Kernkraft wird nur in Euro­pa keinen Beitrag zum Klima­schutz leisten

In der entscheidenden Woche vor der Bundestagswahl geht es nur noch um die Rettung des Weltklimas im Alleingang durch den Verzicht auf das Auto und eine allgemeine Einschränkung des Lebens. Klingt scheinbar für viele nach einem Gewinnerthema.

Nun gut, Grund genug, mich zu fragen, warum denn auch in anderen Ländern die Atomkraft tabuisiert wird. Zumindest in Europa. Die Neue Zürcher Zeitung (NZZ) hatte dazu vor einigen Wochen einen interessanten Artikel:

  • Weshalb ersetzt man Kernkraftwerke nicht einfach durch Wind und Sonne? Die Kernkraft hat einen riesigen Vorteil: Die vier noch in Betrieb stehenden Schweizer Kernkraftwerke liefern fast rund um die Uhr zuverlässig Strom – im Schnitt etwa während 85 % der Jahresstunden. Diese Leistung ist gerade im Winter wertvoll, weil dann die Flüsse wenig Wasser führen und deshalb die Produktion aus Wasserkraft geringer ist als im Sommer. Für die Versorgungssicherheit sind Kernkraftwerke somit ein Trumpf.“ – bto: Ich hatte an dieser Stelle vor einigen Monaten die hypothetische Rechnung, wie groß ein Stausee in der Schweiz sein müsste, um das zu ersetzen.
  • Strom aus Wind und Sonne dagegen schwankt stark und ist wenig zuverlässig. Erneuerbare brauchen deshalb ein ‘Back-up’. Das kann entweder die Kernkraft sein, wobei die Atommeiler stetig laufen sollten. Ein ständiges Hoch- und Herunterfahren im Fall eines sehr hohen Anteils von Wind- und Solarstrom würde Kernkraft unwirtschaftlich machen. Oder man stützt sich auf Speicher- oder Gaskraftwerke ab. Letztere sind sehr flexibel zu- und abschaltbar, hinterlassen mit ihren CO2-Emissionen aber einen grossen ökologischen Fussabdruck.“ – bto: Das ist der Grund, warum bei uns, wo doch die „Sonne keine Rechnung“ schickt, die Stromkosten durch die Decke gehen. Das hat nichts mit der angeblichen Gier der Unternehmen zu tun, sondern ist schlichtweg Physik.
  • Die Nuclear Energy Agency (NEA), die bei der OECD angesiedelt ist, hat sich gefragt, wie ein wirtschaftlich optimales Stromsystem für ein mittelgrosses Land aussehen würde, das weitgehend klimaneutral ist, mit dem man also die Pariser Klimaziele erfüllen würde. Dabei gehen die Ökonomen davon aus, dass die Kosten für Solarstrom noch einmal um 60 % und diejenigen von Wind um ein Drittel fallen werden. Der optimale Strommix liefe laut Jan Horst Keppler von der NEA auf rund 35 % Solar- und Windstrom und auf 40 % Nuklearstrom hinaus. Der Rest würde durch Wasserkraft und flexible Gaskraftwerke bestritten.“ – bto: O. k., mag man da sagen, ist eine Atomagentur. Aber ehrlich gesagt, leuchtet das ein.
  • Bei der Optimierung gilt es zwischen zwei Kräften abzuwägen: Solar- und Windstrom werden zwar immer billiger. Doch je mehr davon eingesetzt wird, desto stärker steigen die Systemkosten, weil das Angebot oft nicht mit der Nachfrage übereinstimmt. Es wird also immer teurer, immer und überall die Versorgung sicherzustellen. Mit dem Anpassen der Nachfrage, der Speicherung oder mit flexiblen Gaskraftwerken muss man darauf reagieren.
    Bei einem Anteil von 50 % Solar- und Windstrom machen diese Systemkosten laut NEA rund 3 Rp. je Kilowattstunde aus. Damit diese Kosten nicht zu hoch werden, nimmt man deshalb einen guten Teil zuverlässige Nuklearenergie in den Mix, die ebenfalls kein CO₂ produziert.“ – bto: Letzteres macht man, wenn man rational und nicht ideologisch verblendet agiert.
