Inflation oder Defla­tion – es ist ein schmaler Grat

Mehrfach schon habe ich das Buch “The Great Demographic Reversal” erwähnt, indem ich Rezensionen des Buches kommentierte. Zuletzt eine aus der FINANCIAL TIMES (FT). Morgen spreche ich in meinem Podcast mit den beiden Autoren. Grund genug, eine weitere Besprechung des Buches zu bringen – vom geschätzten William White in the market. Sie nennen es einen „Kommentar in Form einer Buchkritik“. Die Highlights:

  • Die moderne Makroökonomie, wie sie in den Zentralbanken und Finanzministerien der meisten fortgeschrittenen Länder praktiziert wird, hat die Auswirkungen des globalen demografischen Wandels der letzten rund drei Jahrzehnte entweder ignoriert oder falsch interpretiert. Diese Veränderungen drehen nun ins Gegenteil um. Was einst als Chance genutzt werden konnte, stellt jetzt eine gewaltige Herausforderung für unser zukünftiges Wohlergehen dar. Das wird sowohl für die Regierungen als auch für die Finanzmärkte ein Schock sein – vor allem auch deshalb, weil die Finanzmärkte die Angewohnheit haben, die unmittelbare Vergangenheit in die Zukunft zu extrapolieren.“ – bto: Das sehe ich im Kern genauso. Mich überzeugt die demografische Analyse weitaus mehr als die meisten anderen. Natürlich haben die Notenbanken es mit ihrer Politik noch schlimmer gemacht. Aber es kam eben alles zusammen.
  • „(…) die Öffnung und Urbanisierung Chinas sowie anderer Volkswirtschaften in Asien und Osteuropa sowie die Eingliederung vieler Millionen Niedriglohnarbeiter in das globale Handelssystem (…) drückte auf die globalen Preise und Löhne, da die Arbeitgeber in den entwickelten Ländern während Jahren ‘Offshoring’ betreiben konnten. Ungelernte und angelernte Arbeiter in Nordamerika und Westeuropa trugen die Hauptlast davon, und die Einkommensungleichheit sowie der politische Dissens in den fortgeschrittenen Ländern nahmen entsprechend zu. Eine durch die Babyboom-Generation getriebene Zunahme von Arbeitskräften verstärkte diesen globalen Druck noch.“ – bto: Das ist eine wichtige Beobachtung. Wir haben es mit einer demografischen Welle zu tun, die sich durch die Wirtschaft bewegt hat. Diese nähert sich dem Ende und damit kehren sich Faktoren um.
  • Alles in allem ergab sich dadurch ein massiver positiver Angebotsschock in der Weltwirtschaft. Angesichts des Drucks auf die Löhne in den Industrieländern und der zunehmenden Offshore-Bestrebungen stagnierten auch die Investitionen in neue Anlagen und Ausrüstungen. Aktienrückkäufe in einigen Ländern mit einer ‘Bonuskultur’ – vor allem in den USA und Grossbritannien – drückten ebenfalls die Investitionen, während gleichzeitig die Verschuldung der Unternehmen stark zunahm. Da die Einkommen zunehmend ungleich verteilt waren, wurden die Ausgaben der Durchschnittskonsumenten eingeschränkt. Bis zu einem gewissen Grad wurde dies durch eine erhöhte Kreditaufnahme kaschiert, vor allem in den USA.“ – bto: Kredit statt Einkommen war das Motto. Außerdem haben die europäischen Sozialstaaten oftmals die Verschuldung für Sozialprogramme erhöht oder aber die Investitionen zurückgefahren, um dann mehr für Soziales auszugeben, wie das in Deutschland der Fall war.
  • Diese geschilderten Entwicklungen implizierten, dass die Binnennachfrage in den fortgeschrittenen Ländern schwächer wurde, während gleichzeitig das globale Angebot zunahm. Diese Kombination übte einen unerbittlichen Abwärtsdruck auf die Inflation und damit sowohl auf die nominalen als auch auf die realen Zinssätze aus.“ – bto: Das ist eine sehr spannende Analyse. Es war also die Kombination aus Ausweiten des Angebots und gleichzeitigem Einschränken der Nachfrage.
