Säkulare Stagnation, Spar­schwemme oder die Rolle der Noten­banken

Am 23. Oktober 2021 spreche ich in meinem Podcast mit Thomas Mayer. Professor Mayer war von 1991 bis 2002 für die Investmentbank Goldman Sachs in London tätig, danach Chefökonom der Deutschen Bank. Seither leitet er für die Vermögensverwaltung Flossbach von Storch in Köln die Denkfabrik Flossbach von Storch Research Institute. Dort veröffentlichte er diesen Kommentar, der sehr gut auf morgen einstimmt: 

Seit der damalige Vorsitzende der US-Federal Reserve Ben Bernanke im Jahr 2005 eine asiatische „Sparschwemme“ für den Fall der Zinsen in den USA verantwortlich machte, geht die These von der „Sparschwemme“ in der Zunft der Ökonomen um. Vor allem Bernankes Nachfolger in der Federal Reserve und andere prominente Zentralbanker haben das Konzept einer „Sparschwemme“ genutzt, um ihre Niedrigzinspolitik zu rechtfertigen. Die steigende Sparneigung einer alternden Bevölkerung, so ihr Argument, würde einen Zinsverfall bewirken, dem die Zinspolitik der Zentralbanken nur folgen würde.

Das asiatische Gespenst

Befremdlich an dieser Erzählung ist, dass sie trotz der gegen sie sprechenden Fakten seit mehr als 15 Jahren hartnäckig verbreitet wird. So löste sich die von Bernanke 2005 thematisierte asiatische Sparschwemme schon zwischen 2007 und 2012 wieder auf, ohne dass der Rückgang der US-Zinsen dadurch vermindert worden wäre. Da diese Erklärung nun nicht mehr galt, suchte man die Ursache in der Alterung der Bevölkerung.

Das Gespenst der Alterung

Meine Kollegen Agnieszka Gehringer, Gunther Schnabl und ich haben mehrfach darauf hingewiesen, dass alternde Gesellschaften dazu neigen, weniger statt mehr zu sparen (Gehringer und Mayer, 2019, sowie Mayer und Schnabl, 2021a, 2021b). Charles Goodhart und Manoj Pradhan geben dafür weitere empirische Belege (Goodhart und Manoj, 2020). Und nun haben Atif Mian, Ludwig Straub und Amir Sufi bei der “Jackson Hole”-Konferenz der Federal Reserve Bank von Kansas vor einem erlesenen Publikum von Zentralbankern eine Forschungsarbeit vorgetragen, in der sie der These von der Sparschwemme ebenfalls eine Absage erteilen (Mian, Straub und Sufi, 2021). Allerdings versuchen Mian und seine Kollegen mit einem unschlüssigen Argument das Gespenst dennoch am Leben zu erhalten, vermutlich um ihr Publikum gnädig zu stimmen.

Sparverhalten nach Einkommen und Alter

Die Arbeit von Mian und seinen Kollegen hat viel Beachtung gefunden, weil sie das Sparverhalten verschiedener Einkommensklassen und Altersklassen in den USA im Zeitraum von 1963 bis 2019 untersucht. Wenig überraschend finden die Autoren, dass Haushalte mit höherem Einkommen mehr sparen als solche mit niedrigem. Doch finden sie dieses Verhalten in allen Altersgruppen. Das Sparverhalten gleicher Einkommensklassen variiert über verschiedene Altersgruppen nur geringfügig.

Seit Beginn der 1970er-Jahre ist der Anteil der oberen 10 Prozent der Einkommensbezieher von rund 30 Prozent auf gut 40 Prozent gestiegen. Da diese Einkommensklasse eine hohe Sparneigung hat, trug ihr steigender Anteil zu einem Anstieg der gesamten Ersparnis bei. Jedoch ist die Ersparnis in den USA insgesamt leicht gesunken. Der Grund dafür ist, dass eine Verringerung der Ersparnis der unteren 90 Prozent der Einkommensbezieher etwas größer war als der von den oberen 10 Prozent bewirkte Anstieg.

