William White: Geld­politik am Ende des Weges

Am kommenden Sonntag habe ich einen ganz besonderen Gesprächspartner in meinem Podcast. William White hat fast fünfzig Jahre für Zentralbanken gearbeitet, zuletzt für die Bank für Internationalen Zahlungsausgleich in Basel, wo er bis 2008 Chefökonom war. Er war einer der wenigen, die die Finanzkrise kommen sahen, er hat auch den – wie ich finde – klarsten Blick auf das, was zu tun wäre. All dies sind Themen auch unseres Gespräches.

Zur Vorbereitung und Einstimmung bringe ich einige Beiträge von ihm, so Auszüge aus einem Interview mit The Market von der NZZ vor einigen Tagen. Wie immer die Highlights:

  • Mit Blick auf Corona: “(…) es war richtig, die fiskalpolitischen Schleusen zu öffnen, um einen Absturz der Wirtschaft zu verhindern. Ich bin dagegen skeptisch, ob eine noch lockerere Geldpolitik die richtige Antwort auf einen Schock dieser Art ist. In der Tat hoffe ich, dass wir diese Krise nutzen, um uns ernsthaft zu überlegen, ob die Geldpolitik der letzten dreissig Jahre mehr Schaden als Nutzen angerichtet hat.” – bto: Leser dieser Seiten wissen, dass ich das definitiv so sehe. Es ergeht den Notenbanken wie dem Zauberlehrling von Goethe. Sie bekommen das Monster nicht mehr unter Kontrolle.
  • “Die Regierungen sollten das Umfeld nutzen, um Geld mit langer Laufzeit zu günstigen Konditionen aufzunehmen. (…) Was ich mir wünsche, sind klare Richtlinien von Regierungen darüber, wie sie beabsichtigen, den Schuldenstand in Zukunft wieder zu senken. Ich spreche hier nicht von einer Schuldenbremse nach schweizerischem Vorbild, sondern von Leitlinien über künftige Ausgabenkürzungen und Steuererhöhungen. (…)  aber noch nicht jetzt. Das war der grosse Fehler nach der Finanzkrise: Die meisten Regierungen setzten zu früh auf Austerität und überliessen es den Zentralbanken, die Wirtschaft in Gang zu bringen. Das ist seit dreissig Jahren das Muster.” – bto: Es war auch das Muster, um auf den Angebotsschock aus China zu reagieren. Statt die Produktivität zu steigern, wurde auf Konsumentenkredite gesetzt.
  • “(…) in den Achtzigerjahren änderte sich das Glaubenssystem, die Fiskalpolitik geriet in Ungnade. Gleichzeitig wurde die Geldpolitik, beginnend 1987 mit Alan Greenspan an der Spitze des Fed, zum bevorzugten Instrument in allen Arten von Krisen. Wir befinden uns auf einem Pfad, auf dem die Geldpolitik als Instrument zur Förderung des realen Wirtschaftswachstums zunehmend unwirksam geworden ist. Jede Krise seit 1987 wurde mit monetärer Lockerung beantwortet. Das führte laufend zu höheren Schulden und wachsenden Instabilitäten im Finanzsystem – mit der Folge, dass die nächste Krise jeweils grösser war als die vorherige und grössere Interventionen erforderte. Da die Zentralbanken die Zinsen aber im Aufschwung nie so stark erhöhten, wie sie sie im Abschwung zuvor gesenkt hatten, nahm die Effektivität ihrer Interventionen laufend ab.” – bto: die berühmte asymmetrische Reaktion der Notenbanken. Eine Versicherung für Spekulanten und all jene, die mit Leverage arbeiten.
  • Im März 2020: “Das Fed hatte keine andere Wahl, als einzugreifen, um eine Kernschmelze zu verhindern. Aber diese drohende Kernschmelze war eine direkte Folge der Geldpolitik der Jahre zuvor. Indem die Zentralbanken mit zu niedrigen Zinssätzen versuchen, Wirtschaftswachstum zu schaffen, verführen sie Unternehmen und Haushalte dazu, mehr Schulden aufzunehmen. Zum Grossteil wurden diese Schulden aber nicht für produktive Investitionen, sondern für den Konsum oder, besonders in den USA, für den Rückkauf von Aktien verwendet. Das führt zu zunehmenden Instabilitäten im Finanzsystem. Diese Instabilitäten eskalierten im März, und das Fed musste die Panik stoppen. Die Zentralbanken schaffen Instabilitäten, dann müssen sie das System in der Krise retten, und dadurch schaffen sie noch mehr Instabilitäten. Sie schiessen sich selbst immer wieder in den Fuss.” – bto: Deshalb passt das Bild von dem Zauberlehrling so gut. Die Frage ist aber diese: Die Schulden sind ja noch da, wie bekommen wir die auf ein nachhaltiges Niveau?
