Mathias Binswanger: „Das System funktioniert nur, wenn wir weiter­wachsen – ob wir wollen oder nicht.“

In meinem Podcast am 14.03.2021 spreche mit Mathias Binswanger, Professor an der Fachhochschule Nordwestschweiz in Olten. Sein Vater Hans Christoph Binswanger hat sich bereits mit dem Thema des Wachstumszwangs auseinandergesetzt und ich habe seine Interpretation von Goethes “Faust” vor zwei Wochen in der ersten Folge der dreiteiligen “Serie” zum Thema ausführlich zitiert.

Mathias Binswanger erforscht den Zusammenhang zwischen Glück und Einkommen sowie die Prinzipien des modernen Geld- und Finanzwesens. Die Neue Zürcher Zeitung zählte ihn regelmäßig zu den einflussreichsten Ökonomen der Schweiz.

Im Gespräch mit brand eins hat er 2019 über sein 2018 erschienenes Buch „Der Wachstumszwang“ gesprochen. Die Highlights: 

  • “brand eins: Josef Ackermann, der von 2002 bis 2012 die Deutsche Bank führte, hielt eine Eigenkapitalrendite von 25 Prozent vor Steuern für notwendig. (…) war Ackermanns Forderung aus heutiger Sicht vernünftig oder völlig überzogen?
    Mathias Binswanger: Das weiß ich nicht. Erstaunlich ist, dass solche Renditen damals überhaupt möglich waren. (…) Letztlich beruhten die Renditen auf spekulativen Blasen, zum Teil an der Börse, zum Teil auf dem Immobilienmarkt. Die Realwirtschaft allein kann auf Dauer niemals für Renditen in einer solchen Größenordnung sorgen.” – bto: Das stimmt natürlich. Wir wissen, dass in den letzten 40 Jahren immer tiefere Zinsen und massiv steigende Verschuldung diese Renditen überhaupt ermöglichte.
  • “Zeiten spekulativer Blasen waren immer auch Zeiten, in denen exorbitante Gehälter für Topmanager bezahlt wurden. Das war schon in den Zwanzigerjahren so, als zum ersten Mal hohe Gehälter und auch Bonuszahlungen im Finanzsektor aufkamen. Danach wurden in der Branche über lange Zeit keine außergewöhnlich hohen Gehälter gezahlt. Erst in den Achtziger- und Neunzigerjahren stiegen sie erneut extrem an – in einer Zeit spekulativer Blasen und Exzesse. Es gibt also offensichtlich einen Anreiz, kurzfristig möglichst hohe Gewinne zu erzielen, wenn man auch persönlich davon profitiert.” – bto: In der Tat gibt es Studien, die genau das zeigen. Über Jahrzehnte haben Banker nicht mehr verdient als die Mitarbeiter in anderen Branchen. Und es ist auch so, dass ein hoher Anteil an Beschäftigten im Finanzsektor die Innovationskraft schwächt. Es wäre besser, die Klügsten gingen in andere Branchen.
  • “(…) früher waren das eher seltene Ereignisse, heute gibt es ständig irgendwo eine Blase: an der Börse, bei Immobilien, beim Gold oder beim Bitcoin. Das liegt unter anderem daran, dass viel zu viel Geld vorhanden ist, relativ zu den profitablen Investitionsmöglichkeiten in der Realwirtschaft.” – bto: Das ist eine Folge der Politik. Notenbanken und Regierungen haben alles getan, um das Geld- = Schulden-Wachstum nach oben zu treiben.
  • “Ihre These ist: Ganz egal wie die Lage gerade ist, in unserem System herrscht jederzeit Wachstumszwang. Wie kommen Sie darauf? – Ganz einfach: In der kapitalistischen Wirtschaft kann kein Unternehmen längerfristig Verluste machen, sonst verschwindet es vom Markt. Gewinne sind aber für die Mehrheit der Unternehmen nur möglich, solange es Wachstum gibt. Das heißt, das Wachstum der Wirtschaft ist eng gekoppelt daran, dass der Unternehmenssektor insgesamt stets Gewinne erzielen kann.” – bto: was auch bedeutet, dass die Schulden stets wachsen müssen und dazu genutzt werden, mehr nachzufragen.