  • Deutschland stellt nächstes Jahr die letzten Kernkraftwerke ab, Belgien 2025 und Spanien 2035. Allerdings gibt es mit Schweden, Finnland, Frankreich und Grossbritannien auch Gegenbeispiele, also Länder, die an der Kernkraft festhalten. Jedenfalls stellt sich die Frage, ob man nicht noch einmal über die Bücher gehen sollte, wenn die Kernkraft ein so zentraler Pfeiler einer CO2-freien Stromversorgung ist.“ – bto: Natürlich sollte man das. Aber es ist ja leichter, den Leuten den Strom für die Wärmepumpe abzudrehen, wenn er mal knapp ist. Können sich ja wärmer anziehen.
  • Laut Andreas Pautz, Professor für nukleare Energie und Sicherheit am Paul-Scherrer-Institut (PSI), ist statistisch gesehen bei Kernkraftwerken der zweiten Generation etwa alle 10 000 Jahre mit einer Kernschmelze zu rechnen. Da es weltweit rund 440 Reaktoren gibt, könnte es also grob gerechnet alle 25 Jahre zu einem gravierenden Unfall mit möglicherweise verheerenden Folgen kommen. Allerdings lasse sich diese Häufigkeit mit Nachrüstungen, wie sie in praktisch allen schweizerischen und europäischen Kernkraftwerken durchgeführt wurden, deutlich senken.“ – bto: Das ist der Stand für die alten Kraftwerke. Die neueren sind noch besser: „Bei Kernkraftwerken der dritten Generation sei diese Wahrscheinlichkeit laut Herstellerangaben nochmals zehn- bis hundertmal geringer, sagt Pautz.“ – bto: Auch das interessiert unsere Ideologen nicht, aber außerhalb Europas schon, dort wird fleißig gebaut.
  • Es fehlt in Europa eine intakte Lieferkette für ein solch gigantisches Projekt. Anders ist dies in den Schwellenländern Russland, China und Südkorea. Während in Hinkley Point C jedes Gigawatt installierte Leistung 9 Mrd. Fr. kostet, betragen die entsprechenden Aufwendungen in den genannten Schwellenländern lediglich ein Drittel davon. In China gibt es laut Pautz zwei grosse Reaktorbaulinien, von denen dann gleich 15 bis 20 Stück geplant würden. So lassen sich Grössenvorteile realisieren. Auch blieben Südkorea und China mit Bauzeiten von 5 bis 7 Jahren oft im Plan (…).“ – bto: Es sind halt Länder, die gelernt haben, was wir verlernt haben.
  • Aus diesen Überlegungen lassen sich drei Schlussfolgerungen ziehen: Erstens ist der Strom aus schon bestehenden Kernkraftwerken meist konkurrenzfähig. Der Staat sollte deshalb den Betreibern die Gelegenheit geben, die maximale Lebensdauer auszuschöpfen. 60 Jahre sind in den meisten Fällen mit entsprechenden Nachrüstungen möglich, in den USA wurden schon Betriebsbewilligungen für 80 Jahre genehmigt.“ – bto: was in Deutschland auch möglich sein sollte.
  • Weniger vorteilhaft sieht es, zweitens, jedoch für neue Kernkraftwerke aus. Wenn es in Europa an neuen Projekten fehlt, kann sich keine Lieferkette entwickeln und kann man kaum Skaleneffekte erreichen. Investoren werden sich so kaum finden lassen. Der letzte Schrei sind derzeit zwar kleinere, flexiblere modulare Reaktoren, bei denen auch das Investitionsrisiko geringer sein soll. Doch vor 2035 dürften solche Designs kaum zur Verfügung stehen – zudem käme das derzeit wichtigste solche Projekt in den USA ohne kräftige staatliche Hilfe kaum vom Fleck.“ – bto: Rolls-Royce sieht hier ein großes Marktpotenzial und will die vorhandene Technologie aus U-Boot-Antrieben nutzen.
  • “Erschwerend kommt, drittens, hinzu, dass die Systemleistung nicht adäquat vergütet wird, also der Vorteil, dass Kernkraft im Gegensatz zu Strom aus Wind und Sonne zuverlässig zur Verfügung steht. Im Fall von Hinkley Point wurde EdF von Grossbritannien aus diesem Grund ein hoher Abnahmepreis für 35 Jahre garantiert. Die Kritiker sprechen von Subventionen, man kann aber auch von einer Prämie für Zuverlässigkeit sprechen, wenn ihre Höhe auch höchst umstritten ist.” – bto: Das leuchtet mir alles ein, denn ich bin kein Ideologe.

nzz.ch: „Wieso in Europa fast keine Kernkraftwerke mehr gebaut werden und weshalb dies keine gute Nachricht ist“, 24. Juli 2021