Noten­banken wissen nicht, was sie tun

Offizieller Titel des Interviews mit Adam Tooze in der Finanz und Wirtschaft (FuW) ist: „«Notenbanken wissen nicht, was zu tun ist»“. Ich finde ehrlicher wäre: Sie wissen nicht, was sie tun. Doch schauen wir mal rein:

  • Zunächst zu den diesjährigen Empfängern des Nobelpreises: „Das Bild, das diese Arbeiten vom Bankensystem zeichnen, war bereits Anfang der Achtzigerjahre überholt. (…) Die Preisträger erklären mit einem neoklassischen Standardmodell, warum Bank Runs rational sein können… Aber so simpel erkläre ich es meinen Studenten im Grundstudium auch, nur ohne formales Modell. (…) Der Nobelpreis ist keine Auszeichnung mehr für wesentliche Erkenntnisse über die tatsächliche Welt.“ – bto: Da kann man ihm nur zustimmen.
  • Zu den Turbulenzen in UK: „ (…) im Vereinigten Königreich verschärften Pensionsfonds die Marktturbulenzen auf dem Anleihenmarkt. Innerhalb kürzester Zeit mussten sie viel Liquidität aufbringen, um Sicherheiten für Zinsderivate zu erhöhen. Solche Margin Calls gab es vor einigen Wochen bei Energieversorgern in ganz Europa, auch hier in der Schweiz.“ – bto: Es sind die Grenzen der Modelle in einer hyper-finanzialisierten Welt.
  • Oder wie es Tooze formuliert: „Es kann aber auch sein, dass sich dieses Modell der marktorientierten Finanzierung und der mit Derivaten abgesicherten Geschäfte metastatisch auf andere Bereiche der Wirtschaft ausgeweitet hat. Dann sind es neue Risiken. (…) nehmen Sie nur das britische Gasgeschäft, wo die Versorger langfristige Lieferverträge haben und dann Tag für Tag Gas kaufen müssen, genau wie Northern Rock. Im Grunde handelt es sich um eine Art Gasbankgeschäft, bei dem die Unternehmen dachten, wir werden einen Haufen Geld damit verdienen. Aber niemand dachte daran, was passieren würde, wenn sich der Gaspreis plötzlich verfünffacht.“ – bto: Eine Spekulation ging nicht auf. Das ist okay, solange man die Pleite zulässt und nicht Aktionäre, Kreditgeber und Management rettet.
  • „Finanzielle Risiken lassen sich heute aus keinem Lebensbereich mehr ausschliessen. Während der Covid-Krise war eine grosse Sorge, dass sich amerikanische Krankenhäuser mit grossen Risiken finanziert hatten und dann gerettet werden mussten. Es muss eine übergreifende Aufsicht geben, die genau fragt, wie die finanzielle Situation ist und wie systemrelevant Unternehmen sind. Das wäre auch eine Aufgabe für die Financial Stability Boards.“ – bto: Das sehe ich komplett anders. Man muss die Risiken wieder zurückgeben, also die Konsequenzen zulassen.
  • Tooze sieht das so: „ (…) für solche Krisen ist der Staat als Versicherer der letzten Instanz auch gedacht. Sonst hätten die Kunden das Risiko eines russischen Angriffskrieges jedes Jahr auf ihrer Gasrechnung tragen müssen. Wir sehen heute eine Öffnung hin zu einem aktivistischen Verständnis von Risikoteilung und Risikomanagement.“ – bto: Dem kann ich folgen. Es ist wichtig, dass der Staat hier reguliert, weil sich sonst derjenige, der das Risiko eingeht, einen Wettbewerbsvorteil verschafft.
  • Und zu den Ursachen der Inflation: „Ausgehend von den Daten kann ich nicht sagen, dass die Rettungspakete von 2021 der Hauptgrund für die Inflation in den USA sind. Und selbst wenn sie zur Inflation beigetragen haben sollten, müssen wir eine Kosten-Nutzen-Analyse machen. (…) Diese Stützungsprogramme waren staatspolitische Akte, die wir nicht nur makroökonomisch beurteilen sollten.“ – bto: Die Sicht, dass die massive Flutung der Realwirtschaft mit Liquidität nicht ursächlich für die Inflation war, ist durchaus umstritten. Auch ich würde das anders sehen.