  • “Der Zwang besteht nicht darin, dass irgendwo gierige Kapitalisten mit der Peitsche stehen. Zwang bedeutet vielmehr, die einzig denkbare Alternative zu vermeiden: die Schrumpfung. Wenn Unternehmen keine Gewinne mehr machen, verschwinden sie vom Markt. So steigt die Arbeitslosigkeit. Dann geht der Konsum zurück. Weitere Unternehmen bekommen Probleme, die wiederum weniger investieren. Wir geraten also in eine Abwärtsspirale. Das bedeutet: Wir müssen immer weiter wachsen, damit wir nicht zu schrumpfen beginnen. Und der wichtigste Motor dieses ganzen Wachstums sind die börsennotierten Aktiengesellschaften.” – bto: Ich denke, es ist in jeder Rechtsform so. Selbst Genossenschaften müssen sich erhalten und stehen im Wettbewerb mit anderen Unternehmen. Daher dann der Druck.
  • “Führt das dann nicht zu einem effizienten Umgang mit Ressourcen und letztlich zu mehr Wohlstand? – Das ist jedenfalls die neoklassische Argumentation. Dass das Geld immer dorthin fließt, wo die Renditen am höchsten sind, was wiederum heißt, dass man genau die Güter und Dienstleistungen produziert, die am allermeisten nachgefragt werden. Und das sind in der Theorie wiederum die Güter, die den höchsten Nutzen stiften für die Konsumenten. Auf diese Weise wird dann auch das Allgemeinwohl am meisten gesteigert.” – bto: Bei einer ausschließlichen realwirtschaftlichen Verwendung der Mittel hätte diese Argumentation durchaus etwas für sich.
  • “Und was ist das Problem mit dieser Argumentation? – Zunächst steckt eine ganze Reihe von Annahmen dahinter, etwa über perfekte Märkte und Informationstransparenz, die in der Realität nicht erfüllt sind. Dann wird vernachlässigt, dass viel Geld gar nicht mehr in die Realwirtschaft fließt, sondern auf den Finanzmärkten bleibt. Und schließlich erhält die neoklassische Theorie auch noch die Fiktion aufrecht, dass das Wachstum durch Bedürfnisse getrieben ist. Das heißt, es könnte auch aufhören, wenn die Menschen irgendwann mal genug hätten. Doch der real existierende Kapitalismus ist darauf ausgerichtet, dass es niemals genug ist.” – bto: immer mehr als Ziel. Bedürfnisse werden auch geweckt, um sie befriedigen zu können. Umgekehrt muss man allerdings anerkennen, dass die weltweite Armut deutlich zurückgegangen ist.
  • “Warum lassen wir die Unternehmen nicht all die Kosten übernehmen, die bislang die Allgemeinheit tragen musste? – (…) Man erhebt zwar in einigen Ländern CO2-Steuern, aber so moderat, dass das Wachstum nicht gefährdet ist. Man vergibt Emissionszertifikate aber so großzügig, dass die Preise nicht so hoch steigen, dass es für die Geschäftstätigkeit eine Rolle spielt. (…) Wenn wir es wirklich ernst nähmen, müssten wir das Prinzip der Suffizienz berücksichtigen. Das bedeutet: Es müsste gewisse Grenzen für bestimmte Dinge geben. Aber das geht eben nicht in diesem Wirtschaftssystem. Mit dem Prinzip der Effizienz kann man dort gut umgehen, denn das schafft immer wieder neue Wachstumschancen. Sobald man aber versucht, dem ökonomischen Prozess irgendwelche Grenzen zu setzen, wird das System versuchen, diese Grenzen wieder zu beseitigen oder in eine sehr ferne Zukunft zu verschieben. Die sogenannten natürlichen Grenzen des Wachstums, die schon 1972 vom Club of Rome vorhergesagt wurden, sind bis heute in der damals prognostizierten Form nicht erreicht worden.” – bto: Das kann man ja auch positiv sehen. Das System ist so gut, dass es den Schaden verringern kann, denn nichts anderes ist die Verschiebung der Grenzen.
  • “Man kann einem einzelnen Unternehmen auch kaum vorwerfen, dass es Gewinne immer weiter steigern will. – Natürlich nicht. Es passiert ja nicht zum Spaß, sondern weil das für ein Unternehmen überlebensnotwendig ist. Wer stillsteht, wird verdrängt, weil alle anderen ständig versuchen, mit Neuerungen und Innovationen besser zu werden, um ihre eigenen Gewinne zu maximieren. Auch das können wir zunächst positiv sehen, weil Firmen so gezwungen sind, die Bedürfnisse der Menschen noch besser zu decken. Bloß ist das heute zum größten Teil reine Fiktion, weil diese Bedürfnisse nicht mehr einfach so da sind. Stattdessen arbeiten inzwischen sehr viele Menschen in der Wirtschaft daran, neue Bedürfnisse zu wecken, damit das Wachstum weitergehen kann.” – bto: Das ist vermutlich richtig. Andererseits gibt es noch viele ungelöste Probleme der Menschheit UND man kann sich vorstellen, das Wachstum vom Ressourcenverbrauch zu lösen.
