreibetrag stark vermindert wird oder ganz wegfällt, sich danach ein Einkommensbereich mit einer Vollanrechnung anschließt, um schließlich für höhere Einkommen den Freibetrag ausweiten zu können. Im Ergebnis wird der bisher konkave Einkommensverlauf zu einem konvexen. Kleine Einkommen, wie sie aus Minijobs resultieren, werden stärker angerechnet. Höhere Einkommen, wie sie aus Vollzeittätigkeiten resultieren, werden weniger stark angerechnet als im Status quo.“ – bto: Die Frage ist natürlich, ob das so funktioniert und nicht den ersten Schritt in den Arbeitsmarkt erleichtert. Die negative Einkommenssteuer wäre da einfacher.

Entscheidendes Fazit:

  • „Die Befunde diverser Mikrosimulationen legen allerdings nahe, dass der Effekt eher überschaubar bleibt. Daher wird eine Verbesserung der Anreizstruktur das Problem allein nicht lösen können. Erforderlich bleiben auch weiterhin aktivierende Ansätze der Arbeitsmarktpolitik durch die Job-Center.“ – bto: Ohne Sanktionen geht es nicht.

wirtschaftsdienst.eu: „Bürgergeld statt Hartz IV”, Heft 2 2022