Kondratieff genügt nicht als Be­grün­dung für billiges Geld

bto-Leser Herr Tischer hat am Montag im Kommentar auf diesen Beitrag von Gerald Braunberger bei der F.A.Z. hingewiesen. Braunberger ist seit Langem ein Verteidiger der Notenbanken und sieht sie nicht in der Verantwortung für das tiefe Zinsniveau und denkt auch nicht, dass die Geldpolitik negative Nebenwirkungen hat, zumindest nicht in dem Umfang, dass eine andere Politik erforderlich wäre. Damit kann er durchaus recht haben, ich denke sogar, angesichts der realwirtschaftlichen Lage ist es richtig, das Geld so billig zu halten, um einen Kollaps der Schulden- und Vermögensblase zu verhindern. Allerdings kaufen die Notenbanken damit nur Zeit und der Ball, den sie unter Wasser drücken, bläst sich immer weiter auf. Das ist nicht nachhaltig.

  • In einem sehr interessanten Vortrag hat Stephen Poloz, der Gouverneur der Bank of Canada, die drei früheren sowie die in Gang gekommene Vierte Industrielle Revolution auf Muster untersucht. Nicht nur für die Geldpolitik, aber auch für sie stellen Phasen starken technischen Wandels eine Herausforderung dar. Seine Ausführungen weisen weit in die Zukunft und stellen einen willkommenen Kontrapunkt zu der kuriosen Debatte über eine vermeintliche „Zombifizierung“ der Wirtschaft dar, die einige Ökonomen in Deutschland derzeit führen – so, als hätten sie bis heute nicht mitbekommen, wie stark die primär technologisch motivierten Umwälzungsprozesse die Wirtschaft verändern.“ – bto: Hier meinte Herr Tischer, ich solle mich durchaus auch angesprochen fühlen. Ja, ich habe das Thema der Zombifizierung immer wieder gebracht, allerdings finde ich mich hier in prominenter Gesellschaft. Immerhin hat die Bank für Internationalen Zahlungsausgleich die Zombifizierung zu einem großen Thema gemacht:

→ BIZ warnt vor Zombies

→ Kreditbooms und Krise: Die BIZ sieht es kritisch

Das bedeutet natürlich nicht, dass die These der Zombifizierung richtig sein muss. Ich finde aber gerade auch mit Blick auf die Erfahrungen aus Japan und dem Beispiel des Verhaltens der portugiesischen Banken (→ „Die portugiesischen Zombies“), dass man das ernster nehmen sollte, als es nur als eine Spinnerei einiger deutscher Ökonomen abzutun – die ohnehin keinen guten Ruf haben im Vergleich zur intellektuellen Elite des Fachs.

  • „Poloz unterscheidet realwirtschaftliche und finanzwirtschaftliche Begleiterscheinungen Industrieller Revolutionen, die natürlich miteinander verbunden sind. Zu den realwirtschaftlichen Effekten zählen:“ – bto: Die schauen wir uns jetzt an
  • Neue Technologien zerstören existierende Berufsbilder und Arbeitsplätze. Das sorgt für Unruhe unter den Menschen, die davon unmittelbar betroffen sind und bei jenen, die sich bedroht fühlen.“ – bto: Das ist ein normaler Umbruch, so unangenehm er auch für die Betroffenen ist.
  • „Mit den neuen Technologien entstehen neue Berufsbilder und Arbeitsplätze. Dieser Prozess benötigt allerdings häufig Zeit und ist zu Beginn nicht erkennbar.“ – bto: Auch dies stimmt und ist bereits absehbar. Soweit auch nicht neu.
  • „Die neuen Technologien führen längerfristig zu einem deutlichen Anstieg der Produktivität und, ceteris paribus, zu einem zunehmenden Potentialwachstum. Auch dies ist am Anfang einer Industriellen Revolution häufig noch nicht erkennbar.“ – bto: Das ist unstrittig.
  • „Stattdessen profitieren von neuen Technologien zunächst nicht selten nur wenige Unternehmen, die eine hohe Marktmacht erlangen. In dieser Phase ist technischer Fortschritt erkennbar, aber er schlägt sich noch nicht in gesamtwirtschaftlichen Kennziffern nieder, weil sich der Fortschritt erst in der Wirtschaft ausbreiten muss. Es kommt zum sogenannten ‘Produktivitätsparadoxon’.“ – bto: ebenfalls Zustimmung.
  • „Auf die Dauer bewirkt der technologische Fortschritt aber sinkende Preise für viele Güter und Dienstleistungen. Dies drückt die Inflationsrate und kann sogar zu einer Deflation führen.“ – bto: Das gilt immer und nicht nur in Zeiten der industriellen Revolution! Und deshalb ist Deflation auch normal. Außer, die Notenbanken erzeugen künstlich Inflation, um das zu verhindern.