  • “Börsennotierte Unternehmen müssen dafür sorgen, dass der Börsenwert, der sich aus Gewinnerwartungen ableitet, ständig steigt. Man kann auch nicht erwarten, dass sich Manager anders verhalten, solange erstens Firmen an der Börse auf diese Weise bewertet werden und sie zweitens auch noch über Bonuszahlungen direkt davon profitieren, wenn sie kurzfristig den Shareholder Value maximieren. (…) Man kann sich überlegen, ob es nicht andere Formen von Unternehmen braucht, etwa Genossenschaften. Genossenschafter können gemeinsam beschließen, dass nicht nur Gewinne wichtig sind, sondern auch andere Ziele und auf einen Teil der Gewinne verzichten.” – bto: Ich denke aber, dass damit strukturell eine Abnahme der Effizienz eintritt. Gunnar Heinsohn hat ja eine ähnliche Erfahrung geschildert mit den israelischen Kibbuzen. Diese funktionieren nur bei der Führung durch die Besten, die letztlich den marktwirtschaftlichen Druck nachahmen.
  • “Eine andere Idee könnte sein: Man gibt Aktien ein bestimmtes Ablaufdatum. Sie würden also nicht mehr auf unendliche Zeit herausgegeben, sondern genau wie Anleihen irgendwann zum Ausgabepreis zurückgenommen. Das würde die Spekulation an der Börse erheblich dämpfen, weil es nur noch um die Dividenden über die Laufzeit ginge, aber nicht mehr um die Aussicht auf unendliche Zukunftsgewinne.” – bto: Steve Keen argumentiert in eine ähnliche Richtung, geht sogar so weit, dass die Aktien nach einer bestimmten Frist verfallen, einfach deshalb, weil das Geld, für das sie einmal ausgegeben wurden, schon lange investiert wurde und abgeschrieben ist. Die Idee hat Charme.
  • “Man lässt die Wirtschaft so, wie sie ist, verordnet ihr aber Corporate Social Responsibility oder verlangt irgendwelche Zertifikate. Wir schaffen es auch zunehmend, Wirtschaftswachstum vom Ressourcenverbrauch zu entkoppeln. Aber wir ändern nichts an der grundsätzlichen Dynamik des Systems. Das käme auch einer Revolution nah.” – bto: Wenn wir diese Fortschritte machen, wozu brauchen wir dann den Systemwechsel?
  • “Derzeit diskutieren wir zum Beispiel viel über CO2-Emisionen – aber wenn die Wirtschaft schlechter laufen und die Arbeitslosigkeit zunehmen sollte, würde Letzteres sehr schnell zum Hauptproblem, andere Themen träten in den Hintergrund. Und in der Masse sind Menschen nicht bereit, auf materiellen Wohlstand zu verzichten. Dass sich viele so etwas wie eine Postwachstumsökonomie wünschen, kann ich nicht erkennen.” – bto: Ich denke auch, dass man sich diese Themen leisten können muss. Gerade in Deutschland können wir das zurzeit sehr gut beobachten.
  • “Ist Maßhalten unter den Bedingungen kapitalistischer Systeme vielleicht gar nicht möglich? – Es ist immer möglich, aber nur in Nischen. Wenn die Mehrheit der Menschen Verzicht übte, dann wäre das gefährlich für die kapitalistische Wirtschaft. Doch diese Gefahr existiert nicht: Der Konsum wächst auch in den reichsten Ländern mit schöner Regelmäßigkeit von Jahr zu Jahr weiter.” – bto: Wir werden sehen, wie der gewünschte Niedergang der Automobilindustrie sich politisch auswirkt.
  • “Die Wirtschaft funktioniert auch mit durchschnittlichen Wachstumsraten von ein bis zwei Prozent pro Jahr und bei entsprechend geringeren Renditen. Wir sehen ja, dass die Ansprüche seit der Finanzkrise bereits bescheidener geworden sind. Wir müssen letztlich unsere Renditeerwartungen wieder normalisieren.” – bto: also ein gebremstes System, kein anderes System. Klingt für mich vernünftig.

