Wie Deutsch­land mit dem Gas­mangel fertig wird

Die Gruppe der Ökonomen um Rüdiger Bachmann, die bereits vor Monaten für einen Gasimportstopp eingetreten ist und die ökonomischen Folgen für beherrschbar hielten, haben ihre Analyse aktualisiert. Darüber sprach mit einem der Autoren, Prof. Moritz Schularick, und über seine ebenfalls in diesen Tagen erschienene Studie zur Vermögensverteilung in Deutschland. Siehe Podcast am 21. August 2022.

Hier nun die Highlights aus dem Papier zum Thema Gas – “Wie es zu schaffen ist”:

  • „Im Fall eines Komplettausfalls russischer Gaslieferungen in den nächsten Wochen muss Deutschland seinen Gasverbrauch bis zum Ende der kommenden Heizperiode (April 2023) um etwa 25 % (bzw. 210 TWh) reduzieren, auch wenn die geplanten Flüssiggasterminals im Winter wie geplant in Betrieb gehen. Wenn man die Einsparungen im Gasverbrauch einrechnet, die sich durch alternative Energiequellen in der Stromerzeugung erzielen lassen, verbleibt eine Anpassung von rund 20 %, die von Industrie, Haushalten, Gewerbe und dem öffentlichen Sektor getragen werden muss. Eine solche Reduktion ist bei einer kollektiven Anstrengung umsetzbar, wenn schnell Maßnahmen getroffen werden, um Gas einzusparen. Die gute Nachricht unserer Studie ist insofern, dass Deutschland ohne russisches Gas durch den Winter kommen kann. Panikmache ist fehl am Platz.“ – bto: Die Autoren merken an, dass man schnell handeln muss. Später bemängeln sie jedoch, dass die Politik genau dies nicht tut.
  • Gleichwohl sollte jedem klar sein, dass der russische Überfall auf die Ukraine Deutschland dauerhaft ärmer gemacht hat. Die Zeiten billiger Energie sind vorbei und kollektive Anstrengungen notwendig, um die Wirtschaft krisenfest zu machen. Eine Verbrauchsreduzierung ist zwar machbar, aber mit ökonomischen Kosten verbunden. Insbesondere zur Substitution von Gas im industriellen Bereich und bei der Stromerzeugung bleibt jetzt deutlich weniger Zeit als noch im Frühjahr.“ – bto: Das aber wirft die grundlegende Frage nach der Zukunft des Standortes Deutschland auf. Kann man den Wohlstand erhalten, wenn die Kostenbasis sich so dramatisch verschlechtert?
  • Die Kosten bleiben insofern substantiell, aber mit entsprechenden wirtschaftspolitischen Maßnahmen handhabbar. Es drohen im Fall eines Stopps russischer Gasimporte weder Massenarmut noch Volksaufstände, sondern Produktionseinbußen, die Deutschland schon in der Vergangenheit bewältigt hat, wenn es sich Krisen stellen musste.“ – bto: Das mag sein, aber die Frage bleibt, ob wir davon ausgehen können, dass wir uns wie in der Vergangenheit davon erholen? Ich bin skeptisch.  
  • Relativ zur Situation im März stellt sich die Lage auf der Versorgungsseite durch die abzusehende Inbetriebnahme von Flüssiggasterminals, höhere Speicherstände und zusätzliche Importe aus Drittländern heute besser dar. Gleichzeitig ist auf der Nachfrageseite relativ wenig passiert, um den Gasverbrauch zu reduzieren und eine schnellstmögliche Anpassung von Industrie und Haushalten zu befördern. Im Bereich der Elektrizitätserzeugung lag der Gasverbrauch nicht niedriger als in den Vorjahren.“ – bto: was ein eklatantes politisches Versagen ist!
  • Um diese notwendige Anpassung zu erreichen, gibt es in den nächsten Monaten drei zentrale Stellschrauben: Erstens den Verbrauch von Gas in der Stromerzeugung zu reduzieren, zweitens den Verbrauch von Gas zur Gebäudeheizung zu verringern und drittens Gasverbrauch in der Industrie sowohl zu reduzieren als auch zu substituieren.“ – bto: Realistischerweise muss aber eingeräumt werden, dass da nichts Substanzielles passieren kann, denn Gebäude isoliert man nicht über Nacht besser.  
  • Bis zum Ende des Sommers 2022 lag der Gasverbrauch der Stromproduktion trotz der hohen Gaspreise etwa im langjährigen Durchschnitt. Existierende Reserven wurden nicht voll genutzt, es gingen keine zusätzlichen Braunkohlekraftwerke ans Netz und Steinkohlekraftwerke erst mit Verzögerung.“ – bto: Das ist ein Skandal, den das Bundeswirtschaftsministerium zu vertreten hat.
