Nicht Hartz IV steigert die Armut, sondern die Zuwanderung

Um das gleich zu Beginn zu sagen. Ich war und bleibe ein Unterstützer der Hartz-IV-Reformen. Zugleich denke auch ich, dass andere Gründe viel wichtiger waren für den Aufschwung in Deutschland: tiefere Realzinsen, schwacher Euro und boomende Weltmärkte, gezogen von der Lokomotive China mit der unbegrenzten (??) Verschuldungskapazität. Ich denke, dass Kritik an Hartz IV mit Blick auf die ökonomische Wirkung durchaus interessant sein kann. So diese, die in vielen Artikeln aufgegriffen wurde, vor allem natürlich von Kommentatoren, die den Reformen schon immer kritisch gegenüberstanden, so wie Thomas Fricke im SPIEGEL: → SPIEGEL ONLINE: “Macrons riskante Reformwette”, 14. Juli 2017

Die FT kommentiert wie immer sehr klar:

  • “Christian Odendahl is one of the finest analysts of the German economy writing in English. So it’s worth your time to closely read his review of the country’s labour market reforms of the early 2000s, sometimes called Agenda 2010 or the Hartz Reforms.” bto: Er ist zudem eine sehr nette Persönlichkeit. Ich hatte das Vergnügen, ihn vor einigen Monaten kennenzulernen.
  • There’s lots to digest, from his finding that German real interest rates were significantly higher in 1999-2007 than in the other large Western economies to his observation that the impact of the reforms is often overstated because they happened to coincide with the end of Germany’s decade-long construction bust.” bto: Beides ist völlig richtig. Vor allem das Realzins-Thema. Während die Zinsen für uns zu hoch waren, waren sie für die Peripherie viel zu niedrig, was die Ursache für den Schuldenboom war. Das hat der Sachverständigenrat schon vor Jahren gezeigt und ist auch eines der Kern-Charts von → Die Krise …
  • But we want to highlight something else in Odendahl’s paper: his implication that Germany’s jobs growth is more myth than miracle. (…) the number of Germans listed as having a job has grown by about 15 per cent since the lows in the mid-1990s. But the total number of hours worked is less than 2 per cent higher over the same period and still significantly lower than in the early 1990s.” bto: wobei ich jetzt sagen würde, wir haben die vorhandene Arbeit auf mehr Schultern verteilt und haben damit früher Arbeitslose in den Markt integriert. Das ist doch eigentlich keine so schlechte Nachricht – oder?

Quelle: FT

  • “(…) the disconnect between jobs and hours worked went hand in hand with a large increase in the share of Germans at risk of poverty.” bto: was dann ein Problem darstellen soll. Ich finde es allerdings kein überzeugendes Argument. Ja, wir haben mehr Leute in Arbeit, die weniger Stunden arbeiten. Ja, wir haben mehr gemessene “Armut” bzw. ein höheres Armutsrisiko. Doch ist aus dieser Korrelation auch eine Kausalität abzuleiten?
  • “Odendahl also points out that more than a fifth of West German workers are low-paid (wages below two-thirds of the median, or about €10.50 an hour as of 2014). That’s up from just 15 per cent in the mid-1990s:” bto: Auch hier wird gezeigt, dass es einen Anstieg gibt, allerdings ohne die dahinterliegende Struktur zu beleuchten.

Quelle: FT

Bekanntlich sehe ich einen völlig anderen Grund für den Anstieg der “Armutsgefährdung” wie schon vor Monaten an dieser Stelle erläutert: “Nehmen wir die Zahlen einmal, wie sie präsentiert werden und schauen etwas genauer auf die Komponenten. Nach Daten des Statistischen Bundesamtes → Destatis Datenreport ist die Armutsquote – definiert als weniger als 60 Prozent des Medianeinkommens – in den letzten Jahren gestiegen. Von 10,8 Prozent (1995) auf 12,6 (2005) und 13,9 (2014). Dabei sind unterschiedliche Bevölkerungsgruppen sehr unterschiedlich vom Armutsrisiko getroffen:

  • Bei der Bevölkerung ohne Migrationshintergrund liegt das Risiko demnach bei 11,3 Prozent.
  • Bei der Bevölkerung mit Migrationshintergrund ist das Risiko deutlich höher. Menschen mit “direktem Migrationshintergrund” haben ein Risiko von 22,2 Prozent, jene mit “indirektem” (also Nachkommen von nach Deutschland eingewanderten Menschen) immer noch ein Risiko von 16,1 Prozent.

Legt man die Bevölkerungsanteile im Schnitt der Jahre 2012-2014 zugrunde, waren rund 6,8 Millionen Deutsche ohne Migrationshintergrund vom Armutsrisiko betroffen, 2,35 Millionen Menschen mit direktem Migrationshintergrund und 1,65 Millionen mit indirektem.

Bekanntlich steigt seit Jahren der Anteil der Bevölkerung mit Migrationshintergrund, was zu der interessanten Erkenntnis führt, dass der Zuwachs der statistischen Armut auch viel mit der Zusammensetzung der Bevölkerung zu tun hat. Folgende Rechnung mag das verdeutlichen: Bei Annahme gleicher Armutsquoten der Bevölkerungsgruppen wie im Jahre 2014 genügt ein Anstieg des Anteils der Bevölkerung mit Migrationshintergrund von 22 auf den heutigen Wert von 25,6 Prozent um den Anstieg der Gesamtarmutsquote seit 2005 zu erklären. Leider finden sich solche Berechnungen nicht in den Veröffentlichungen des Statistischen Bundesamtes, weshalb der tatsächliche Anteil des Einflusses der Bevölkerungszusammensetzung nur vermutet werden kann.

Angesichts der demografischen Entwicklung ist mit einer deutlichen Zunahme der Armut in Deutschland zu rechnen. Der Anteil der Bevölkerung mit Migrationshintergrund wächst deutlich in den kommenden Jahrzehnten. Bei den unter 20-Jährigen lag er schon vor der Zuwanderungswelle des Jahres 2015 bei rund 25 Prozent. Zählt man die letzte Migrationswelle inklusive des Familiennachzugs mit ein, dürfte der Anteil an der Alterskohorte nochmals deutlich steigen. Und damit auch die Armut in Deutschland. Die Mehrheit der armutsgefährdeten Menschen wird schon 2018 einen Migrationshintergrund haben.“

Das ist der Grund für den Zuwachs der Armut und nicht die Hartz-IV-Reformen. Getrost dürfen wir davon ausgehen, dass ein (noch) größerer Teil der Zuwanderer (vor allem aus der Türkei und dem arabischen Raum) nicht erwerbstätig wären, wenn wir die Reformen nicht gemacht hätten.

Hier nochmals der Link zu meinem Kommentar vor damals, der auch auf die Gruppen der Zuwanderer eingeht:

 → „Warum Deutschland nicht noch mehr Umverteilung braucht“

Doch es gibt einen Punkt, wo ich Odenthal ohne zu zögern zustimme:

  • “(…) these workers have consistently been taxed at punitive rates: (…) Low wage earners are then taxed at 45 per cent in Germany, which is a whopping 13 percentage points higher than the OECD average.That’s slightly worse than France and significantly above Greece, Italy, Portugal, and Spain. Only Belgium and Hungary are worse.” – bto: Und das ist der wahre Skandal.
  • “German taxes on low-paid workers were among the highest in the world when the data began in 2000 and they’ve stayed that way ever since.” bto: Dann können sie auch nicht schuld am Anstieg der Armut sein!

 → FT (Anmeldung erforderlich): “The myth of the German jobs miracle”, 11. Juli 2017