Das führt uns zu den finanzwirtschaftlichen Effekten:

  • “Starker technischer Fortschritt sorgt für Euphorie an den Aktienmärkten, an denen die Kurse kräftig steigen. Es entsteht die Gefahr eines finanziellen Exzesses, der zum Börsenkrach führen kann. Dies ist unabhängig von der Geldordnung.“ – bto: Das stimmt so nicht. In einer funktionierenden Geldordnung würde der wichtige Treibstoff für die Spekulation – Kredite – in solchen Zeiten knapper werden und damit antizyklisch wirken.
  • „Eine Deflation steigert die reale Last der Schulden. Das kann nach einem Börsenkrach in einer anschließenden Rezession die Krise verschärfen.“ – bto: Wer könnte da widersprechen? Das ist genau dass, was Gegenstand dieses Blogs ist.

Zwischenfazit bto: Was hier beschrieben wird, ist nichts anderes als der Kondratieff-Zyklus, nur etwas verkürzt. Darum hier die ausführlichere Beschreibung, die man braucht, um wirklich zu verstehen, was passiert:

Nikolai Kondratieff, Ökonom und politischer Berater im Ministerium für Landwirtschaft und Finanzen, war 1920 Gründungsdirektor des Konjunkturinstituts in Moskau. Es sollte die ökonomische Lage der Sowjetunion und der wichtigsten kapitalistischen Länder beobachten.

Mit einer Vielzahl an Indikatoren – darunter der langfristigen Bewegung von Großhandelspreisen, Löhnen und Zinsen – ermittelte Kondratieff drei große Wellen der wirtschaftlichen Entwicklung von 1790 bis 1920 und prophezeite in der Verlängerung völlig korrekt die Weltwirtschaftskrise der 1930er-Jahre. Seine Theorie wurde später von dem österreichischen Wirtschaftswissenschaftler und Harvard-Professor Joseph Schumpeter aufgegriffen, der – zu Ehren des russischen Kollegen – von Kondratieff-Zyklen sprach. Kondratieff erlebte es nicht mehr, dass seine Theorie allgemeine Anerkennung fand: Er wurde 1938 hingerichtet, weil er Stalins Landwirtschaftsreform kritisiert hatte. Wahrscheinlich hat es ihm auch nicht gerade geholfen, dass er dem Kapitalismus zutraute, die Weltwirtschaftskrise zu überstehen.

Der klassische Kondratieff-Zyklus ist eine lange Welle der ökonomischen Entwicklung, die in der Regel 50 bis 60 Jahre anhält und in vier Phasen zerfällt:

Phase 1: Der „Frühling“ basiert auf Innovationen und der Umsetzung neuer Technologien und ist eine Expansionsphase, die den allgemeinen Wohlstand steigert und schließlich eine Inflation produziert. Diese Phase dauert rund 25 Jahre.

Phase 2: Der „Sommer“ hält nur flüchtige fünf Jahre lang an. Die Expansion erreicht ihren Höhepunkt, dann entstehen Probleme. Überproduktion führt zu Engpässen bei den Ressourcen, was die Kosten treibt und die Gewinne sinken lässt. Das Wirtschaftswachstum verlangsamt sich. Und es gibt eine starke Tendenz zur Konzentration in den Märkten zur Reduktion von Wettbewerb und zugleich deutlich steigender Verschuldung, weil man so die Nachfrage stützen will.

Phase 3:  Der „Herbst“ währt rund zehn Jahre. In dieser Phase kommt es zur ersten Rezession des Kondratieff-Zyklus, danach tritt die Wirtschaft in eine Zeit mit stabilem, aber niedrigem Wachstum ein. In dieser Hochphase steigt dank niedriger Inflation und guter Wirtschaftsaussichten die Kreditaufnahme weiter.