  • Dies ändert sich nun alles: „Die Urbanisierung in China verlangsamt sich, und auch die Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter schrumpft. (…) In den entwickelten Ländern steigt das Verhältnis der ‘Abhängigen’ zur arbeitsfähigen Bevölkerung stark an, da die Babyboomer in Rente gehen. Darüber hinaus leben die Rentner nicht nur länger, sondern sind im höheren Alter auch zunehmend anfällig auf Demenz, was den Bedarf an Pflegepersonal steigen lässt. Goodhart und Pradhan argumentieren zu Recht, dass ein steigender Abhängigkeitsquotient von Natur aus inflationär ist, da Rentner konsumieren, aber nicht produzieren. Da ein Arbeitskräftemangel zudem die Löhne in die Höhe treibt, werden die Arbeitnehmer wahrscheinlich mehr konsumieren, und die Unternehmen werden mehr investieren, um teure Arbeitskräfte zu ersetzen und die Vorteile neuer Technologien zu nutzen.“ – bto: Dies finde ich – immer wieder – sehr einleuchtend. Schon vor Jahren schrieb ich in einem Beitrag für die WirtschaftsWoche, dass die Alterung sich eher inflationär auswirkt. Ob die Arbeitnehmer wirklich so viel mehr konsumieren können, hängt allerdings davon ab, wie viel Geld ihnen für die Finanzierung der Altlasten abgeknöpft wird.
  • Es ist zwar freilich weiterhin möglich, dass neue Technologien die Produktivität so weit erhöhen, dass der Arbeitskräftemangel ausgeglichen werden kann. Die Autoren verzichten auf eine Spekulation zu diesem Thema, sondern widmen ein Kapitel den divergierenden Ansichten verschiedener Experten dazu. Insgesamt kommen Goodhart und Pradhan aber zur These, dass die Einkommensungleichheit in Zukunft abnehmen wird, während die Inflation und die Zinssätze, sowohl nominal als auch real, steigen werden.“ – bto: Ich habe bereits öfter die Thesen von Robert Gordon diskutiert und nehme an, dass diese auch hier zutreffen. Wir können natürlich versuchen, wie Japan auf Roboter und Automatisierung zu setzen. Nur ob das genügen wird, um die Produktivität so stark zu steigern?
  • Die Autoren vermuten, dass dies den Regierungen sowie den privaten Haushalten und Unternehmen, die sich in den letzten Jahren unter dem Einfluss niedriger Zinsen stark verschuldet haben, ernste Probleme bereiten wird. In getrennten Kapiteln stellen sie die Frage, wie mit dem Problem des Schuldenüberhangs des privaten Sektors umgegangen werden könnte (Umschuldung?) und wie klamme Regierungen in Zukunft mehr Steuern erheben könnten (Land- und Kohlendioxidsteuern?).“ – bto: oder eben die Monetarisierung. Ich denke, es wird eine Kombination sein.
  • „(…) das Ausbleiben von Inflation in Japans alternder Volkswirtschaft (steht) nicht im Widerspruch zur Ansicht, dass die Alterung auf globaler Basis den Inflationsdruck erhöhen wird. Goodhart und Pradhan argumentieren, dass die Auswirkungen eines globalen Phänomens ganz anders sein werden als die in einem einzelnen Land beobachteten. Gleichermassen können wir nicht darauf zählen, dass die wachsende Bevölkerung Indiens und Afrikas die Auswirkungen des grossen demografischen Wandels kompensieren werden.“ – bto: was eben auch mit der Qualifikation zu tun hat!
  • Eine ergänzende Darstellung würde die entscheidende Rolle der Zentralbanken bei der Festlegung der Zinssätze hervorheben und darauf hinweisen, dass die von den Zentralbanken in den letzten Jahrzehnten gewählte Politik eine Deflation in den nächsten Jahren wahrscheinlicher macht.“ – bto: Das ist Whites Kernthema, das er auch in dem Gespräch mit mir erläutert hat.
  • Der erste Fehler der Zentralbanken bestand darin, die Bedeutung der erwähnten demografischen Entwicklungen und des damit verbundenen positiven Angebotsschocks nicht zu erkennen, und zwanghaft zu versuchen, die Inflation auf ein höheres Niveau zu heben. Statt die Preise fallen zu lassen, wie es «natürlich» geschehen wäre, reagierten sie mit einer immer aggressiveren monetären Expansion, um diesen Rückgang zu verhindern. Dabei ignorierten sie eine umfangreiche theoretische Vorkriegsliteratur über die angemessene Reaktion auf Schocks auf der Angebotsseite. Darüber hinaus erkannten die Zentralbanken nicht die historische Realität, dass die meisten Perioden sinkender Preise mit Perioden raschen Wachstums verbunden waren, wobei die Grosse Depression eine singuläre Ausnahme bildete.“ – bto: richtig. Die Große Depression war auch nicht die Folge eines Angebotsschocks, sondern die Folge einer Überschuldungssituation!
