Wie Linke vom Staats­versagen ab­lenken (wollen)

Der bekannte linke Vordenker Herfried Münkler bleibt auf Linie. Unvergessen seine Unterstützung der humanitären Hilfe im Zuge der Migrationskrise mit (schwachen) ökonomischen Argumenten:

„Zuwan­derung ist die falsche Stra­tegie“

Nun muss er natürlich aktiv werden, um vom Versagen der EU und des deutschen Staates abzulenken. Ganz im Sinne von, es sei natürlich “Marktversagen” oder “der Kapitalismus ist schuld”. Thesen, die ich schon gründlich zerlegt habe:

Das Märchen vom Versagen des Kapitalismus

Nun bietet dem Vorzeige-Intellektuellen die NZZ das seriöse Forum, um das Versagen der EU auf “neoliberales Gedankengut” zurückzuführen! Die “Highlights” der Argumentation:

  • China etwa hat rund fünfzig Ländern Impfstofflieferungen in der Grössenordnung von 500 Millionen Dosen zugesagt. Dies jedoch nicht als humanitäre Hilfe oder mit dem Argument, man sei im eigenen Land vor der Pandemie erst sicher, wenn alle Welt geimpft sei. Chinas Ziel ist eine Erweiterung von Einflussgebieten durch die Herstellung von Abhängigkeit. Impfstofflieferungen sind hier das, was früher einmal Militärhilfen waren (…) In Putins Russland sieht man das ähnlich und setzt Sputnik V in diesem Sinn strategisch ein. Die EU kann das nicht – und sie will es auch nicht.“ – bto: Es ist nicht neu. China hat auch Hilfsgüter nach Italien geschickt, nachdem wir den Export verboten haben. Die Seidenstraße ist auch so ein Thema. Die EU möchte doch lieber moralisch überlegen sein und das Weltklima im Alleingang retten. Kurz gesagt: Die EU ist auf die Verteilung, um nicht zu sagen, auf möglichst schnelle Vernichtung von Wohlstand fokussiert.
  • Sie kann es nicht, weil sie die Kapazitäten zur Impfstoffproduktion erst schaffen muss und vorerst nicht einmal in der Lage ist, den eigenen Bedarf zu decken. Seit dem Frühjahr 2020 ist man allzu zögerlich und wohl auch zu knausrig an die Impfstoffbeschaffung herangegangen und hatte auch zuvor keine strategischen Reserven angelegt (…).“ – bto: Wie wir wissen, ist das eklatantes Staatsversagen. Schon vor einem Jahr wurde empfohlen, die Kapazitäten zur Impfstoffproduktion sofort aufzubauen (Bill Gates, Karl Lauterbach) und geschehen ist nichts. Als die ersten Impfstoffe sich abzeichneten, kaufte man lieber nichts. Als man dann viel später als andere einkaufte, blickte man auf den Preis und achtete auch auf nationalen Proporz (Sanofi).
  • Das europäische Impfstoffdesaster ist nicht zuletzt eine Folge neoliberalen Denkens und Handelns, bei dem man auf globale Lieferketten vertraut und das strategische Ausnutzen von Knappheit seitens der Konkurrenten völlig übersehen hat. Die Folge: Unter den reichen Regionen des globalen Nordens gehören die Europäer in der Impfstatistik zu den Schlusslichtern – mit Ausnahme von Grossbritannien. bto: Jeder „Neoliberale“ hätte Kapazitäten aufgebaut und Impfstoffe bestellt von jedem für jeden. Denn „Neoliberale“ können rechnen. Es ist planwirtschaftliches Denken, verbunden mit nationalistischen Ränkespielen.
  • Das macht das EU-Versagen umso bitterer, denn gerade im Umgang mit einer globalen Herausforderung wie dieser Pandemie hätte man die Überlegenheit einer staatenübergreifenden Gemeinschaft gegenüber dem aus der Union ausgeschiedenen Vereinigten Königreich unter Beweis stellen können – ja müssen. Dass das Gegenteil der Fall war, ist eine Hypothek für den weiteren Zusammenhalt der EU.“ – bto: Das ist schon dumm, wenn es Wettbewerb gibt, vor allem, wenn man ihn verliert. Das mögen unsere Akteure gar nicht. Deshalb ja die mühsamen Brexit-Verhandlungen.