  • “Das ist meine Definition der Schuldenfalle: Die Zentralbanker wissen, dass sie die Zinsen nicht so niedrig belassen können, weil sie damit noch mehr faule Schulden und schlechtes Verhalten induzieren. Aber sie können die Zinsen nicht erhöhen, weil sie dann genau die Krise auslösen würden, die sie zu vermeiden versuchen. Sie sind gefangen.” – bto: Und alle spekulieren darauf, dass das auch so bleibt. Weil alle es wissen, treibt dies die Verschuldung zusätzlich weiter an. Ich kenne niemanden, der nicht versucht, sich bei den tiefen Zinsen zu verschulden, um etwas zu kaufen, von dem er glaubt, der Preis würde weiter steigen.
  • “2008 betrug das Verhältnis der weltweiten Verschuldung der Haushalte, Unternehmen und Staaten zum BIP 280%. Anfang 2020 war es auf 330% angestiegen. Nicht nur die Quantität der Schulden ist problematisch, sondern auch die Qualität. Der grösste Teil der neuen Unternehmensschulden hat ein BBB-Rating. Der Grund dafür ist die ultralockere Geldpolitik, die wir nach 2008 erlebt haben. Die Regierungen sind – wie erwähnt – fiskalpolitisch zu früh auf die Bremse getreten und haben den Zentralbanken die Aufgabe überlassen, Wirtschaftswachstum zu schaffen. Das war ein Fehler, den wir jetzt vermeiden müssen.” – bto: Auch hier sind wir am Ende der Wirkung. Die Verschuldungskapazität nähert sich im System der Grenze.
  • “Seit Ende der Achtzigerjahre hatten wir eine Reihe positiver Angebotsschocks, allen voran die Etablierung Chinas als Produktionsstandort sowie den Zusammenbruch des Sowjetblocks. Mehrere hundert Millionen Arbeiter traten so in die kapitalistische Weltwirtschaft ein. Das wirkte stark disinflationär. (…) Es gibt Zeiten niedriger Inflation oder Deflation, die für die Zentralbanken kein Grund zur Sorge sein sollten. Was soll daran falsch sein, wenn die Preise aufgrund von Produktivitätssteigerungen sinken? Produktivitätssteigerungen bringen Unternehmen höhere Gewinne und niedrigere Preise, was den Konsumenten zu Gute kommt. Es gibt eine reiche Vorkriegsliteratur zum Thema der gutartigen Deflation, aber unsere Zentralbanker haben das vergessen.” – bto: Haben sie das oder haben sie bewusst auf billiges Geld gesetzt, um zu stimulieren, also nicht wegen der geringen Inflation, sondern wegen der stagnierenden Einkommen.
  • “Es gibt keine Rückkehr zu einer Form von Normalität, wenn wir uns nicht mit dem Schuldenüberhang befassen. Das ist der Elefant im Raum. Wenn wir uns einig sind, dass die Geldpolitik der letzten dreissig Jahre einen immer grösseren Schuldenberg und immer grössere Instabilitäten im System geschaffen hat, dann müssen wir dieses Problem lösen. Der Schuldenüberhang muss weg.” – bto: Kernthema von bto. Ich bin gespannt, wie er das lösen möchte.
  • “Theoretisch gibt es vier Möglichkeiten, einen Schuldenüberhang abzubauen. Erstens: Haushalte, Unternehmen und Regierungen sparen mehr, um Schulden zurückzuzahlen. Aber wir wissen, dass man dadurch in das von Keynes beschriebene Paradox der Sparsamkeit gerät, in dem die Wirtschaft kollabiert. Zweitens: Sie können versuchen, sich durch höheres reales Wachstum einen Weg aus dem Schuldenüberhang zu bahnen. Aber wir wissen, dass genau dieser Schuldenüberhang das reale Wachstum behindert. Natürlich sollten wir versuchen, durch Strukturreformen das Wachstumspotenzial zu erhöhen, aber das wird uns nicht retten. Damit bleiben zwei Wege: Höheres Nominalwachstum – also Inflation –, oder der Versuch, faule Schulden durch Abschreibung loszuwerden.” – bto: Er ist hier vorsichtiger geworden. Vor zehn Jahren erwähnte er auch noch Vermögensabgaben. Das ist vermutlich auch deshalb nicht auf der Agenda, weil dieser Schritt zu einem Kollaps der Assetpreise und damit zu einer noch größeren Krise führt.