  • Der zweite Fehler war das Unverständnis darüber, wie der ‘Gegenwind’ der steigenden Verschuldung, der durch diese Lockerung begünstigt wurde, die Geldpolitik letztlich unwirksam für die Stimulierung der realen Wirtschaft machen würde. Zusammen haben diese Fehler die heutigen Zentralbanken in eine «Schuldenfalle» geführt, aus der es keinen offensichtlichen Ausweg gibt.“ – bto: Der Zauberlehrling weiß keinen Ausweg aus dem Dilemma!
  • Wenn die Verschuldung jedoch steigt, wirkt sie auch als Bremse für künftige Ausgaben und wirkt zunehmend disinflationär. Auf diese Weise vertieft sich die ‘Schuldenfalle’. Noch mehr geldpolitische Lockerungen werden zunehmend unwirksam, wie der jüngste Ruf nach der Notwendigkeit einer fiskalpolitischen Expansion als Reaktion auf die Covid-Pandemie nahezulegen scheint. Bei der Vorhersage des künftigen Inflationsniveaus werden diese pfadabhängigen, disinflationären Kräfte als Gegengewicht zu den von Goodhart und Pradhan richtig erkannten demografischen Kräften wirken.“ – bto: deshalb auch die große Krise vor dem Aufbruch in die inflationäre Welt.
  • Die Preise von Finanzanlagen, die zunehmend von der Politik der Zentralbanken beeinflusst werden, spiegeln den zugrunde liegenden Wert nicht und bieten auch nicht die Vorteile einer Portfoliodiversifizierung. Sollten diese Bedingungen in einer Finanzkrise kulminieren, die schwerwiegend genug ist, um die geordnete Kreditvergabe einzuschränken, könnte durchaus eine deflationäre Schuldenliquidation folgen.“ – bto: Da bin ich theoretisch sofort an Bord. Ich glaube aber, dass man diese deflationäre Depression nicht zulassen wird. Da wird eher das gesamte Schuldenmonster monetarisiert.
  • Schliesslich haben die künstlich erleichterten finanziellen Bedingungen auch negative angebotsseitige Auswirkungen. Sie begünstigen verschwenderische Investitionsentscheidungen von unprofitablen ‘Einhörnern’, die auf der Jagd nach Marktanteilen keine Verluste scheuen. Darüber hinaus halten sie defizitäre ‘Zombie’-Firmen am Leben, deren Existenz die Aussichten neuer Marktteilnehmer bedroht und die dazu beitragen, die Preise nach unten zu treiben.“ – bto: Das hatten wir immer wieder auf diesen Seiten und es ist sehr wahrscheinlich, dass Zombies durch Überkapazitäten und ihr Verhalten zu deflationärem Druck beitragen.
  • Was ich damit sagen will: Es gibt sehr wohl starke Argumente für höhere Inflation in den kommenden Jahren, aber gleichzeitig sehe ich immer noch starke deflationäre Kräfte, die besonders von der fehlgeleiteten Geldpolitik der vergangenen Jahrzehnte – Stichwort Schuldenüberhang und Instabilitäten im Finanzsystem – begünstigt wurden. Der Grat wird immer schmaler, und wir könnten auf die eine oder andere Seite – Inflation oder ‘echt’ Deflation – abkippen.“ – bto: Das bedeutet aber auch, es kann rasch gehen.
  • Sollten die Inflationserwartungen plötzlich steigen, so wie sie Anfang der Achtzigerjahre plötzlich gesunken sind, könnte die Inflation abrupt ein viel höheres Niveau erreichen. Eine energische Reaktion der Zentralbanken könnte dannzumal dadurch behindert werden, dass man sich primär darauf konzentriert, Vollbeschäftigung zu erreichen, sowie durch die Lobbyarbeit von Regierungen, die ihre Schulden über höhere Inflation zum Verschwinden bringen wollen. In der Tat zeigt die Geschichte, dass eine sehr viel höhere Inflation ein häufiges Ergebnis ist, wenn hohe Staatsdefizite zunehmend von den Zentralbanken finanziert werden.“ – bto: Auch dies ist zwangsläufig der Fall. Japan gilt immer als die Ausnahme. Die Frage ist natürlich, was passiert, wenn es die Regel ist?