„Ob Brexit oder nicht – der EU droht der Zerfall“

Schon vor dem Brexit-Votum erschien in ZEIT ONLINE ein lesenswerter Beitrag mit Blick auf Europa. Es drohe ohnehin ein Zerfall der EU, ob nun mit oder ohne Brexit. Nun, wo er da ist, könnte es halt schneller kommen. Die Kernaussagen:

  • Es herrsche eine existenzielle, aber diffuse Verunsicherung angesichts der Zukunft der EU und Europas. Es geschieht gerade etwas, das es der europäischen Idee nach eigentlich nicht geben kann: Desintegration im Integrationsprojekt. Sollten sich die Briten tatsächlich für einen EU-Austritt entscheiden, wäre nur das deutlichste Symptom dieses Prozesses. bto: Das kann man wohl sagen. Liegt aber vor allem an der Art, wie die EU funktioniert und agiert.
  • Es sind Beschwörungen, weil die europäische Einigung immer eine Beschwörung war. Dass nur ein Zusammenwachsen die europäischen Staaten vor der Kriegshölle rette, das war die Formel, die den Geist der europäischen Einigung ja erst herbeigerufen hat. Für diesen Geist hat man die monolithischen EU-Gebäude in Brüssel und Straßburg gebaut. bto: Ich bleibe dabei, dass es mindestens genauso auch eine Folge der demografischen Entwicklung ist. Völker ohne Kinder, führen keine Kriege mehr.
  • Es gibt ja genügend historische Beispiele für den Untergang von Staatengebilden. Krastev hat den Zerfall der Sowjetunion studiert und den Jugoslawiens. Auch wenn beide Fälle ganz anders gelagert sind als die gegenwärtige Krise der EU, lässt sich aus ihnen einiges lernen, findet Krastev, vor allem vom sowjetischen Beispiel. bto: Wie man sieht, hat es fast immer wirtschaftliche Gründe. Die EU versagt in ihrem Wohlstandsversprechen und die Umverteilung des vorhandenen à la Piketty, Varoufakis, Wagenknecht und Gabriel wird den Niedergang eher beschleunigen als verlangsamen.
  • Erstens: Der Zerfall ist nicht vorhersehbar. Noch im Dezember 1990 versammelten sich im Pentagon namhafte Sowjetexperten und diskutierten, wie wahrscheinlich es sei, dass das Moskauer Imperium zerfallen würde. Ihre Antwort: 30 Prozent. Ein Jahr später war die Sowjetunion Geschichte.
  • Zweitens: In der Peripherie mag der Zerfall beginnen, entscheidend ist das Zentrum. Die Sowjetunion wurde nicht aus Warschau oder Prag gestürzt, sondern aus Moskau. Die EU wird nicht in Griechenland oder Ungarn untergehen, sondern wenn dann in Berlin. Denn nur das Zentrum kann das Geld und den Willen entziehen, die alles zusammenhalten. bto: Das glaube ich nicht. Denn wir werden die EU durchhalten bis zum bitteren Ende. Ich denke, es wird den historisch erstmaligen Fall geben, wo entweder die Peripherie flüchtet oder das Zentrum finanziell und wirtschaftlich untergeht
  • Drittens: Der Zerfall braucht keine politische Mehrheit, er geschieht einfach. Die Logik ist die eines Bankensturms, sagt Krastev. Eine kleine, aber relevante Gruppe von Pessimisten entzieht der Gemeinschaft ihr Vertrauen und verändert so die Kalkulation der anderen: Plötzlich lohnt es sich auch für sie, gegen das Ganze zu wetten. Das ist nicht etwa unsolidarisch, sondern aus ihrer Sicht vernünftig. bto: Das klingt nachvollziehbar, ist jedoch im Falle Deutschlands unwahrscheinlich. Ich denke, wir werden getragen von unserer politischen Führung, unserem mangelnden Verständnis von Ökonomie und der politischen Korrektheit als Folge der historischen Schuld und werden deshalb bis zur Selbstaufgabe weitermachen. 