brandeins.de: „‘Das System funktioniert nur, wenn wir weiterwachsen – ob wir wollen oder nicht.‘“, 2019

Kommentare (22) HINWEIS: DIE KOMMENTARE MEINER LESERINNEN UND LESER WIDERSPIEGELN NICHT ZWANGSLÄUFIG DIE MEINUNG VON BTO.
  1. Kevin
    Kevin sagte:

    “Man gibt Aktien ein bestimmtes Ablaufdatum”. bto: Die Idee hat Charme.
    Worin besteht denn dann die Triebkraft des Unternehmens Gewinne zu erwirtschaften? Wenn das ausgegebene Kapital zum Festpreis zurückgeht, bzw. gar verfällt. Da möchte ich auch Aktien ausgeben….

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  2. jobi
    jobi sagte:

    Boom und Bust sind im tief im kapitalistischen System verankert – und zwar ganz unabhängig von Geld und Zins.

    Die Zyklizität ist Ausdruck von Zukunftserwartungen, Ideenreichtum, Risikobereitschaft, Fehleinschätzungen und Anpassungsfähigkeit seiner Protagonisten.

    Die Enfaltung dieser Eigenschaften ist es, durch die Wachstum möglich wird und durch die Wachstum zugleich begrenzt wird.

    Nicht das kapitalistische System hat uns an den Rand des Abgrundes geführt, sondern die Hybris der Eliten mit der Verheißung des ewigen Booms, die zunehmend erratischen Rettungsversuche, die bereits Ziel und Maß verloren zu haben scheinen und die in eine chaotische Endphase münden werden.

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  3. Felix
    Felix sagte:

    Wachstum ist zunächst etwas Gutes. Es ist an den Menschen, dafür zu sorgen, dass die Bildung wächst, nicht die Kriminalität.
    Solange etwas von Menschen nachgefragt wird, werden die dazu nötigen Tätigkeiten wachsen. Wird etwas verboten, wird das Verbot umgangen. Wenn ein Verbot sehr einsichtig ist (z.B. ein Verbot Giftmüll in die Landschaft zu kippen) so wird es ganz gut funktionieren, wenn es eng kontrolliert wir und die Menschen wenig wirtschaftlichen Druck haben, so etwas zu tun.

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    • foxxly
      foxxly sagte:

      @ felix 18:47
      klar, wachstum ist ansich was gutes.
      es gibt ein natürliches wachstum, welches aus arbeitsleistung von mensch und maschine entsteht und durch erfindungen.

      das problem beim wachstum beginnt, sobald dieser durch kredite gepuscht wird.
      dann fängt der exponentielle wachstumszwang an.
      und es ergibt daraus sich, dass zinslasten in den produkten ca. von 50 bis 80% drinn stecken.

      diese zinslast bringt das geld- und wirtschaftssystem in wiederkehrenden zeitabständen den zusammenbruch. (meist wurden vorher kriege angezettelt)

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  4. Dietmar Tischer
    Dietmar Tischer sagte:

    >In der kapitalistischen Wirtschaft kann kein Unternehmen längerfristig Verluste machen, sonst verschwindet es vom Markt>.

