Abstrus: Negativzinsen offenbaren die wahren Kosten des Kapitalismus?

Thomas Straubhaar, früherer Chef des Weltwirtschaftsinstituts gefällt sich in der Rolle des Querdenkers.

→ Das große Märchen von der globalen Verschuldung

Nun greift er in einem Beitrag für die WELT die Negativzinsen auf und kommt mit einer weiteren Erklärung für das von vielen erwartete globale Zeitalter der Negativzinsen, das ich ausführlich besprochen habe:

Und diese Aussage ist so faszinierend, dass wir sie bei bto unbedingt beleuchten müssen:

  • “Reale Null- oder sogar Negativzinsen bedeuten letztlich jedoch nichts anderes, als dass dem Kapitalismus ökonomisch die Puste ausgeht. Der Kapitalismus lebt von der Erwartung positiver Realzinsen. Die eine hat eine Geschäftsidee, aber kein Geld, um sie zu finanzieren. Der andere hat Geld, aber keine Geschäftsidee. Beide zusammen können sich nun auf eine Win-win-Situation einigen.” – bto: Das klingt klar. Man könnte natürlich auch sagen, dass die Banken, die das Geld durch Kreditvergabe produzieren, immer ein Risiko eingehen, das existenzbedrohend sein könnte. Außerdem haben sie Kosten für Verwaltung etc., weshalb naturgemäß der Zins größer als null sein sollte.
  • “Ein negativer Realzins ist mit dem Kapitalismus an sich unvereinbar. Er deutet darauf hin, dass Kredit nehmenden Investoren kluge Ideen für rentable Geschäftsmodelle fehlen, die so ergiebig sind, dass sie eine positive Rendite abwerfen.” – bto: oder daraufhin, dass in der Vergangenheit zu viel Geld = Schulden produziert wurden, dass es ein Überangebot gibt.
  • “Ohne positive Rendite wiederum werden sich Kapitalisten (also die Gläubiger) schwertun, ihre Vermögen und Ersparnisse anderen (also den Schuldnern) auszuleihen. Damit kommt es zum Ende eines Kapitalangebots, zum Ende fremdfinanzierter Investitionen und damit zum Ende des Kapitalismus.” – bto: Man könnte auch umgekehrt argumentieren, dass die Tatsache, dass Geld nichts kostet, dazu führt, dass die Unternehmen weniger Druck haben, die Produktivität zu steigern, weil der Schuldendruck fehlt.
  • “In dieser Kapitalismuskrise können nur noch die Notenbanken weiterhelfen. Sie verfügen über Möglichkeiten, den Geldzins, den ein Investor für eine Fremdfinanzierung einer Geschäftsidee faktisch zu bezahlen hat, ins Negative zu treiben. Und zwar so weit, dass ein Schuldner allein schon für seine Bereitschaft, einen Fremdkredit aufzunehmen, so stark belohnt wird, dass er damit Verluste aus seiner Geschäftsidee finanzieren kann.” – bto: Schon zuvor haben die Notenbanken über ihre Preismanipulation die Grundlage für Fehlinvestitionen und damit die Verzerrungen gelegt, die sie nun zu bekämpfen trachten.
  • “Eine für den Kapitalismus im wahren Sinne perverse Anreizsituation, weil dann gewisse Firmen überleben können, nicht weil sie ihr Geld durch ihre Kernkompetenzen erwirtschaften, sondern weil die Kapitalisten ihnen Geld ‘schenken’!” – bto: Es ist eine andere Form der Charakterisierung von Zombies und natürlich nur denkbar, wenn es diese Verzerrung gibt, weil sonst niemand sein Geld so verleiht. Er spart es lieber unter dem Kopfkissen.
  • “Für das langfristige Sinken der Realzinsen gibt es eine Menge überzeugender Erklärungen. Offenbar liegt das weltweite Kapitalangebot über der Kapitalnachfrage. Dafür nennen führende Makroökonomen im aktuellen ‘Wirtschaftsdienst’ eine Reihe gut belegter Gründe. Als Folge einer Alterung der Gesellschaft wird in den OECD-Ländern sehr viel gespart, um für den Ruhestand vorzusorgen. Des Weiteren hat sich die Einkommensverteilung zugunsten der Bezieher hoher Einkommen mit hoher Sparneigung verändert, und Investitionsgüter sind weltweit billiger geworden.” – bto: Wir kennen diese Thesen. Sparquoten sind allerdings empirisch nicht gestiegen, Einkommensverteilung ist eine mögliche Ursache, günstigere Investitionen – IT – sind sicherlich nachvollziehbar. In Summe genügt das aber nicht, die Zinsentwicklung zu erklären. Vermutlich ist es wirklich die These von der Ausweitung der Haftungsräume. Wenn alle für alle haften, gibt es ja keinerlei Risiken mehr. Oder?
