Mathias Binswanger: „Das System funktioniert nur, wenn wir weiter­wachsen – ob wir wollen oder nicht.“

In meinem Podcast am 14.03.2021 spreche mit Mathias Binswanger, Professor an der Fachhochschule Nordwestschweiz in Olten. Sein Vater Hans Christoph Binswanger hat sich bereits mit dem Thema des Wachstumszwangs auseinandergesetzt und ich habe seine Interpretation von Goethes “Faust” vor zwei Wochen in der ersten Folge der dreiteiligen “Serie” zum Thema ausführlich zitiert.

Mathias Binswanger erforscht den Zusammenhang zwischen Glück und Einkommen sowie die Prinzipien des modernen Geld- und Finanzwesens. Die Neue Zürcher Zeitung zählte ihn regelmäßig zu den einflussreichsten Ökonomen der Schweiz.

Im Gespräch mit brand eins hat er 2019 über sein 2018 erschienenes Buch „Der Wachstumszwang“ gesprochen. Die Highlights: 

  • “brand eins: Josef Ackermann, der von 2002 bis 2012 die Deutsche Bank führte, hielt eine Eigenkapitalrendite von 25 Prozent vor Steuern für notwendig. (…) war Ackermanns Forderung aus heutiger Sicht vernünftig oder völlig überzogen?
    Mathias Binswanger: Das weiß ich nicht. Erstaunlich ist, dass solche Renditen damals überhaupt möglich waren. (…) Letztlich beruhten die Renditen auf spekulativen Blasen, zum Teil an der Börse, zum Teil auf dem Immobilienmarkt. Die Realwirtschaft allein kann auf Dauer niemals für Renditen in einer solchen Größenordnung sorgen.” – bto: Das stimmt natürlich. Wir wissen, dass in den letzten 40 Jahren immer tiefere Zinsen und massiv steigende Verschuldung diese Renditen überhaupt ermöglichte.
  • “Zeiten spekulativer Blasen waren immer auch Zeiten, in denen exorbitante Gehälter für Topmanager bezahlt wurden. Das war schon in den Zwanzigerjahren so, als zum ersten Mal hohe Gehälter und auch Bonuszahlungen im Finanzsektor aufkamen. Danach wurden in der Branche über lange Zeit keine außergewöhnlich hohen Gehälter gezahlt. Erst in den Achtziger- und Neunzigerjahren stiegen sie erneut extrem an – in einer Zeit spekulativer Blasen und Exzesse. Es gibt also offensichtlich einen Anreiz, kurzfristig möglichst hohe Gewinne zu erzielen, wenn man auch persönlich davon profitiert.” – bto: In der Tat gibt es Studien, die genau das zeigen. Über Jahrzehnte haben Banker nicht mehr verdient als die Mitarbeiter in anderen Branchen. Und es ist auch so, dass ein hoher Anteil an Beschäftigten im Finanzsektor die Innovationskraft schwächt. Es wäre besser, die Klügsten gingen in andere Branchen.
  • “(…) früher waren das eher seltene Ereignisse, heute gibt es ständig irgendwo eine Blase: an der Börse, bei Immobilien, beim Gold oder beim Bitcoin. Das liegt unter anderem daran, dass viel zu viel Geld vorhanden ist, relativ zu den profitablen Investitionsmöglichkeiten in der Realwirtschaft.” – bto: Das ist eine Folge der Politik. Notenbanken und Regierungen haben alles getan, um das Geld- = Schulden-Wachstum nach oben zu treiben.
  • “Ihre These ist: Ganz egal wie die Lage gerade ist, in unserem System herrscht jederzeit Wachstumszwang. Wie kommen Sie darauf? – Ganz einfach: In der kapitalistischen Wirtschaft kann kein Unternehmen längerfristig Verluste machen, sonst verschwindet es vom Markt. Gewinne sind aber für die Mehrheit der Unternehmen nur möglich, solange es Wachstum gibt. Das heißt, das Wachstum der Wirtschaft ist eng gekoppelt daran, dass der Unternehmenssektor insgesamt stets Gewinne erzielen kann.” – bto: was auch bedeutet, dass die Schulden stets wachsen müssen und dazu genutzt werden, mehr nachzufragen.