    Das ist richtig, wenn es denn eine KAPITALISTISCHE ist.

    >Gewinne sind aber für die Mehrheit der Unternehmen nur möglich, solange es Wachstum gibt.>

    Es wäre zu klären, ob es eine „MEHRHEIT der Unternehmen“ sein MUSS und nicht eine Minderheit sein KANN.

    Unabhängig davon:

    Der Sprung von einem zum anderen hinterlässt eine Leerstelle:

    Zwischen „Verluste machen“ und „Gewinne machen“ liegt „weder noch – gerade so weiter existieren“.

    Mit der Leerstelle geht es auch weiter:

    >Zwang bedeutet vielmehr, die einzig denkbare Alternative zu vermeiden: die Schrumpfung>

    Es ist NICHT die einzig MÖGLICHE.

    >Wir müssen immer weiter wachsen, damit wir nicht zu schrumpfen beginnen.>

    Das ist falsch, weil NICHT weiter wachsen NICHT schrumpfen, sondern stagnieren ist.

    >Und schließlich erhält die neoklassische Theorie auch noch die Fiktion aufrecht, dass das Wachstum durch Bedürfnisse getrieben ist.>

    Was die neoklassische Theorie angeht, hat R. M. Hinreichendes dazu dargelegt.

    Unabhängig davon:

    Die Bedürfnisse als Treiber für den Wachstumszwang anzusehen, ist nur für unterentwickelte Volkswirtschaften richtig, d. h. solche, in denen die Menschen der Existenzangst oder einer mit anderen verglichen zu geringen Bedürfnisbefriedigung entkommen wollen.

    Die NOTWENDIGKEIT aus Gründen der Bedürfnisbefriedigung wachsen zu MÜSSEN (Zwang), ist falsch.

    Sie müsste auch wachsen, wenn alle BEDÜRFNISSE befriedigt sind, was nicht heißt, dass alle BEDARFE erfüllt wären.

    Was den Wachstumszwang im Kapitalismus betrifft, ist G. Heinsohn weit überzeugender als M. Binswanger.

    Antworten
  5. Renée Menéndez
    Renée Menéndez sagte:

    Ich würde mal vermuten, daß von dem morgigen podcast nichts anderes zu erwarten ist, als was hier ausgeführt wird und was im Grunde genommen auch in seinen Vorträgen zum Thema “Wachstumszwang” angeboten wird. Ein seichtes Geplauder über dies und das, gespickt mit gelegentlich völlig aus der Luft gegriffenen Behauptungen. Wenn er behauptet, die Neoklassik beruhe auf der Fiktion, “dass das Wachstum durch Bedürfnisse getrieben ist.”, dann verwechselt er offensichtlich die Unterstellung eines stetig steigenden, aber (1. Ableitung) fallenden Grenznutzens (Gossensche Gesetze) mit dem kleinen aber wichtigen Umstand, daß die Neoklassik als Allokationstheorie überhaupt nichts zu Fragen des Wachstums beizutragen hat. Das was hinterher von Solow und Folgenden als Wachstumstheorie formuliert wurde ist im Endeffekt auch nicht mehr als die mathematische Formulierung der Bedingungen, daß eine gleichmäßige Expansionsrate des realen Produktionssystems zu höherer Produktion führt und damit – Gossensche Gesetze – zu dem, was höhere “Wohlfahrt” genannt wird. Dazu kommt noch der nicht ganz unwesentliche Umstand, daß ein monetärer “Wachstumszwang” von einer Neoklassik überhaupt nicht adressiert werden kann, weil sich eine Allokationstheorie nur mit relativen Preisen, d.h. mit Gütertauschraten beschäftigt – und NICHT mit Geld.