  • Ein realistischerweise erreichbarer Einsparbeitrag der Haushalte und des Gewerbes liegt bei rund 15 Prozent ihres Verbrauchs. Beim Heizen entspricht dies etwa einer Absenkung der Raumtemperatur um bis zu 2,5°C.9 Zusätzliche Maßnahmen wie z. B. Wärmedämmung können den Effekt verstärken.“ – bto: Dämmung dauert Jahre, es geht also über eine Verhaltensänderung.
  • Dabei können kurzfristig umsetzbare Investitionen wie smarte Thermostate, die Isolierung von Fenstern und Türen oder die Adjustierung von Heizungsanlagen den Komfortverlust der Einsparungen reduzieren. Zusätzliche machen maximale Anstrengungen zur energetischen Sanierung von Gebäuden, zum Ausbau hybrider Heizungsformen (z.B. Einbau von Inverter-Klimaanlagen, etc.) und der Fernwärme die Anpassung weniger schmerzhaft, doch ist die Zeit mittlerweile knapp für den kommenden Winter hier noch wesentliche Einsparungen zu erzielen.“ – bto: Das sind Maßnahmen, die viel länger brauchen und wer soll das bezahlen? Die Investition kann schließlich nicht auf die Mieter umgelegt werden.
  • Wirtschaftspolitisch sinnvoll wäre eine Pflicht zur Preisanpassung aller Gas- und Stromverträge auf einen aktuellen Tarif, die mit einer Entschädigung verbunden wäre. Eine solche Entschädigung müsste sich am vergangenen Verbrauch des Objektes orientieren.“ – bto: Dazu schlagen die Autoren eine Entschädigung für die normale Menge mal Preisdifferenz vor, was den Verbrauchern den Anreiz gibt, mehr zu sparen, weil sie dann das Geld behalten. Das Modell ist gut.
  • Auch sollte man über eine noch stärker verbrauchsgenaue Abrechnung der Heizkosten im Mietrecht nachdenken. Eine sinnvolle gesetzliche Änderung könnte hier sein, zwischen Brennstoffkosten und anderen Kosten verpflichtend zu trennen und für Brennstoffkosten die Pflicht zu rein verbrauchsbasierter Abrechnung einzuführen.“ – bto: Das ist theoretisch auch nicht richtig, denn es gibt einen guten Grund, dass es auch die Fläche zugrunde legt, definiert sich der Gesamtverbrauch doch aus einem optimierten Gesamtverhalten.
  • Der Rückgang des Gasverbrauchs in den Monaten Mai und Juni dieses Jahres unterstreicht, dass Einsparpotenziale vorhanden sind. Gerade für die Industrie sind rechtzeitige Preissignale wichtig. Anreize hierzu reichen bislang nicht vollständig aus: Unternehmen werden erwarten, bei Ausfällen weiterhin durch den Staat unterstützt zu werden. Dies wird zu einem Problem, denn die Kosten unzureichender Vorsorge werden so teilweise sozialisiert.“ – bto: Das liegt daran, dass die Politik eben nicht handelt.
  • Eine Verbrauchsreduktion wird nicht ohne temporäre Produktionsrückgänge im verarbeitenden Gewerbe, vor allem der chemischen Industrie, möglich sein. Die chemische Industrie alleine trägt über das Jahr zu 13 Prozent des Gasverbrauchs, aber nur zu etwa einem Prozent zur Wertschöpfung bei. Es wird wichtig sein, ein Überschwappen des Rückgangs auf nachgelagerte Bereiche zu vermeiden. Diese müssen sich rechtzeitig vorbereiten und, wo es geht, gasintensive Produkte aus Ländern beziehen, die nicht von russischem Gas abhängen. Neue Lieferketten aus dem Nicht-EU Ausland gilt es zu fördern.“ – bto: Das ist richtig, weil es den Folgeeffekt vordergründig verhindert. Der deutliche Kostenanstieg wird aber die Wettbewerbsfähigkeit massiv verschlechtern.  
  • So können bestimmte energieintensive Vorprodukte der metallerzeugenden Industrie am Weltmarkt eingekauft werden, ebenso wie Ammoniak und Harnstoff in der chemischen Industrie oder einfache Produkte der Glasherstellung wie Getränkeflaschen. Dies führt dann zwar bei den betroffenen heimischen Herstellern zu einem Produktionsrückgang, vermeidet aber Kaskadeneffekte auf andere Industrien und verringert den Gasverbrauch im Winter.“ – bto: Die heimischen Hersteller verschwinden, die heimischen Kunden verlieren an Wettbewerbsfähigkeit. Das klingt nicht nach einer Formel für die Sicherung des Wohlstands auf mittlere Sicht.
  • Hierbei sollte bereits für die längere Frist kommuniziert werden, welche Energiequellen der deutschen Industrie in Zukunft zur Verfügung stehen werden und ob die Regierung eine weitgehende Einstellung der Importe aus Russland auch für die kommenden Jahre erwartet, so dass die Industrie bereits heute in nachhaltige Lösungen investieren kann.“ – bto: nein, damit die Standortverlagerung rasch erfolgt.  