  • „Eine klassische Lohn-Preis-Spirale haben wir auch in Amerika nicht. Es gibt bisher nur sehr wenige Belege für das Durchreichen von den Löhnen auf die Preise. Relevanter war die Arbeitsmarkterfahrung in den USA, die in krassem Gegensatz zu Europa steht. Es ist ein Verdienst der europäischen Wirtschafts- und Sozialpolitik, dass es im Jahr 2020 kaum Arbeitslosigkeit gab. Viele sind durch Kurzarbeitsprogramme in ihrem Job geblieben. Es wurde eine historische neue Art der sozialen Absicherung für die gesamte Gesellschaft erreicht. Nicht, dass es allen gut ging, aber im Vergleich zu Amerika war das wirklich ein radikaler Schritt: Die unfreiwillige Arbeitslosigkeit wurde abgeschafft.“ – bto: Auf der anderen Seite zahlen wir einen hohen Preis dafür: weniger Wachstum, geringere Beteiligung am Arbeitsmarkt, …
  • Zur geldpolitischen Straffung: „Die Zinsen sind nicht hoch genug. Die Gesamtinflationsrate ist aber bereits gekippt, sie kommt nicht schnell genug zurück, auch weil der Arbeitsmarkt immer noch sehr dynamisch ist. Jetzt kommen die unteren Schichten und vor allem die schwarzen Männer auf den Arbeitsmarkt. Es ist also auch eine Frage der Gerechtigkeit, der Inflationsbekämpfung absolute Priorität einzuräumen. Ich weigere mich einfach ein wenig, die Inflation nur als Problem zu sehen. Was problematischer ist, sind die Mieten. Das ist im Moment wirklich ein sehr treibender Faktor. So wie die Mieten berechnet werden, können sie bis zum nächsten oder übernächsten Jahr eine treibende Kraft sein. Dabei ist überhaupt nicht klar, welche Schrauben angezogen werden müssen, um die Inflation wieder auf 2% zu bringen. Die Frage ist, ob irgendetwas in der Wirtschaft zusammenbrechen wird, bevor wir diesen Punkt erreichen.“ – bto: Diese Antwort finde ich wirr. Will er nun eine straffere Geldpolitik oder nicht? Ich selbst hätte da noch einmal nachgehakt. Risiken sind sicherlich mit einer weiteren Straffung verbunden.
  • „Wir haben eine Inflation, die gerade in Europa importiert ist: Sie kommt von den Lebensmitteln und der Energie. Ansonsten bewegt sich in diesen Zahlen wirklich wenig. Natürlich können wir die Preise jetzt deckeln. Aber das ist kein Grund zum Feiern, nur weil damit die Orthodoxie in der Ökonomie über den Haufen geworfen wird. Wir wissen, dass dies keine sehr gute Politik ist. Aber unter den gegebenen Umständen muss etwas getan werden, denn sonst haben wir eine soziale Krise und ein Legitimationsproblem: Dann bekommen wir die Gelbwesten, nur potenziert.“ – bto: Und die bekommen wir vor allem wegen der verfehlten Politik auf der Angebotsseite.
  • „Die Notenbanken wissen auch nicht, was zu tun ist. Die Inflationsraten steigen auf 8, 9 oder 10%. Aber die Notenbanken ­können auch nicht nichts tun. Wenn dieses Problem im nächsten Jahr wirklich nachlässt, dann wird diese Strategie aufgehen. Wenn nicht, bekommen wir in Europa und auch in Amerika womöglich Probleme mit der Finanzstabilität. Es ist nicht klar, ob das System, wie es jetzt aufgebaut ist, einen erheblichen Anstieg der Realzinsen verkraften kann.“ – bto: Doch, das ist absolut klar. Es verkraftet den Zinsanstieg nicht. Und es geht nicht nur um Real-, sondern auch um Nominalzinsen.

fuw.ch: „«Notenbanken wissen nicht, was zu tun ist»“, 25. Oktober 2022