  • In der gegenwärtigen Lage ist den Politikern ganz selbstverständlich das Hemd näher als der Rock, was heisst: Die eigene Wiederwahl rangiert vor der gesamteuropäischen Solidarität, die zu einer blossen Zumutung ohne Aussicht auf Problembewältigung geworden ist. Hier rächt sich, dass die Spitze der EU nicht qua Wahl der europäischen Bevölkerung gegenüber verantwortlich ist, sondern dass sie aus Proporzkalkülen hervorgegangen ist. Der Einfluss der Wähler, ihre wachsende Verärgerung und der damit verbundene politische Handlungszwang machen sich nur unterhalb der Ebene der Union bemerkbar. Mit der Folge, dass sich das Demokratieprinzip in der EU zu einer zentrifugalen Kraftentwickelt hat. bto: Die EU funktioniert nur als Umverteilungsmaschine. Fällt das weg, gibt es keinen politischen Grund, Autonomie an die EU abzutreten.
  • Dass die Brüsseler Kommission und die nationalen Regierungen nicht können, was man von ihnen erwartet, ist das eine. Dass sie aber auch manches, was sie könnten, nicht wollen, ist das andere. Das führt zurück zum Einsatz des Impfstoffs als Instrument geopolitischer Einflusssicherung. Da ist zunächst die Hinnahme des Ausscherens einiger Mitgliedsländer aus dem europäischen Impfregime. Das hat zur Folge, dass der Druck auf jene Regierungen wächst, die zugunsten einer europäischen Versorgung auf einen nationalen Zugriff verzichtet haben. Warum Solidarität mit denen, die sich selbst unsolidarisch zeigen?“ – bto: So ist die Logik: Wir sterben gemeinsam, statt uns zu retten. Das klingt so, als würde man die Rettungsboote auf einem sinkenden Schiff verbieten, denn selbstverständlich sollen alle gemeinsam ertrinken. Wo kommen wir denn hin, wenn sich welche retten? Das wäre ungerecht. Dieses Denken zeigt uns – analog zu den real existierenden sozialistischen Regimen So ist die Logik: Wir sterben gemeinsam, statt uns zu retten. Das klingt so, als würde man die Rettungsboote auf einem sinkenden Schiff verbieten, denn selbstverständlich sollen alle gemeinsam ertrinken. Wo kommen wir denn hin, wenn sich welche retten? Das wäre ungerecht. Dieses Denken zeigt uns – analog zu den real existierenden sozialistischen Regimen –, welches Bild hier herrscht und wie man die „Institution“ bzw. die „Idee“ über das Menschenleben stellt, welches Bild hier herrscht und wie man die „Institution“ bzw. die „Idee“ über das Menschenleben stellt.
  • Die russische wie die chinesische Karte, die von Griechen, Ungarn und anderen gegenüber Brüssel, Berlin und Paris immer als Drohung in der Hinterhand gehalten wurden und den Ausschlag dafür gaben, dass man stillhielt, sind inzwischen ausgespielt. Jetzt besteht die Möglichkeit, die fraglichen Länder zu einer definitiven Entscheidung zu zwingen: mit und in oder ohne und dann wohl auch gegen ‘Europa’, aber nicht länger beides zugleich. Die EU, überdehnt und überfordert, könnte so wieder an politischem Gewicht gewinnen. Aber dazu müssten Berlin und Paris die Initiative ergreifen. Sie müssten darauf setzen, dass der Umbau der EU zu einem globalen Akteur bei der Schaffung einer neuen Weltordnung wichtiger ist als die Stabilisierung eines Raumes, der eine politische wie fiskalische Last ist.“ – bto: Wie soll eine EU, die überdehnt ist, keinen Plan hat, nicht erkannte, dass der Verlust Großbritanniens ein strategisches, existenzielles Problem darstellt und die reformunfähig ist, „an politischem Gewicht gewinnen“, wenn sie bei allen relevanten Zukunftstechnologien hinten hängt?

nzz.ch: „Europa ist der Konkurrenz nicht gewachsen“, 16. März 2021