Phase 4: Der „Winter“ zieht sich im Schnitt über 18 Jahre hin. Er beginnt mit einem durch die hohe Verschuldung der Herbstphase ausgelösten langwierigen, rezessionsähnlichen Abschwung, der bis zu drei Jahren anhalten kann. Darauf folgt eine Periode von bis zu 15 Jahren mit niedrigen Wachstumsraten, bis der nächste Frühling kommt. Passt zur heutigen Zeit.

Welche treibenden Kräfte stehen hinter diesen Wellen der wirtschaftlichen Entwicklung? Die Wissenschaftler streiten über die Antwort. Für manche spiegeln die Wellen die sich verändernden Muster der Kapitalakkumulation oder der Verfügbarkeit von Rohstoffen und Nahrung, andere erklären die Wellen mit Kriegen oder sozialen Umstürzen. Doch nach der vorherrschenden Theorie – wie sie Schumpeter formuliert hat – ist technische Innovation die eigentliche Triebfeder der wirtschaftlichen Entwicklung. Diese Meinung scheint auch Stephen Poloz zu vertreten, den Braunberger hier zitiert.

Damit ist aber auch klar, dass wir uns in der Winterphase befinden, in der wir unter zwei Problemen leiden: geringem Wachstum u. a. durch den technologischen Umbruch und zu hohen Schulden, die aufgelaufen sind, als man den Niedergang des Alten aufhalten wollte und die nicht nur das Wachstum durch „Zombifizierung“ zusätzlich schwächen, sondern auch die Anpassung an die neue Welt zusätzlich erschweren. Erst nach Bereinigung der Schuldenlast und der Fehlinvestitionen ist die Grundlage für einen neuen Aufschwung da.

Doch gehen wir zurück zu Braunberger und Poloz:

  • „Die Erste Industrielle Revolution begann mit der Erfindung der Dampfmaschine und erstreckte sich vom Ende des 18. Jahrhunderts bis gegen Ende des 19. Jahrhunderts. Die Mechanisierung veränderte die Welt nachhaltig, hatte aber auch negative Begleiterscheinungen, zum Beispiel Börsencrashs nach 1870 und eine längere Phase der Deflation (‘Viktorianische Deflation’). Das war in der Zeit der Goldwährung.“ – bto: Es gab im 19. Jahrhundert überwiegend Deflation, aber nach dem Boom waren die Schulden besonders hoch und deshalb schmerzte die Deflation natürlich besonders.
  • „Mit der Zweiten Industriellen Revolution, die vom Ende des 19. Jahrhunderts bis etwa zum Jahre 1970 währte, verbinden sich die Elektrifizierung und die industrielle Herstellung von Gütern für die breite Masse wie Kühlschränke und Autos. In dieser Zeit nahmen Produktivität und wirtschaftlicher Wohlstand insgesamt deutlich zu, aber nach dem Börsenkrach von 1929 war eine längere Phase der Rezession und der Deflation zu überwinden.“ – bto: Ich hätte die Weltwirtschaftskrise übrigens mehr im Winter der Kondratieff-Welle verortet.
  • „Mit der Dritten Revolution, die sich auf die Zeit von der Mitte der siebziger Jahre bis kurz nach der Jahrtausendwende veranschlagen lässt, verbinden sich Begriffe wie Speicherchips, Informationstechnologie sowie die Entstehung globaler Lieferketten in einer sich integrierenden Weltwirtschaft, in der Asien eine zunehmend wichtige Rolle spielt. Zwar kam es um das Jahr 2000 wieder zu einem Boom und einem anschließenden Krach an der Börse, aber eine lange währende und schwere Depression blieb auch nach der Finanzkrise des Jahres 2008 aus. ‘Die Politik war dieses Mal deutlich besser’, schreibt Poloz. Die Geldpolitik und die Finanzpolitik (einschließlich der sozialen Netze) hätten dieses Mal für eine raschere Erholung aus der Krise gesorgt.“ – bto: Das halte ich für Hybris der Notenbanker, denn die Krise wurde verschleppt und unterdrückt, aber nicht bewältigt. Im Gegenteil, die Notenbanken haben die Bereinigung verhindert und in der Nebenwirkung noch größere Ungleichgewichte aufgebaut. Auch Zombies, auch wenn das Braunberger und Poloz nicht so sehen wollen.
  • „Die lange Zeit expansive Geldpolitik hält Poloz so lange für richtig, wie die Inflationsrate niedrig bleibt und die Geldpolitik ein auf steigender Produktivität gestütztes Wirtschaftswachstum finanziert. Das ist die Gegenthese zur Ansicht der ‘Zombifizierungs’-Adepten: Großzügige Geldversorgung erleichtert Schumpeters schöpferische Zerstörung. (Wer Schumpeter gelesen hat, weiß, dass auch bei ihm monetäre Expansion den schöpferischen Zerstörungsprozess begleitet.)“ – bto: Das sehe ich nur bedingt so. Das billige Geld mag Innovationen erleichtern, vor allem dient es aber dazu, die Folgen der Exzesse der Vergangenheit zu mildern. Denn wir haben es mit einem deflationären Kollaps zu tun, ausgelöst durch den Verfall alter Vermögenswerte (technologischer Wandel), überhöhte Vermögenspreise und überhöhte Schulden. Die Ingredienzien für einen gigantischen Margin Call. Den kann man versuchen abzumildern, indem man Geld vom Helikopter abwirft. Aber man kann damit nur für Verlierer anders verteilen, nichts daran ändern, dass es schmerzhaft ist. So gesehen haben wir beides: die natürliche Umbruchphase der Technologie, die Altlast der Schulden und Blasen und den Versuch, die Anpassung schmerzfrei zu gestalten, was Zombies am Leben erhält. Also ein “Sowohl-als-auch” und kein “Entweder-oder”.
  • „‘In der Vierten Industriellen Revolution geht es um die Digitalisierung der Weltwirtschaft’, schreibt Poloz. „Im Kern handelt es sich um maschinelles Lernen, Big Data und um Künstliche Intelligenz, die alle das Potential besitzen, die Leistungsfähigkeit in allen Wirtschaftszweigen zu steigern.“ Für die Geldpolitik bedeutet dies: „Die besonders aus der Dritten Industriellen Revolution gewonnenen Lehren deuten auf eine Notwendigkeit, durch eine lockere Geldpolitik das angebotsgetriebene Wachstum der Wirtschaft zu unterstützen, indem Inflationsziele die Geldpolitik verankern und makroprudentielle Instrumente den Aufbau von finanziellen Ungleichgewichten in Schach halten.“ Mit anderen Worten: Angesichts künftiger nachhaltiger Produktionszuwächse aus dem technischen Fortschritt wäre die aktuelle Geldpolitik gar nicht so falsch.“ – bto: Nein, angesichts von technologischer Entwertung vorhandener Assets, Blasenbildung wohin mach schaut und Überschuldung bleibt gar keine andere Wahl, als mit allen Mitteln zu versuchen, eine neue große Depression zu verhindern. Richtig so!
  • “In der Praxis ist es allerdings nicht so einfach, wie Poloz einräumt. Denn von den deutlichen Zuwächsen der Produktivität ist noch nichts zu sehen, wohl aber von den Schwierigkeiten, die am Beginn einer Industriellen Revolution stehen. (…) Und so lange das so ist, gerät expansive Geldpolitik unter Rechtfertigungszwang. (…) Geldpolitik findet in einer solchen Situation in einem durch hohe Unsicherheit geprägten Umfeld statt, weil auch Zentralbanken Schwierigkeiten haben, auf technologischen Revolutionen beruhende Veränderungen der Wirtschaft richtig einzuschätzen – nicht zuletzt, weil die Messung von Produktivitätsänderungen schwierig ist.“ – bto: nein, weil die Geldpolitik eine Rolle spielt bei der Verteilung der Verluste und diese zuerst bei den normalen Sparern entstehen, bevor es alle trifft, sobald die Blasen platzen.

Fazit: Nein, es ist kein Beweis gegen die Existenz von Zombies, es ist eine Erweiterung der Argumentation und wir haben es mit beidem zu tun. Wie immer bei Kondratieff. Und deshalb steht uns der schmerzvolle Teil der Anpassung noch bevor. Erschwerend kommt diesmal die Alterung der Gesellschaft hinzu, was es noch schwerer macht, die Anpassung zu vollziehen. Schließlich haben wir es mit einem gigantischen Ponzi-Schema zu tun.

→ FAZ: “Geldpolitik in der Vierten Industriellen Revolution”, 9. Dezember 2019