    Letzteren Punkt findet man indirekt auch in dem Paper von Richters/ Siemoneit:
    https://www.econstor.eu/bitstream/10419/144750/1/863731139.pdf
    “Neoclassical theories tend to assume that money is neutral in the long term, a mere numeraire or means of exchange, without significant differences to circulating commodities. It improves efficiency of exchange over barter but plays a rather passive role in the economic process (Anderegg, 2007;̧Sener, 2014). Therefore, the impact of monetary issues on long-run economic processes such as economic growth is considered negligible, which excludes monetary growth imperatives by assumption.”

    Die Neoklassik kann also schlichtweg nicht für eine Begründung des “Wachstumszwanges” hergenommen werden. Warum Binswanger dieses billige Ablenkungsmanöver fährt läßt sich vermutlich damit erklären, daß seine eigene Begründung – oder besser die seines Vater bzw. eigentlich dessen Doktoranden – auf einer merkwürdigen Konstruktion beruht, die auf einer Zurückhaltung von Geld durch die Banken beruht. (Im Grunde ein Spiegelbild einer keynesiansichen Position, wo aus konjunkturellen Gründen der Staat mit “deficit spendig” einspringen muß, wenn die Konsumquote zu gering ist – was wiederum mit Verteilungsaspekten begründet wird.) Das Argument pro “Wachstumszwang” kocht auf die Begründung runter (vgl. o.g. Paper), daß ja Banken im Wachstumsprozeß höheres Eigenkapital erzielen müssen, so daß sie gezwungen sind, Zinseinnahmen zu thesaurieren. Na prima, vermutlich müssen Banken ihren “Eigentumspreis” nicht verteidigen und deswegen auch nicht investieren – die Fintechs wird es freuen.

    Aber ich wollte eigentlich keine Satire schreiben…

    Antworten
  6. markus
    markus sagte:

    “Das ist vermutlich richtig. Andererseits gibt es noch viele ungelöste Probleme der Menschheit UND man kann sich vorstellen, das Wachstum vom Ressourcenverbrauch zu lösen.”

    Das stimmt. Nur taugt der Kapitalismus nicht dazu das zu lösen. Warum sollte eine Firma Probleme lösen für Personen, die so arm sind, dass es sich nicht lohnt, es stattdessen 100x lukrativer ist, Marketing- und Werbefachleute einzustellen, um bei den Reichen neue Bedürfnisse zu wecken?

    Antworten
  7. Thomas M.
    Thomas M. sagte:

    >Dann geht der Konsum zurück. Weitere Unternehmen bekommen Probleme, die wiederum weniger investieren. Wir geraten also in eine Abwärtsspirale.

    Derzeit wird – menschlich verständlich – keine Zyklik in der Wirtschaft (und auch im Staatsdienst!) geduldet. In der Natur aber fährt ab Herbst vieles runter oder stirbt sogar. Ab dem Frühling beginnt dann das exponentielle Wachstum. Jahrein, jahraus. Im Jahresblick eine Achterbahnfahrt. Langfristig extrem stabil.

    Ewig *real* wachsende Wirtschaft versucht das unmögliche.

    Soweit so klar und interessant. Der Irrglaube dürfte aber sein, dass man langfristige Stabilität ohne ein sich selbst regulierendes System top-down realisieren kann, also durch kluge Lenker. Das ist zum Scheitern verurteil, weil es diese klugen, selbstlosen Lenker unter Menschen nicht gibt, das System zu komplex ist (grundsätzliches kybernetisches Problem, dass etwas weniger Komplexes etwas Komplexeres steuern soll) und auch die Informationen beim Lenker nicht vorlägen / verarbeitet werden könnten.

    Meine Frage: Müssen Unternehmen eigentlich zwingend *reale*, also inflationsbereinigte Gewinne erwirtschaften oder wären die Eigentümer schon zufrieden und das Unternehmen stabilisert, wenn es nominelle Gewinne einfährt? Solange ein Plus in der Bilanz ist, *muss* das Unternehmen keinen Sparkurs alleine deswegen starten. Es kann sich natürlich dennoch dafür entscheiden. Wettbewerb und Verdrängung werden hierdurch per se auch nicht ausgehebelt. Der Druck ist ja weiterhin da. Wenn meine Produkte schlechter werden als der Wettbewerb, schreibe ich irgendwann Verluste, während der Wettbewerb höhere Gewinne schreibt.