  • “Der Zwang besteht nicht darin, dass irgendwo gierige Kapitalisten mit der Peitsche stehen. Zwang bedeutet vielmehr, die einzig denkbare Alternative zu vermeiden: die Schrumpfung. Wenn Unternehmen keine Gewinne mehr machen, verschwinden sie vom Markt. So steigt die Arbeitslosigkeit. Dann geht der Konsum zurück. Weitere Unternehmen bekommen Probleme, die wiederum weniger investieren. Wir geraten also in eine Abwärtsspirale. Das bedeutet: Wir müssen immer weiter wachsen, damit wir nicht zu schrumpfen beginnen. Und der wichtigste Motor dieses ganzen Wachstums sind die börsennotierten Aktiengesellschaften.” – bto: Ich denke, es ist in jeder Rechtsform so. Selbst Genossenschaften müssen sich erhalten und stehen im Wettbewerb mit anderen Unternehmen. Daher dann der Druck.
  • “Führt das dann nicht zu einem effizienten Umgang mit Ressourcen und letztlich zu mehr Wohlstand? – Das ist jedenfalls die neoklassische Argumentation. Dass das Geld immer dorthin fließt, wo die Renditen am höchsten sind, was wiederum heißt, dass man genau die Güter und Dienstleistungen produziert, die am allermeisten nachgefragt werden. Und das sind in der Theorie wiederum die Güter, die den höchsten Nutzen stiften für die Konsumenten. Auf diese Weise wird dann auch das Allgemeinwohl am meisten gesteigert.” – bto: Bei einer ausschließlichen realwirtschaftlichen Verwendung der Mittel hätte diese Argumentation durchaus etwas für sich.
  • “Und was ist das Problem mit dieser Argumentation? – Zunächst steckt eine ganze Reihe von Annahmen dahinter, etwa über perfekte Märkte und Informationstransparenz, die in der Realität nicht erfüllt sind. Dann wird vernachlässigt, dass viel Geld gar nicht mehr in die Realwirtschaft fließt, sondern auf den Finanzmärkten bleibt. Und schließlich erhält die neoklassische Theorie auch noch die Fiktion aufrecht, dass das Wachstum durch Bedürfnisse getrieben ist. Das heißt, es könnte auch aufhören, wenn die Menschen irgendwann mal genug hätten. Doch der real existierende Kapitalismus ist darauf ausgerichtet, dass es niemals genug ist.” – bto: immer mehr als Ziel. Bedürfnisse werden auch geweckt, um sie befriedigen zu können. Umgekehrt muss man allerdings anerkennen, dass die weltweite Armut deutlich zurückgegangen ist.
  • “Warum lassen wir die Unternehmen nicht all die Kosten übernehmen, die bislang die Allgemeinheit tragen musste? – (…) Man erhebt zwar in einigen Ländern CO2-Steuern, aber so moderat, dass das Wachstum nicht gefährdet ist. Man vergibt Emissionszertifikate aber so großzügig, dass die Preise nicht so hoch steigen, dass es für die Geschäftstätigkeit eine Rolle spielt. (…) Wenn wir es wirklich ernst nähmen, müssten wir das Prinzip der Suffizienz berücksichtigen. Das bedeutet: Es müsste gewisse Grenzen für bestimmte Dinge geben. Aber das geht eben nicht in diesem Wirtschaftssystem. Mit dem Prinzip der Effizienz kann man dort gut umgehen, denn das schafft immer wieder neue Wachstumschancen. Sobald man aber versucht, dem ökonomischen Prozess irgendwelche Grenzen zu setzen, wird das System versuchen, diese Grenzen wieder zu beseitigen oder in eine sehr ferne Zukunft zu verschieben. Die sogenannten natürlichen Grenzen des Wachstums, die schon 1972 vom Club of Rome vorhergesagt wurden, sind bis heute in der damals prognostizierten Form nicht erreicht worden.” – bto: Das kann man ja auch positiv sehen. Das System ist so gut, dass es den Schaden verringern kann, denn nichts anderes ist die Verschiebung der Grenzen.
  • “Man kann einem einzelnen Unternehmen auch kaum vorwerfen, dass es Gewinne immer weiter steigern will. – Natürlich nicht. Es passiert ja nicht zum Spaß, sondern weil das für ein Unternehmen überlebensnotwendig ist. Wer stillsteht, wird verdrängt, weil alle anderen ständig versuchen, mit Neuerungen und Innovationen besser zu werden, um ihre eigenen Gewinne zu maximieren. Auch das können wir zunächst positiv sehen, weil Firmen so gezwungen sind, die Bedürfnisse der Menschen noch besser zu decken. Bloß ist das heute zum größten Teil reine Fiktion, weil diese Bedürfnisse nicht mehr einfach so da sind. Stattdessen arbeiten inzwischen sehr viele Menschen in der Wirtschaft daran, neue Bedürfnisse zu wecken, damit das Wachstum weitergehen kann.” – bto: Das ist vermutlich richtig. Andererseits gibt es noch viele ungelöste Probleme der Menschheit UND man kann sich vorstellen, das Wachstum vom Ressourcenverbrauch zu lösen.
