Wirtschaftspolitik agiert in kom­plexen Sys­temen – und sollte ent­sprechend handeln

William White, der ehemalige Chefvolkswirt der Bank für Internationalen Zahlungsausgleich (BIZ) und bekannt geworden durch seine korrekte Warnung vor der Finanzkrise, diskutiert in einem Beitrag für the market, weshalb wir anders wirtschaftspolitisch handeln müssen. Es geht darum, „der Komplexität des ökonomischen Systems gerecht werden“, wie er es ausdrückt:

  • „Die gravierenden Probleme, die gegenwärtig auf der Weltwirtschaft lasten, haben sich über viele Jahrzehnte hinweg angestaut. Zu einem großen Teil sind sie ein Nebenprodukt einer gut gemeinten, aber fehlerhaften Wirtschaftspolitik, die wiederum selbst auf irrigen Annahmen zur Funktionsweise der Weltwirtschaft beruht.“ – bto: Das ist die direkte Folge von zunehmenden Eingriffen, die immer gut gemeint waren, aber letztlich das Gegenteil von dem Erwünschten mit sich brachten. Das gilt vor allem für die Politik der Notenbanken.
  • „Das analytische Grundgerüst, auf das sich wirtschaftspolitische Instanzen heute verlassen, geht davon aus, dass sich die Wirtschaft in linearen Modellen abbilden lässt, die auf Vereinfachungen und statischen Annahmen basieren.“ – bto: Sie denken übrigens nicht nur bei wirtschaftlichen Fragen so, sondern auch sonst, siehe Klimapolitik.
  • „Wie die Ereignisse des letzten Jahrzehnts aber gezeigt haben, unterliegen diese Modelle fundamentalen Fehlern. Die Wirtschaft ist ein komplexes, anpassungsfähiges System (‘Complex Adaptive System’), das sich kontinuierlich weiterentwickelt, nie im Gleichgewicht ruht und mit linearem Denken nicht erfasst werden kann.“ – bto: Wenn man an das Modell von Ray Dalio denkt, der bekanntlich zwischen Kurz- und langfristigen Zyklen unterscheidet, die in Summe definitiv zu nicht linearen Ergebnissen führen müssen und schon gar nicht zu einer Rückkehr zu irgendeiner Art von „Gleichgewicht“, kann man diesem Gedanken nur zustimmen.
  • „Glücklicherweise sind adaptive Systeme in Natur und Gesellschaft allgegenwärtig. Wie man am besten mit ihnen umgeht, ist zudem in diversen Forschungsdisziplinen eingehend untersucht worden. (…) Diese Gemeinsamkeiten lassen darauf schließen, dass Erkenntnisse aus anderen Wissenschaftsdisziplinen auch rasch auf die Wirtschaftspolitik angewendet werden können.“ – bto: Das setzt voraus, dass die Politiker überhaupt ein Interesse daran haben, dass zu durchdenken. Es könnte zu unerwünschten Ergebnissen führen.
  • „Wenn politische Entscheidungsträger diese Komplexität des Wirtschaftssystems akzeptieren, lassen sich daraus zehn Lektionen ableiten, die ironischerweise ganz simpel sind.“ – bto: Na, dann schauen wir uns die doch mal an.

Die zehn Lektionen:

  • Es braucht Kompromisse:  Wie die Potenzgesetze aus der Mathematik vorgeben, brechen komplexe adaptive Systeme regelmäßig zusammen. Die Wirtschaftspolitik muss deshalb Effizienz gegen Nachhaltigkeit und Widerstandsfähigkeit abwägen. Diese Abwägungen wirken sich auf den Transmissionsmechanismus makroökonomischer Entscheide aus.“ – bto: Er nennt Beispiele wie Einkommens- und Vermögensverteilung als Folge von Entscheidungen. Billiges Geld zum Beispiel treibt Vermögenspreise.
  • Strukturen sind wichtig: Adaptive Systeme entwickeln zwar eine eigene, evolutionäre Dynamik. Strukturänderungen können aber helfen, wirtschaftspolitische Ziele einfacher zu erreichen. Es ist gut bekannt, dass Strukturreformen die Effizienz steigern können. Weniger bekannt scheint hingegen, dass Puffer, Redundanz und Modularität die Widerstandsfähigkeit eines Systems erhöhen können. Unnötige Komplexität sollte deshalb beseitigt werden.“ – bto: Das wirkt vor allem auf die Regulierung. Wenn wir viele Gesetze brauchen, ist es schwerer. Beispiel: Statt den Banken komplizierte Regeln zu geben, könnte man einfach die Eigenkapitalanforderungen deutlich erhöhen.
  • Minimieren statt maximieren: Wir werden adaptive Systeme nie vollständig verstehen können. Sie zu optimieren, übersteigt deshalb unsere Möglichkeiten. Weil Systemzusammenbrüche zu extrem negativen Resultaten führen können, sollte sich die Wirtschaftspolitik daher verstärkt darauf konzentrieren, solche negativen Ereignisse zu verhindern. Der Einsatz von hochgradig experimentellen Massnahmen (und Produkten) sollte deshalb nach dem Grundprinzip darauf beschränkt werden, keinen Schaden anzurichten.“ – bto: Jetzt sind wir bei der Frage, ob wir den richtigen Fokus haben. Seit Jahrzehnten setzen wir alles daran, selbst kleinste Krisen zu verhindern, mit der Folge, dass die Probleme uns immer mehr über den Kopf wachsen.
  • Mehr symmetrische Ansätze: Adaptive Systeme sind immer pfadabhängig. Ihr Ausgangspunkt legt damit fest, welche Ziele erreicht werden können. Wenn im Verlauf der Zeit Schulden angehäuft werden, macht das die Wirtschaft zusehends anfällig; sowohl für Inflation als auch Deflation. Um eine Anhäufung von Schulden zu vermeiden, sollten Geld- und Wirtschaftspolitik daher ebenso stark einer Überhitzung wie einer Abkühlung der Konjunktur entgegenwirken. Schulden im Privatsektor sollten zusätzlich limitiert werden (…).“ – bto: In der Tat dürfte der seit Jahrzehnten steigende Leverage des Systems die Krisenanfälligkeit deutlich erhöhen.
  • Das Unerwartete erwarten: Weil adaptive Systeme ihrem Namen gemäß anpassungsfähig sind, laufen wirtschaftspolitische Maßnahmen immer Gefahr, sich auf das letzte große Problem zu konzentrieren, das möglicherweise gar nicht mehr akut ist. Noch schlimmer: Oft sind es diese Richtlinien, die Verhaltensänderungen wie die Umgehung regulatorischer Auflagen und Moral Hazard ermuntern, die zum ursprünglichen Problem geführt haben. Die ständige Wiederholung fruchtloser Maßnahmen ist also keine Strategie.“ – bto: Ich denke, ein Blick auf die deutsche Wohnungspolitik genügt.
  • Fokus auf systemrelevante Risiken: In einem adaptiven System, das stark unter Stress steht, kann fast alles eine Krise auslösen. Umso wichtiger ist es, Indikatoren für wachsende Risiken zu entwickeln, welche die Stabilität des Systems gefährden können.“ – bto: Das machen wir konsequent nicht. Stattdessen springen wir auf das jeweils aktuelle Modethema.
  • Auf mehrere Indikatoren achten: In einem adaptiven System können viele Dinge falsch laufen. Fehlgeleitet ist beispielsweise der Glaube, dass Preisstabilität gemäß dem Konsumentenpreisindex auch makroökonomische Stabilität garantiere. Ähnlich ist der Fokus auf die finanzielle Stabilität (also die Stabilität des Finanzsektors) ungenügend, weil Probleme (wie wachsende Schulden von Unternehmen oder Haushalten) außerhalb des Finanzsystems entstehen können.“ – bto: Auch das leuchtet ein. Es sind grundsätzliche Dinge, die die Stabilität des Systems beeinträchtigen.
  • Prognosen sind unmöglich: (…) Auch wenn solche Systeme über lange Zeit hinweg stabil bleiben können, ist eine Prognose, dass es im selben Stil weitergeht, eine naive Extrapolation. Anstatt auf die Kommastelle genaue Prognosen zu machen, ist es deshalb klüger, alternative Szenarien auszuarbeiten, basierend auf der Einschätzung neu entstehender Risiken für die Systemstabilität. Das würde auch helfen, die Leute daran zu erinnern, dass radikale Unsicherheit ein zentrales Charaktermerkmal adaptiver Systeme ist.“ – bto: Und das gilt natürlich bei jeder Art von Eingriff in die Gesellschaft und Wirtschaft.
  • Vorbereitungen für eine Krise treffen: Weil Krisen in adaptiven Systemen unvermeidbar sind, sollten sich politische Entscheidungsträger frühzeitig darauf vorbereiten. Ernstfälle sollten deshalb regelmäßig durchgespielt werden, zumal Krisen auf unzählige Arten entstehen und eskalieren können. Daher sollten Absichtserklärungen zwischen verschiedenen Behördenstellen ausgehandelt und vereinbart werden. Es müssen Gesetze verabschiedet werden, die eine ordentliche Abwicklung regeln, falls es bei Unternehmen, Haushalten oder Finanzinstituten zu Insolvenz kommt.“ – bto: Im Kern ist auch das ein Denken in Szenarien.
  • Internationale Koordination: (…) Alle nationalen Entscheidungsträger müssen ihre wirtschaftspolitischen Maßnahmen deshalb im Hinblick darauf ausgestalten, wie sie entscheidungstragende Instanzen in anderen Ländern betreffen – und wie diese darauf reagieren werden. Solche Erwägungen limitieren jedoch auch die «Unabhängigkeit» von Zentralbanken und nationalen Regulatoren. (…) Das wirft die Frage nach der Durchführbarkeit nationaler Maßnahmen auf, die sich ausschließlich auf nationale Interessen konzentrieren.“ – bto: Beispielsweise hat die deutsche Energiewende ganz Europa durcheinandergebracht, ähnlich der  nicht abgestimmte Entscheid, die Zuwanderung des Jahres 2015 zuzulassen.

William Whites Fazit

„Ökonomen sagen gerne: ‘Es braucht ein Modell, um ein Modell zu ersetzen.’ Ein solches Modell haben wir nun: Die Wirtschaft ist ein komplexes, anpassungsfähiges System und sollte als solches behandelt werden. Die zehn oben beschriebenen, praktischen Lektionen für politische Entscheidungsträger sind damit einfach, aber revolutionär. Genau deshalb sollten wir sie in die Tat umsetzen. Wir brauchen einen Paradigmenwechsel, um von unserem gegenwärtigen Weg abzukommen, der unweigerlich zu einer Katastrophe führt.“ bto: Und wie gesagt, White weiß, wovon er spricht, hat er doch hautnah erlebt, wie die Ökonomen und Notenbankpräsidenten nicht gesehen haben, was da in Form der Finanzkrise auf sie zukam – und von ihnen mit verursacht wurde. Durch Eingriffe in das System.

themarket.ch:”Zehn einfache Lektionen für eine Wirtschaftspolitik in komplexen Systemen”, 19. August 2020