    Dann müsste man halt “nur” dafür sorgen, dass ohne Kredit eine gewisse Neugeldmenge ins System kommt. (Das führt uns natürlich zu den anderen Problemen, wie und wo das Geld injiziert wird und der Inflation.)

    Ich seh wohl die Probleme, ahne aber, dass uns die “Systemwechsel-Lösungen” vom Regen in die Traufe bringen werden.

    Antworten
  8. troodon
    troodon sagte:

    Noch einmal zur Größenordnung und der Entwicklung des von H.C. und M. Binswanger errechneten Wachstumszwangs:
    “Verglichen mit früheren Publikationen zeigt sich eine interessante Entwicklung: Das Mindestwachstum, bei dem Unternehmen positive buchhalterische Gewinne erzielen können, wurde von H. C. Binswanger (2006) mit 1,8 % und von M. Binswanger (2009) mit 0,45 % berechnet. Nun ist diese Aussage deutlich abgeschwächt: mehr als 0 % Wachstum sei nötig, damit Unternehmen ökonomischen Gewinn als Kapital akkumulieren können.[1] Der buchhalterische Gewinn kann aber durchaus noch positiv sein, solange er ausgeschüttet wird – was exakt das Ergebnis jener Modelle ist, die der Autor wegen „ihrer Realitätsferne … nicht als Argument gegen den Wachstumszwang“ akzeptiert (S. 133).”
    https://www.postwachstum.de/brauchen-unternehmen-wirtschaftswachstum-20190903

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    • foxxly
      foxxly sagte:

      @ troodon 12:15
      größere wachstumsraten sind notwendig, weil das exponentielle geldsystem große asymetrien verursacht.
      dazu kommt die ungleichbehandlung bei abgaben an den staat etc.

      Antworten
      • troodon
        troodon sagte:

        @foxxly
        “größere wachstumsraten sind notwendig”
        Möchten sie also Binswanger widersprechen ?

      • foxxly
        foxxly sagte:

        @ troodon 12:34
        partiell. ja! er geht sicher von einem durchschnitt aus! also insfern kein widerspruch

    • troodon
      troodon sagte:

      @foxxly
      Warum schreiben Sie dann “größere wachstumsraten sind notwendig”, wenn ich von der Entwicklung der errechneten Wachstumsraten von 1,8% auf nur noch >0% schreibe?

      Bei M.Binswanger reichen offensichtlich 0,1% aus. Und da dürften wir dann schon im Bereich von Meßfehlern sein. Der Unterschied zu Menendez, der einen WachstumsZWANG bestreitet, ist dann rechnerisch minimal.

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      • foxxly
        foxxly sagte:

        @ troodon 13:56 ich hatte es bereits geschrieben, – und denke, sie die beiträge?

        durch die starke umverteilung von unten nach oben, wird die realwirtschaft immer schwächer in seinen wachstum. darum müssen sie die preise erhöhen, – und so weiter! im durchschnitt würde ich schätzen, dass es schon mindestens 1% wachstum sein müssen, damit das ganze wirtschafts-und gesellschaftssystem nicht abschschmiert.

        auch die binswanger´s sind sich da nicht ganz einig

      • troodon
        troodon sagte:

        @foxxly
        “im durchschnitt würde ich schätzen, dass es schon mindestens 1% wachstum sein müssen”
        Wenn Sie das so einfach schätzen können, wird es sicher richtig sein.
        Warum haben sich nur die Binswangers die Mühe gemacht, es errechnen zu wollen? Hätten doch einfach nur foxxly fragen müssen…

      • foxxly
        foxxly sagte:

        @ troodon 17:30 …… ist ihnen heute langweilig? sie waren auch schon mal konstruktiver!

  9. Alexander
    Alexander sagte:

    Deutsche Bank, Stand 2009, Quelle financial times Deutschland – damals.