  • “Börsennotierte Unternehmen müssen dafür sorgen, dass der Börsenwert, der sich aus Gewinnerwartungen ableitet, ständig steigt. Man kann auch nicht erwarten, dass sich Manager anders verhalten, solange erstens Firmen an der Börse auf diese Weise bewertet werden und sie zweitens auch noch über Bonuszahlungen direkt davon profitieren, wenn sie kurzfristig den Shareholder Value maximieren. (…) Man kann sich überlegen, ob es nicht andere Formen von Unternehmen braucht, etwa Genossenschaften. Genossenschafter können gemeinsam beschließen, dass nicht nur Gewinne wichtig sind, sondern auch andere Ziele und auf einen Teil der Gewinne verzichten.” – bto: Ich denke aber, dass damit strukturell eine Abnahme der Effizienz eintritt. Gunnar Heinsohn hat ja eine ähnliche Erfahrung geschildert mit den israelischen Kibbuzen. Diese funktionieren nur bei der Führung durch die Besten, die letztlich den marktwirtschaftlichen Druck nachahmen.
  • “Eine andere Idee könnte sein: Man gibt Aktien ein bestimmtes Ablaufdatum. Sie würden also nicht mehr auf unendliche Zeit herausgegeben, sondern genau wie Anleihen irgendwann zum Ausgabepreis zurückgenommen. Das würde die Spekulation an der Börse erheblich dämpfen, weil es nur noch um die Dividenden über die Laufzeit ginge, aber nicht mehr um die Aussicht auf unendliche Zukunftsgewinne.” – bto: Steve Keen argumentiert in eine ähnliche Richtung, geht sogar so weit, dass die Aktien nach einer bestimmten Frist verfallen, einfach deshalb, weil das Geld, für das sie einmal ausgegeben wurden, schon lange investiert wurde und abgeschrieben ist. Die Idee hat Charme.
  • “Man lässt die Wirtschaft so, wie sie ist, verordnet ihr aber Corporate Social Responsibility oder verlangt irgendwelche Zertifikate. Wir schaffen es auch zunehmend, Wirtschaftswachstum vom Ressourcenverbrauch zu entkoppeln. Aber wir ändern nichts an der grundsätzlichen Dynamik des Systems. Das käme auch einer Revolution nah.” – bto: Wenn wir diese Fortschritte machen, wozu brauchen wir dann den Systemwechsel?
  • “Derzeit diskutieren wir zum Beispiel viel über CO2-Emisionen – aber wenn die Wirtschaft schlechter laufen und die Arbeitslosigkeit zunehmen sollte, würde Letzteres sehr schnell zum Hauptproblem, andere Themen träten in den Hintergrund. Und in der Masse sind Menschen nicht bereit, auf materiellen Wohlstand zu verzichten. Dass sich viele so etwas wie eine Postwachstumsökonomie wünschen, kann ich nicht erkennen.” – bto: Ich denke auch, dass man sich diese Themen leisten können muss. Gerade in Deutschland können wir das zurzeit sehr gut beobachten.
  • “Ist Maßhalten unter den Bedingungen kapitalistischer Systeme vielleicht gar nicht möglich? – Es ist immer möglich, aber nur in Nischen. Wenn die Mehrheit der Menschen Verzicht übte, dann wäre das gefährlich für die kapitalistische Wirtschaft. Doch diese Gefahr existiert nicht: Der Konsum wächst auch in den reichsten Ländern mit schöner Regelmäßigkeit von Jahr zu Jahr weiter.” – bto: Wir werden sehen, wie der gewünschte Niedergang der Automobilindustrie sich politisch auswirkt.
  • “Die Wirtschaft funktioniert auch mit durchschnittlichen Wachstumsraten von ein bis zwei Prozent pro Jahr und bei entsprechend geringeren Renditen. Wir sehen ja, dass die Ansprüche seit der Finanzkrise bereits bescheidener geworden sind. Wir müssen letztlich unsere Renditeerwartungen wieder normalisieren.” – bto: also ein gebremstes System, kein anderes System. Klingt für mich vernünftig.

brandeins.de: „‘Das System funktioniert nur, wenn wir weiterwachsen – ob wir wollen oder nicht.‘“, 2019