Wie viel Schulden sind zu viel?

Gestern haben wir im Podcast die nüchternen Gedanken von William White gehört. Es gibt keinen schmerzfreien Weg aus der Situation, in die wir uns manövriert haben. Doch ist es wirklich schon so ein Problem?

Der angesehene Ökonom Raghuram G. Rajan, eine Zeit lang Chef der indischen Nationalbank und derzeit Professor an der University of Chicago Booth School of Business diskutiert die Frage, wie viele Schulden “zu viel” sind in einem Beitrag für Project Syndicate:

  • “Das kumulative Schuldenniveau übersteigt nun in vielen entwickelten Ländern das BIP, und im Durchschnitt betrachtet nähert sich die Verschuldung als Anteil vom BIP, was die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg angeht, inzwischen Höchstständen.” – bto: Das wissen wir schon lange und es wäre auch so dazu gekommen – nur etwas langsamer.
  • “Trotzdem können es sich die hoch entwickelten Volkswirtschaften laut Olivier Blanchard und anderen Ökonomen angesichts des niedrigen Zinsniveaus leisten, noch viel mehr Schulden zu machen. Berechnungen anhand von Daten des Internationalen Währungsfonds zeigen, dass die staatlichen Zinszahlungen in den zwei Jahrzehnten vor der Pandemie in diesen Ländern von über 3 % vom BIP auf rund 2 % gesunken sind, obwohl sich die Schuldenquoten um mehr als 20 Prozentpunkte erhöht haben. Und da für einen großen Teil der neu ausgegebenen Staatsanleihen inzwischen Negativzinsen gezahlt werden, dürfte die zusätzliche Kreditaufnahme den Zinsaufwand noch weiter verringern.” – bto: Nein, die Staaten machen sogar einen Gewinn damit. Alles gut also!
  • “Welche Grenzen sind der staatlichen Kreditaufnahme in dieser seltsamen Welt ultraniedriger Zinssätze gesetzt? Laut den Befürwortern der modernen Geldtheorie gar keine, zumindest was Länder angeht, die Anleihen in eigener Währung ausgeben können und noch freie Produktivkapazitäten haben. Schließlich könne die Notenbank einfach Geld drucken, um fällig werdende Anleihen zu tilgen, und dies würde nicht zu Inflation führen, solange es eine beträchtliche Arbeitslosigkeit gebe. Kein Wunder also, dass die moderne Geldtheorie für Politiker, die sich zur Abmilderung sämtlicher Probleme für höhere Staatsausgaben aussprechen, die Idee der Wahl ist.” – bto: auch für mich. Es wird ein schwieriges Experiment – William White erwähnt gar Weimar –, aber die Alternativen sind auch nicht schön. Mit Inflation kann man wenigstens umgehen.
  • “Natürlich sollte man jeder ‘Theorie’, die etwas gratis verspricht, mit Skepsis begegnen. (…) Nehmen wir an, wir befänden uns in einem normalen Umfeld positiver Zinssätze. Die Notenbank könnte beschließen, Geld zu drucken, um Staatsanleihen aufzukaufen, und die Regierung könnte dieses Geld dann ausgeben, indem sie es an die Bürger überweist. (Diese werden) die staatlichen Transferleistungen auf ihre Bankkonten einzahlen, und die Bank wird dann all das angesammelte Bargeld als Einlagen bei der Notenbank einzahlen. Letztlich hat die Notenbank damit Staatsanleihen aufgekauft, indem sie den Handelsbanken Einlagen verschafft hat, für die die Banken dann Zinsen haben wollen. Die Regierung hätte also genauso gut Staatsanleihen an die Handelsbanken ausgeben können. Die Zinskosten wären mehr oder weniger dieselben. Der einzige Unterschied wäre, dass es nicht so schiene, als wäre das Ganze umsonst zu haben.” – bto: das unter der Voraussetzung, dass den Banken Zinsen auf die Einlagen gezahlt werden.
