Warteschlangen sind eine Form der Inflation

Ein Leser hat mich auf diesen Artikel in der F.A.Z. hingewiesen. Er beschreibt sehr schön, wie sich das Umfeld ändert. Warteschlangen sind eine andere Form der Inflation, meine ich. Knappheiten, die früher undenkbar waren, werden zur Normalität.

  • Die Zeiten, in denen die Nachfrage über das Angebot mitbestimmte, sind offenkundig vorbei. Viele Branchen und Unternehmen haben eine neue Lieblingsbeschäftigung entdeckt: das Vergraulen jener Kunden, die früher – zumindest rhetorisch – mal als die Könige galten. Heute müssen sie sich behandeln lassen wie manch eine in Verruf geratene Dynastie.“ – bto: Jeder, der einen Handwerker beauftragen möchte, kennt das. Es greift aber auf fast alle Sektoren über. Und ich denke, es wird auch über Preise gelöst werden, wenn es machbar ist.
  • Gewiss, in manchen Branchen hat der Unwille spezifische Ursachen. Die Negativzinsen, die Banken unter Umständen selbst für das Parken überschüssigen Geldes zahlen müssen, steigern nicht gerade die Gier nach weiteren Einlagen. (…) Der Materialmangel auf dem Bau, nicht zuletzt bedingt durch Lieferketten-Pro­bleme, lässt manch ein vor Monaten abgegebenes Angebot als schlechtes Geschäft erscheinen. Allerdings (…) agieren viele Handwerker schon seit Jahren sehr selektiv bei der Wahl ihrer Kunden.“ – bto: Und jetzt, wo wir alle klimagerecht umbauen sollen …
  • Nehmen wir die Steuerberater. (…) Denn während das Finanzamt meine Steuererklärungen von Jahr zu Jahr schneller bearbeitet, meist innerhalb weniger Wochen, hängen sie im Steuerbüro immer länger fest, inzwischen eher Jahre als Monate. (…) Neukunden sind auch im Reinigungsgewerbe offenbar unerwünscht. Ich selbst bekomme von der Chefin immerhin Jahr für Jahr einen formvollendeten Brief, in dem sie wortreich begründet, warum sie den Tarif schon wieder um zehn Prozent anheben muss: Personalmangel. Biete sie ihren Leuten nicht ständig mehr Geld, so das Argument, müsse sie noch viel mehr Kunden abweisen (…).“ – bto: Das liegt auch daran, dass es sich für viele Menschen immer attraktiver erweist, im Sozialsystem zu bleiben.
  • Wie kann das sein, dass in einer hoch entwickelten Marktwirtschaft über einen so langen Zeitraum das Angebot und die Nachfrage nicht zur Deckung kommen? Oder besser: dass dies nicht über den Preis geschieht, sondern durch ein System des Bettelns und Zurückweisens – fast wie früher im real existierenden Sozialismus, den Spötter die Diktatur der Klempner und Taxifahrer nannten?“ – bto: Das ist eine sehr interessante Frage, denn es gibt ja Kaufkraft. Allerdings wäre das aus Sicht derjenigen, die das kaufen müssen, eine sozial ungerechte Lösung.
  • “Der erste Verdacht, dass etwas nicht stimmen könnte, kam mir vor sieben Jahren in New York. (…) Immer musste man anstehen. (…) Vielerorts beschäftigten die Firmen lieber Personal fürs Management der Warteschlangen, als die Dienstleistung selbst durch den Einsatz weiterer Angestellter zu beschleunigen.“ – bto: Ich denke, dass es profitabler ist, weil man eine bessere Auslastung der Mitarbeiterkapazitäten erreicht.
  • Nach vielen weiteren Beispielen stellt der Autor fest: Auf die Idee, einfach mehr zu bezahlen, war offenbar niemand gekommen.bto: ja, warum nicht?