  • “Wahrscheinlich eine Kombination, aber alle diese Wege sind sehr mühsam. (…) Ich halte es aber für gefährlich, von der Annahme auszugehen, die Natur der Wirtschaft sei verständlich und damit kontrollierbar. Ich sehe die Wirtschaft als komplexes, adaptives System, voller Kipppunkte. Wir sollten nicht davon ausgehen, dass wir es kontrollieren können. Vielleicht erweist es sich unter depressiven Umständen als unmöglich, die Inflation zu erhöhen, vielleicht steigt sie aber auch plötzlich höher, als uns lieb ist.” – bto: Ich frage mich an dieser Stelle, ob und wie sehr die Finanzierung des Green Deal die Welt verändert.
  • White ist für Umschuldungen und Abschreibungen?: “Das Problem anpacken, versuchen, die faulen Schulden zu identifizieren und sie so geordnet wie möglich umstrukturieren. Leider wissen wir aber, wie schwierig es ist, Gläubiger und Schuldner zusammenzubringen, um das Problem kooperativ zu lösen. Unsere derzeitigen Verfahren sind unzureichend.” – bto: Vor allem haben wir es mit so vielen Schuldnern zu tun: Staaten, aber auch Privatsektor. Banken verkraften die Schulden sicherlich nicht.
  • Dann doch lieber weiter wie bisher? Die Frage ist berechtigt, schreibe ich doch auch schon seit Jahren über die Probleme der hohen Verschuldung und nichts passiert? “Da haben Sie nicht unrecht, schliesslich haben wir bei der BIZ schon vor zwanzig Jahren vor der Schuldenfalle gewarnt. Ich erinnere mich an den Ökonomen Herb Stein, der einmal sagte, wenn etwas nicht ewig weitergehen kann, wird es aufhören. Worauf Rudi Dornbusch sagte: Ja, aber es wird viel länger weitergehen, als man erwartet. Ein Grund dafür, nichts zu ändern, ist in der Tat das Argument, dass es bisher funktioniert hat. Wenn wir uns aber einig sind, dass die Geldpolitik der letzten dreissig Jahre zu steigender Verschuldung und Instabilität geführt hat, und wenn wir uns einig sind, dass dieser Weg zu immer grösseren Krisen führt, dann wäre es absurd, auf diesem Weg zu bleiben, bloss weil alle anderen mühsam sind.” – bto: Es ist aber auch politisch gefährlich. Für Politiker gibt es keinen Nutzen, nur Schaden. Es ist besser, das Problem dem Nachfolger überlassen.
  • “Das Fed stoppte die Panik. Aber was, wenn die Märkte abrupt das Vertrauen in die Fähigkeiten des Fed verloren hätten? Wir wissen im Nachhinein, dass es funktioniert hat, aber wir wissen nicht, wie das System in Zukunft reagieren wird. Wir dürfen uns nicht zu viel Wissen anmassen – das hatten Hayek und Keynes, die gemeinhin als Widersacher bezeichnet werden, verstanden. Zentralbanker, ja alle Makroökonomen, sollten viel bescheidener sein, als sie es sind.” – bto: Das gilt übrigens auch für die Klimaforscher, die uns mit Bestimmtheit irgendwelche Szenarien vorrechnen.
  • “Erstens müssen wir ein System aufbauen, das sich stärker auf produktive Investitionen stützt. Ich erwähnte, dass die Fiskalpolitik Spielraum hat: Es gibt viel Potenzial für sinnvolle Investitionen in die Infrastruktur, besonders in Amerika und Europa. Schulden sind kein Problem, solange sie für produktive Investitionen genutzt werden. Zweitens: Wir brauchen ein Unternehmenssystem, das sich mehr auf Eigenkapital und weniger auf Schulden stützt. (…)  Drittens: Wir brauchen ein System mit mehr Wettbewerb und weniger Konzentration. In unserem Unternehmenssystem haben sich im Stillen Monopole gebildet, und diese nutzen ihre Macht für politischen Einfluss. Viertens müssen wir erkennen, dass die Probleme in unserem Politsystem – Populismus, Misstrauen – ihre Wurzeln im Wirtschaftssystem haben, besonders in der steigenden Ungleichheit.” – bto: Zustimmung bis auf den Punkt Ungleichheit. Diese liegt auch am “System”, aber vor allem an der Geldpolitik.

themarket.ch (Anmeldung erforderlich): „‘Die Zentralbanken schiessen sich selbst immer wieder in den Fuss’“, 16. November 2020