  • “Als besonders starker Treiber eines fallenden Realzinses erweisen sich die sinkenden realwirtschaftlichen Wachstumserwartungen. Die einfache Erklärung lautet, dass hierfür der langfristige Strukturwandel von der Industrie- zur Dienstleistungsgesellschaft verantwortlich sei. (Hier) sind Produktivitätszuwächse geringer als in der Massenindustrie mit ihrer Standardisierung. Die schwache Diffusion neuer Technologien sei eine weitere Ursache dafür, dass der technische Fortschritt mehr und mehr nur noch im Schneckentempo vorankomme.” – bto: Natürlich führt der Gang in die Dienstleistungsgesellschaft dazu, dass wir weniger Produktivitätsfortschritte haben. Aber es hat auch mit den Folgen der hohen Schulden zu tun.
  • “Die aktuellen Diskussionen über ‘eine solidarische und nachhaltige Welt’ beim WEF in Davos erwecken nun jedoch eine neue, ganz grundsätzliche und wesentlich weiter gehende Vermutung, was hinter den sinkenden realwirtschaftlichen Wachstumserwartungen und dem damit einhergehenden fallenden Realzins stecken könnte. Vielleicht signalisieren die mittlerweile negativen Realzinsen, dass tatsächlich die Externalisierungsgesellschaft an ihre Grenzen stößt, so wie es der Münchner Soziologieprofessor Stephan Lessenich vor einer Weile bereits prognostiziert hat.“ – bto: Tja, was könnte damit gemeint sein? Wohl geht es darum, dass nicht alle Kosten der Produktion von Waren und Dienstleistungen erfasst sind, die berühmten Umweltschäden. Nun würde ich sagen, dass wir seit 50 Jahren einen zunehmenden Prozess der Internalisierung haben. Denn immer mehr externe Kosten wurden eingebaut oder über Regulierung erzwungen. Im Rhein kann man wieder schwimmen, die Luft ist reiner als vor 50 Jahren. Wir haben also keine zunehmende, sondern eine abnehmende Externalisierung. Das gilt auch für den Ressourceneinsatz, der seit Jahren in Europa beispielsweise stagniert, obwohl wir deutlich mehr wirtschaften und Wohlstand erzeugen.
  • “Was, wenn der Realzins zur Hochzeit der Industrialisierung in Europa und Deutschland nur deshalb so positiv war, weil er nicht allen Kosten gerecht wurde? Weil Kosten ‘extern’ entstanden – entweder in anderen Weltregionen oder eben bei Umwelt und Klima – und hierzulande nicht die Erträge der Hersteller von Massenprodukten in sozial oder ökologisch angemessener Weise schmälerten.“ – bto: Will hier ernsthaft ein Ökonom einen Soziologen zitierend behaupten, die reale Rendite unseres Wirtschaftens sei sauber gerechnet negativ? Wie passt das zur dramatisch gestiegenen Lebenserwartung und deutlich gesunkener Armut? Diese These ist so offensichtlich falsch, dass ich mich frage, was das soll.
  • „‘Die Geschichte des Kapitalismus ist eine Geschichte der Externalisierung’, postuliert Lessenich. Dieser Teil des Kapitalismuszeitalters dürfte zu Ende gehen und selber Geschichte werden.“ – bto: Diese Behauptung ist schlichtweg falsch.
  • “Das Ende der Missachtung externer Kosten zulasten von Umwelt und Klima wird beim Wirtschaften flächendeckend zum Teil massive zusätzliche Vermeidungs- und Anpassungskosten erforderlich machen. Sie werden für eine lange Weile die Renditeerwartungen und damit auch die Realzinsentwicklung dämpfen.” – bto: Das mag für viele, aber nicht für alle Unternehmen gelten. Schon gar nicht für die gesamte Wirtschaft. Wenn es so wäre, würde es nicht passieren (und dann müsste man per Planwirtschaft, wie von den Grünen gefordert, den Weg in den Sozialismus beschreiten, der aber, wie wir aus Erfahrung wissen, weder freiheitlich ist noch die Umwelt schont). Und wenn es so wäre, würde niemand das freiwillig finanzieren, sondern sein Geld bunkern oder verbrauchen.
  • “Bis neue Technologien für wahre Produktivitätsfortschritte ohne Vernachlässigung externer Effekte sorgen, ist es in Ökonomik und Ökonomie, in Theorie und Praxis angezeigt, die soziale Marktwirtschaft jenseits des Kapitalismus so zu modernisieren, dass sie sowohl ökologisch nachhaltig wie ökonomisch stichhaltig Zeiten mit real gering positiven oder eben sogar Null- und Negativzinsen gebührend Rechnung trägt.” – bto: Das ist Blabla. Im Kern bleibe ich bei meiner schon mehrfach hier geäußerten Meinung, dass wir über eine Entwertung vergangener Investitionen und zugleich einen massiven technologischen Umbruch wie schon in den letzten 50 Jahren die Ziele erreichen werden. Der Versuch, niedrige Zinsen so zu erklären, überzeugt in keiner Weise.

→ WELT: “Die Negativzinsen offenbaren die wahren Kosten des Kapitalismus”, 23. Januar 2020