    Eigenkapital 23 Mrd.€
    Bilanzsumme 1660 Mrd.€
    Eigenkapitalrendite 7.4% 1,7 Mrd.€

    Ackermann wäre auch mit 30% Eigenkapitalrendite schlechter gewesen als die meisten Sanitärinstallateure der Republik und von entfesseltem Kapitalismus kann nur angesichts RENDITELOSER RISIKEN gesprochen werden.

    Solchermaßen entblödete Empörung (30%) dient nur den Feinden der Marktwirtschaft.

    Es spricht für die Expertise von Angela Merkel solchen Eliten im Kanzleramt Geburtstatsfeiern auszurichten.

    Antworten
  10. Mister x
    Mister x sagte:

    Das trifft nicht auf jedes Unternehmen zu. Ich denke jedes Unternehmen muss seine srrukturellen Wettbewerbsvorteile verteidigen. Ohne die geht es unter, aber permanente Gewinnsteigerungen durch reales Wachstum braucht es nicht, solange Preissetzungsmacht besteht. Buffett hat z.b. mal einen Pralinenhersteller See’s Candies gekauft. Er sagt noch heute, dass das eine tolle Investition war, aber in all den Jahren ist es ihnen nicht gelungen, dessen Geschäft wirklich wachsen zu lassen, abgesehen von Preissteigerungen. Das Unternehmen ist eine Cash Cow, mit starker Marke und Preissetzungsmacht in seinen Märkten, aber recht lokal. Berkshire nimmt den Free-Cash-Flow und investiert woanders. Ein solches Unternehmen ohne echtes Wachstum hat auch kein Bedarf für Fremdkapital Es ist der Moat der über ein Unternehmen entscheidet, nicht primär Wachstum. Ein Unternehmen kann über unprofitables Wachstum auch viel Wert vernichten. Wir haben Wachstumszwang, weil wir junge Menschen haben, die auch zu etwas kommen wollen. Ohne Wachstum oder Umverteilung kein wirtschaftlicher Aufstieg. Frühere Gesellschaften ohne viel Wachstum z B. Im Mittelalter waren durch geringe soziale Mobilität gekennzeichnet und starre gesellschaftliche Klassen. War der Vater adelig und vermögend blieb man es. War der Vater Bauer blieb man es auch. Da kein Wachstum, keine Änderung der Vermögensverhältnisse.

    Antworten
    • foxxly
      foxxly sagte:

      @ mister x 11:50
      “”Wir haben Wachstumszwang, weil wir junge Menschen haben, die auch zu etwas kommen wollen.””

      also, das ist wohl weit weg von der realität: natürlich wollen die jungen menschen auch zu etwas kommen, das ist ihr gutes recht.
      aber einen wachtumzwang auf sie zu projezieren ist einfach daneben.

      die größte gier kommt immer noch von den reichen und dies sind nicht die jungen!

      Antworten
  11. Lele Castello
    Lele Castello sagte:

    Wachstum ist immer da. Die Systemfrage kommt danach. Was wollen wir mir dem Wachstum machen? Bei so einer “Systemfragediskussion” fällt mir immer an Paul Feyerabends “anything goes” ein. Wir in Deutschland sind da das Beste Beispiel. Viele mögen es vergessen haben. BRD/DDR – magst du nicht effizient wachsen tue es halt ich. Wir schauen dann mal wie es ausgeht.

    Antworten
  12. foxxly
    foxxly sagte:

    ………. das darf ich schon mal bescheiden sagen/feststellen: H. Binswanger bestättigt mich auf der ganzen linie!

    null- und minuswachstum sind für dieses wirtschaftssystem (u mit seinem Kreditgeldsystem als schlüsselelement), tödlich, wenn es mehere jahre anhält.

    die komplette gesellschaft hat nur die möglichkeit die wachstumsgeschwindigkeit etwas zu steuern.
    die starke umverteilung von der masse, hin zu wenigen händen, beschleunigt aber den wachstumszwang.

    auch die wachsende asymetrie von der realwirtschaft und dem finanzsektor, kann/wird trotz wachstum, das ganze gesellschaftssystem zum absturz bringen.

    Antworten

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