Zinsrückgang ohne Sparschwemme

Mian und seine Kollegen versuchen das Gespenst der Geldschwemme mit dem Schluss zu retten, dass die höhere Ersparnis der reicheren Einkommensbezieher die Zinsen nach unten gedrückt hätte. Dadurch hätten sich die weniger reichen höher verschulden können, statt mehr sparen zu müssen. Aber wenn dies zuträfe, hätte der Anstieg der Verschuldung die Zinsen wieder steigen lassen müssen. Auch haben die weniger Reichen weniger Sicherheiten, die sie zur Schuldenaufnahme verpfänden können, wenn sie Vermögenswerte verkaufen. Allenfalls steigt ihr Geldvermögen, das sie zur Steigerung ihrer Konsumausgaben verwenden können. Dadurch fällt – wie beobachtet – ihre Sparquote, aber die Zinsen bleiben davon unberührt. Schlussendlich können Zinsrückgänge nicht mit einer Sparschwemme begründet werden, wenn es diese auf gesamtwirtschaftlicher Ebene gar nicht gegeben hat.

Umverteilung durch die Zentralbanken

Andererseits könnten von der Zentralbank vorangetriebene Zinsrückgänge die Veränderung in der Einkommensverteilung und im Sparverhalten bewirkt haben, die Mian und seine Kollegen beobachtet haben. Denn wenn niedrigere Zinsen die Bewertung von Vermögenswerten erhöhen, haben Vermögensbesitzer mehr Sicherheiten, gegen die sie Kredite aufnehmen können. Wenn sie damit mehr Vermögenswerte erwerben, die laufende Erträge abwerfen, steigen ihr Einkommen und ihr Anteil am gesamten Einkommen.

Dagegen steigen die Einkommen derer, die weniger Vermögen haben, auch weniger, da sie nicht in gleichem Maß Schulden zum Erwerb von rentierlichen Vermögenswerten aufnehmen können. Ihr Anteil am gesamten Einkommen fällt. Wollen sie ihren Konsum erhöhen, bleibt ihnen oft nur der Weg über eine Absenkung der Sparquote.

Mian und seine Kollegen vergleichen die durchschnittlichen Sparquoten einzelner Haushalte zwischen den Zeitperioden 1963–1982 und 1995–2019. In diesem Zeitraum sank der Zins gemessen an der Rendite zehnjähriger US-Staatsanleihen um 3,7 Prozentpunkte von im Schnitt 7,5 Prozent in 1963–1982 auf 3,8 Prozent in 1995–2019. Das erscheint genug, um wie beschrieben den Anstieg des Anteils der oberen 10 Prozent der Einkommensbezieher am gesamten Einkommen um 12 Prozentpunkte zu erklären.

Es ist schlüssig, dass der von den Zentralbanken bewerkstelligte Rückgang der Zinsen für die von Mian und seinen Kollegen beobachteten Veränderungen in der Verteilung von Einkommen und Vermögen sowie im Sparverhalten verantwortlich war. Dagegen erscheint der Umkehrschluss, dass die Veränderung der Verteilung den Zinsrückgang bewirkt hätte, falsch.

Unrealistische Inflationsziele und übertriebene Zinssenkungen

Wie Goodhart und Pradhan ausgeführt haben, übersahen die Zentralbanken, dass in dem betrachteten Zeitraum die Inflation aufgrund von demografischen Veränderungen, technischem Fortschritt und zunehmender Globalisierung fiel. Statt diesen von ihnen nicht zu beeinflussenden Rückgang zu berücksichtigen, verfolgten sie jedoch mechanisch unrealistische Inflationsziele mit übertriebenen Zinssenkungen und fatalen Folgen für die Finanzstabilität.

Vermutlich werden die Zentralbanken auch weiterhin das Gespenst von der Sparschwemme beschwören, um von ihrer Fehleinschätzung abzulenken. Angesichts der damit verbundenen gravierenden Folgen für Wirtschaft und Gesellschaft ist es nachvollziehbar, dass sie davor die Augen verschließen.

Seine Kommentare findet man hier: → Flossbach von Storch Research Institute