  • “Im heutigen unnormalen Umfeld kann die Notenbank den Kauf von Staatsanleihen durch Schaffung unverzinster Einlagen der Handelsbanken finanzieren, die ihrerseits bereit sind, große Mengen derart hochliquider Reserven zu halten. Dies klingt nach einem Nirwana moderner Geldtheorie. Doch auch in diesem Fall könnte die Regierung genauso gut unverzinste Staatsanleihen an die Handelsbanken ausgeben. Wenn die Handelsbanken sich nicht sträuben, enorme Mengen an Forderungen gegenüber der Notenbank (Einlagen) zu halten, sollten sie sich auch nicht sträuben, enorme Mengen an Forderungen direkt gegenüber der Regierung zu halten, deren Tochterunternehmen die Notenbank ist.” – bto: Auch das klingt nachvollziehbar. Wir wissen ja auch, dass QE letztlich nur die Überschussreserven der Banken erhöht hat, da diese ja kein Zentralbankgeld verleihen, sondern ihr selbst geschaffenes.
  • “Die von der modernen Geldtheorie propagierte Finanzierung über die Geldpolitik ist Schall und Rauch. Natürlich kann die Regierung durch eine Finanzierung über die Notenbank kurzfristige Turbulenzen an den Geldmärkten vermeiden. Mittelfristig jedoch ermöglicht es ihr dieser Ansatz nicht, mehr Geld aufzunehmen, als sie direkt hätte aufnehmen können. Tatsächlich ist es, wenn die langfristigen Zinsen ebenfalls niedrig oder negativ sind, deutlich besser, sich diese Zinssätze zu sichern, indem man direkt an den Märkten langfristige Schuldverschreibungen begibt und die Notenbank komplett aus dem Spiel lässt.” – bto: weil man damit die Enteignung durch Inflation besser umsetzen kann.
  • “Dies bringt uns zurück zur ursprünglichen Frage, wie viel Anleihen eine Regierung ausgeben kann. Es reicht nicht, dass eine Regierung sicherstellt, dass sie sich ihre Zinszahlungen leisten kann; sie muss zudem nachweisen, dass sie und ihre Nachfolger die aufgenommenen Kredite zurückzahlen können. Einige Leser werden jetzt protestieren, dass eine Regierung ihre Schulden nicht zurückzahlen muss, weil sie neue Anleihen ausgeben kann, um fällig werdende Schulden zu begleichen. Doch werden die Anleger neue Anleihen nur kaufen, wenn sie überzeugt sind, dass die Regierung ihre sämtlichen Schulden aus ihren kommenden Einnahmen bezahlen kann.” – bto: oder aber ein anderer als Schuldner einspringt, was die Strategie in der EU ist.
  • “Es gibt eine Grenze, doch wenn die aufgenommenen Gelder in renditestarke Infrastrukturprojekte investiert werden, wird diese vermutlich nie getestet – die zusätzlichen künftigen Einnahmen werden für die zusätzlichen Schulden bezahlen. Wird das Geld allerdings für die dringend erforderliche Unterstützung armer und gefährdeter Haushalte ausgegeben, wird diese Grenze irgendwann deutlich werden.” – bto: Und wofür werden die Gelder aus dem EU-Rettungsfonds verwendet? Genau. Auch wenn damit Solardächer gefördert werden, bringt es keine künftigen Cashflows.
  • “Der einfachste Weg (zum Schuldenabbau) ist durch Zahlungsausfälle bei den alten Verpflichtungen, doch würden die Regierungen der meisten hoch entwickelten Volkswirtschaften dies als undenkbar betrachten. Die Alternative ist, eine höhere Inflation zuzulassen, die den auf aktuelle Dollars lautenden Schuldenbestand gegenüber künftigen Steuereinnahmen aushöhlen würde. Die Inflation träte in diesem Fall nicht deshalb auf, weil innerhalb der Volkswirtschaft Vollbeschäftigung herrscht (wie die Vertreter der modernen Geldtheorie argumentieren), sondern weil die Regierung die Grenze erreicht hat, bis zu der sie ihre Schulden noch zurückzahlen kann.” – bto: Inflation als politisches Phänomen.
  • “Natürlich werden die hoch entwickelten Volkswirtschaften so schnell nicht zu einem Simbabwe werden (wenn überhaupt). Doch ermutigt eine politische Polarisierung, wie sie in einigen von ihnen herrscht, normalerweise zu höheren Ausgaben ohne höhere Einnahmen; viele Schwellenmärkte können ein Lied davon singen. Und wenn es hierzu käme, wäre es nicht überraschend, wenn wir in ein paar Jahren eine etwas höhere Inflation erleben würden.” – bto: So ist es. Hinzu kommt der demografische Umbruch.

project-syndicate.org: “Wie viel Schulden sind zu viel?”, 30. November 2020