  • Die Pandemie mag mancherorts die Fehlallokation der Humanressourcen verstärkt haben, wie es im Personalerdeutsch heißt. Die eigentliche Ursache liegt tiefer, im demografischen Wandel, in veränderten persönlichen Präferenzen – und in falschen Annahmen über den Arbeitskräftebedarf. Jahrelang sprach alle Welt von IT-Fachkräften, die das Land benötige. Dabei scheitert die Digitalisierung in der Bundesrepublik bislang an anderen Dingen als an fehlenden Leuten, die schicke Apps programmieren. Zugleich schätzten auch die Fachleute den Bedarf an Leuten, die Wohnungen putzen oder in To-go-Cafés die Stullen schmieren, viel zu gering ein.“ – bto: wobei wir genug unqualifizierte Zuwanderer hatten, diese sich aber unzureichend im Arbeitsmarkt integrierten.
  • Spezialprobleme in einzelnen Berufsgruppen kommen hinzu. So gilt der Beruf des Steuerberaters vielen nicht nur als wenig sexy, er ist auch einer der anspruchsvollsten überhaupt. (…) Auch im Bauhandwerk hilft eine bessere Bezahlung womöglich nur begrenzt, wenn sich ein bequemer Bürojob in die Work-Life-Balance leichter einfügt als das Schuften bei Wind und Wetter – erst recht in einer alternden Gesellschaft, in der niemand weiß, wie lange man bis zur Rente noch durchhalten muss.“ – bto: Ein bekannter Steuerberater, der auch an einer Universität lehrt, erzähle mir, dass er keine Studenten mehr hätte. Alle würden lieber zu deutlich besserem Gehalt Banker werden, was ich wiederum für keine kluge Berufswahl halte, aber das ist ein anderes Thema.
  • Eine globale Entwicklung kommt hinzu. Selbst wenn Corona-Probleme und wachsende Systemkonkurrenz – hoffentlich – nicht zu einer durchgreifenden Deglobalisierung führen, werden die Kostenvorteile des weltweiten Wirtschaftens perspektivisch schwinden, ganz einfach, weil Wohlstand und Lohnniveau auch andernorts wachsen. Bis in Regierungskreise ist die Annahme verbreitet, dass dieser Trend ganz unabhängig von aktuellen Entwicklungen auf längere Sicht zum Inflationstreiber wird – und damit zur Motivation, schon aus Kostengründen nicht mehr jeden Auftrag anzunehmen.“ – bto: Deshalb sollten wir uns dringend eine Antwort überlegen, wie wir uns darauf einstellen.
  • In einer Wohlstandsgesellschaft sind die Aussichten begrenzt, mit höheren Preisen die Kundschaft abzuschrecken – vor allem, was die gehobene Mittelschicht betrifft. Als sich die Nachbarn in einem Berliner Wohnviertel über Warteschlangen und lärmende Kundschaft vor einer Eisdiele beschwerten, setzte der Laden kurzerhand die Preise herauf – mit der Folge, dass sich der Ansturm vergrößerte, weil die Ware noch begehrenswerter erschien.“ – bto: Das kann man seit Corona vor Luxusboutiquen beobachten. Trotz überzogener Preise stehen die Leute Schlange. (Bei mir persönlich führt das zu vermindertem Interesse, vor allem wenn ich sehe, wer dort einkauft.)
  • Nicht überall wird das auf Dauer funktionieren. Wem die wöchentliche Reinigung zu teuer wird, der bestellt den Putzservice womöglich nur noch alle vierzehn Tage. Und wer partout keinen Steuerberater findet, der erledigt die Korrespondenz mit dem Finanzamt vielleicht doch wieder selbst. So könnten Angebot und Nachfrage am Ende doch noch zum Ausgleich kommen, wenn im Gegenzug das eine oder andere auch mal unerledigt bleibt.“ – bto: Und das ist schlicht  eine andere Form der Inflation.

faz.net (Anmeldung erforderlich): „Warum der Kunde nicht mehr König ist”, 28. Januar 2022