  • Wer unzufrieden mit dem Kurs der EU ist, kann ihn allein nicht ändern. Seine Stimme zählt kaum. Aber auf nationaler Ebene können Unzufriedene durchaus Einfluss nehmen auf die Regierung, sie abwählen, sodass am Ende EU-kritische nationale Regierungen in Brüssel bremsen, wie es mit Ungarn der Fall ist. bto: und in Holland, Schweden, Finnland, Dänemark die Engländer haben die EU auf Dauer verändert.
  • Man könnte das auch inneren Zerfall nennen. Er hat in der EU längst begonnen. Das zeigt sich zum Beispiel an der Flüchtlingspolitik: Mehrmals haben sich die Regierungschefs in Brüssel darauf geeinigt, Flüchtlinge umzusiedeln; erst aus Italien und Griechenland, dann aus der Türkei. Das Kontingent dafür, 160.000 Plätze insgesamt, hat die EU mehrmals verkündet, aber nie bereitgestellt. Die nationalen Regierungen fangen einfach nicht an. So wird die EU zur Ankündigungsunion. bto: was die ZEIT hier in ihrer einseitigen Sicht vernachlässigt: Es war die einseitige Entscheidung der Bundesregierung, ohne die Partner vorher zu fragen, die die Krise erst zu dieser Krise gemacht hat!
  • Krastev: „In Momenten wie diesen sollte man ökonomische Argumente nicht überschätzen. Denn Ökonomen werden immer sagen, ein Austritt sei zu kostspielig und deshalb unwahrscheinlich. Aber leider machen Menschen manchmal Dinge, auch wenn sie unwirtschaftlich sind. bto: vor allem, weil es nicht unbedingt stimmt, siehe diesen Beitrag.
  • Zur Erzählung der EU über sich selbst gehört auch, dass es ausschließlich gut ist, ineinander verstrickt zu sein. Wer miteinander handelt, bekriegt sich nicht. Das war das große Friedensversprechen der Union. Nun aber haben der Ukraine-Krieg und die Flüchtlingskrise gezeigt: Interdependenz erhöht auch die Kosten, wenn anderswo etwas schiefgeht. Eine Erkenntnis, die auch aus der Bankenkrise bekannt ist.
  • Zum Umgang mit den Verlierern von Globalisierung und Kooperation: Wir sollten aufhören, so zu tun, als sei die EU eine Win-win-Situation für jeden einzelnen, sagt Krastev. „‚Das macht die Verlierer nur noch wütender. In Brüssel, sagt er, gebe man nie zu, dass es politische Probleme gibt. Es gibt immer nur Kommunikationsprobleme. Als verstünden die Leute nur nicht, was gut für sie ist.‘“ – bto: Dieser Stil wird bekanntlich auch in Berlin gepflegt.
  • Die EU übersteht die Krise gut, wenn die EU die Krise gut übersteht. Wenn sie in fünf bis zehn Jahren trotz der jetzigen Fliehkräfte noch existiert, wird allein das der EU wieder neue Legitimität geben.‘“ – bto: wobei das gegen die fundamentalen wirtschaftlichen Trends steht. 
  • Wer will, dass sich die EU und ihre Mitglieder in jeder Sekunde an die postulierten Grundsätze halten, wird nicht durch diese Krise kommen. Ein Überleben der europäischen Institutionen, wie geschrumpft und geschädigt auch immer, hätte den Vorteil, dass es etwas gäbe, womit man weitermachen könnte. Man hätte einen Ort für Verhandlungen und Kooperation.‘“ – bto: Das klingt vernünftig. Doch haben wir die Zeit dazu noch?

ZEIT ONLINE: Ob Brexit oder nicht – der EU droht der Zerfall”, 23. Juni 2016