  • Eine wichtige Studie von Ruhnau et al. untersucht die Reaktion der Gasnachfrage der deutschen Industrie und Haushalte auf steigende Gaspreise über den Zeitraum Januar 2021 bis April 2022. Die Studie kommt zu dem Schluss, dass der private Gasverbrauch um 6 % zurückging und der industrielle Gasverbrauch um 11 %. Für die Haushalte war dies die Reaktion auf eine Steigerung der Durchschnitts-Gaspreise von zwischen 50 % und 140 %. Diese Zahlen können auch genutzt werden, um eine ungefähre Nachfrage-Elastizität für Haushalte zu berechnen: je nach angenommenem Preisanstieg liegt diese zwischen 0,07 und 0,15.“ – bto: Ja, es gibt offensichtlich eine Sensitivität der Nachfrage. Sie ist nicht gigantisch, aber gegeben.
  • Sowohl in Deutschland als auch in den Niederlanden erfolgten die Nachfragereduktionen in der Industrie ohne größere Einbrüche der Industrieproduktion (…) unter der Annahme, dass die Substitutionsmöglichkeiten in der gesamten Industrie gleich Null sind, d.h. dass sich entlang der Lieferketten durch Leontief-Produktionsprozesse starke Kaskadeneffekte ergeben, hätte die Industrieproduktion eins-zu-eins mit dem Gasverbrauch sinken sollen. Dass dies nicht passiert ist, ist ein wichtiges indirektes Indiz dafür, dass die Substitutionsmöglichkeiten zum Teil erheblich sein müssen.“ – bto: weil es andere Energie gibt, dennoch bleibt der strukturelle Energiekostennachteil, der uns dauerhaft belasten wird.
  • Eine zentrale Rolle kommt hier den Möglichkeiten zur Substitution von Gas in der Produktion zu. Hier hat sich gezeigt, dass die anfänglich verbreitete Auffassung, dass innerhalb von 6- 12 Monaten überhaupt keine Gassubstitution möglich sei, falsch war. Inzwischen gibt es zahlreiche Beispiele für substantielle Substitutionsmöglichkeiten auch in der chemischen Industrie und der Glasproduktion.“ – bto: Dann zitieren die Autoren aus verschiedenen Zeitungsberichten über Einzelfälle. Hiervon wähle ich folgend zwei aus.
  • BASF “in Ludwigshafen kann [durch] Heizöl etwa 15 Prozent des für die Strom- und Dampferzeugung benötigten Erdgases ersetzen.” Gas zur Strom- und Dampferzeugung machte 2021 rund die Hälfte des in Ludwigshafen verbrauchten Gases aus. BASF substituiert zudem bei der Ammoniakproduktion. Der Konzern hat wegen der hohen Gaspreise die Produktion von Ammoniak am Standort Ludwigshafen reduziert und durch Zukäufe ergänzt: “dieser Ersatz über den Weltmarkt [ist] relativ leicht möglich.” Einen Teil kann das Unternehmen substituieren, indem es Ammoniak in den USA statt am Standpunkt Ludwigshafen produziert. Dies ist ein gutes Beispiel der Substitution durch Importe, die wir in unserer früheren Studie betont haben, in diesem Fall sogar innerhalb des gleichen Unternehmens. Stahlproduzent Arcelor-Mittal sagt, das Unternehmen könne Stahl-Vorprodukte extern einkaufen und damit den Gasverbrauch in der Produktion verringern. Zum Teil kauft Arcelor-Mittal diese Vorprodukte aus einem eigenen Werk in Kanada und importiert diese dann nach Deutschland.“ – bto: Was hier passiert, ist klar. Wir verlieren Wertschöpfung am Standort und für die nachfolgenden internen/externen Kunden wird es teurer.
  • Die Bewertung der Strategie der Bundesregierung, frühzeitige Gasnachfrageanpassungen nicht konsequenter durchzusetzen und an den Gasimporten aus Russland trotz des Angriffskriegs auf die Ukraine festzuhalten, fällt zwiespältig aus. Insbesondere war diese Strategie selbst im besten Fall (volle Speicher im Herbst) nicht geeignet, Deutschlands Gasverbrauch im Winter von Russland unabhängig zu machen. Anders gesagt, selbst im günstigsten Fall, wenn Moskau passiv zugesehen hätte, wie Deutschland seine Speicher auffüllt, wäre das Land weiter erpressbar gewesen. Die bisherige Politik war insofern nicht geeignet, eine energiepolitische Unabhängigkeit von dem Regime in Moskau bis zum Winter zu erreichen.“ – bto: Es ist angesichts der vollmundigen Ankündigungen ein erneutes Beispiel von Politikversagen. Und zwar genau jenes Ministers, den die Bürger am meisten mögen. Super.

econtribute.de:„Wie es zu schaffen ist“, August 2022