Inflation: Die EZB trägt eine Mit­schuld und muss jetzt konse­quent handeln

Mein morgiger Gesprächspartner ist Professor Ricardo Reis. Ricardo Reis ist ein portugiesischer Wirtschaftswissenschaftler und A. W. Phillips-Professor für Wirtschaftswissenschaften an der London School of Economics (LSE). Von 2004 bis 2008 lehrte er an der Princeton University, bevor er an die Columbia University wechselte, wo er im Alter von 29 Jahren ordentlicher Professor wurde, einer der jüngsten in der Geschichte der die Universität. In einer Rangliste junger Ökonomen wurde Reis als bester Ökonom mit einem Doktortitel zwischen 1996 und 2004 angesehen. 2016 gewann er den Germán Bernácer-Preis für den besten in Europa geborenen Ökonomen, der Makroökonomie und Finanzen erforscht. Er ist akademischer Berater und Gastwissenschaftler bei Zentralbanken auf der ganzen Welt.

In mehreren Foren hat Reis Vorträge über die Ursache der Inflation gehalten. So unter anderem bei der ECB and ITs Watchers Conference und bei der Bank für Internationalen Zahlungsausgleich. Seine Schlussfolgerungen publizierte er in einem Paper mit dem Titel: The Burst of High Inflation in 2021–22: How and Why Did We Get Here?” Zu deutsch: “Der Ausbruch der hohen Inflation in den Jahren 2021–22: Wie und warum kam es dazu?”.

Darin schreibt er unter anderem Folgendes.

Zunächst eine Erklärung, was erfolgreiche Notenbanken auszeichnet:

  • “Der Erfolg basiert auf drei Säulen. Die erste besteht darin, den Zentralbanken die Unabhängigkeit vom Finanzministerium zu gewähren, sodass die Verwaltung der Staatsverschuldung und die Unterstützung beim Ausgleich der öffentlichen Finanzen nicht mehr Aufgabe der Geldpolitik sind und Inflationssorgen nicht mehr außer Kraft setzen. (…)”.
  • “Die zweite Säule ist das erforderliche Gleichgewicht zur ersten: Damit eine öffentliche Institution die Befugnisse hat, die wir den Zentralbankern übertragen, muss ihr Mandat eng, ihre Maßnahmen transparent und ihre Leistung messbar und routinemäßig gemessen werden. Die Öffentlichkeit hat den Zentralbanken ein Inflationsziel vorgegeben, das all diese Kriterien erfüllt.”
  • “Die dritte Säule ist das Primat der Zinssätze als wichtigstes Instrument der Geldpolitik, die auf transparente und vorhersehbare Weise festgelegt werden.”

Die Zentralbanken haben damit ein Ziel: die Inflation zu begrenzen.

Und hier beginnen aus seiner Sicht die Probleme. Die Zentralbanken haben ihre Aufgabe nicht richtig wahrgenommen:

  • “Wenn die Zentralbank zulässt, dass die Inflation kurzfristig erheblich vom Ziel abweicht, ist dies eine freiwillige Abwägung gegenüber anderen Zielen. Empirisch haben in den letzten zwei Jahrzehnten Dutzende von Ländern auf der ganzen Welt dieses institutionelle Regime unter allen möglichen Umständen und mit allen Arten von Schocks übernommen. Fast alle und fast immer konnten sie eine niedrige und stabile durchschnittliche Inflation liefern.”

Diesmal gelang es der FED und der EZB jedoch nicht:

  • “Die erste der Ursachen für das Scheitern dieses Mal war, dass die ungewöhnlichen und großen Schocks von 2020 bis 2022 fast immer auf eine Weise diagnostiziert wurden, die eine extrem lockere Geldpolitik rechtfertigte. (…) Infolgedessen wurde es als optimal und wünschenswert angesehen, die Inflation absichtlich über ihr Ziel hinausschießen zu lassen. Das heißt, bis sie zu hoch war, um sie zu rechtfertigen.”

Es gab also eine Neigung, die Inflation immer als vorübergehend anzusehen. Eine Haltung, die wir auch an den eingangs zitierten Aussagen von Ökonomen feststellen konnten.

Die zweite Ursache ist ebenso wichtig:

  • “Der zweite Grund war der feste Glaube, dass die Inflationserwartungen so verankert bleiben würden, wie sie es seit zwei Jahrzehnten waren. Diese Überzeugung führte dazu, dass man sich auf Umfragen unter Fachleuten und auf die mittlere Inflationserwartung aus Haushaltsumfragen stützte. Die Verteilung der Umfrage-Inflationserwartungen und die historischen Erfahrungen mit Regimewechseln deuteten bereits in der zweiten Hälfte des Jahres 2021 auf eine andere Richtung, und dies wurde 2022 deutlich. Da sie die Veränderung verpassten, unterschätzten die Zentralbanken die nachhaltige Wirkung, die die Abweichungen der Inflation vom Ziel haben würde.”

Der Laie würde sagen, mit festem Blick in den Rückspiegel haben die Notenbanken nicht genau hingesehen.

Was zum Grund Nummer drei führt:

  • “Der dritte Grund war ein übermäßiges Vertrauen in die Glaubwürdigkeit der Geldpolitik. (…) Doch entweder durch Pech oder indem man sich zu sehr auf diese frühere Glaubwürdigkeit stützte, ging ein Teil davon verloren, was eine Aufwärtsspirale der Inflation erzeugte (…).”

Außerdem war dies verbunden mit dem falschen Modell des sogenannten neutralen Zinses:

  • “Die vierte Ursache war der Einfluss von Schätzungen eines fallenden und niedrigen Gleichgewichtszinses (sogenannter R-Star) bei der Überarbeitung der Rahmenbedingungen für die Geldpolitik. Dies führte zu der Entschlossenheit, die niedrige Inflation zu bekämpfen, und zu einer erhöhten Toleranz gegenüber einer Inflation über dem Zielwert sowie zu einem Fokus auf die Stimulierung der Wirtschaft. Als die Inflation zu steigen begann, trug dies dazu bei, dass sie nicht so energisch bekämpft wurde (…).”

Die Forderung von Ricardo Reis:

  • “Angesichts der Herausforderung, die Inflation zu senken, folgt daraus, dass die Politik in naher Zukunft Folgendes umfassen sollte: (i) das Akzeptieren eines niedrigeren Niveaus der realen wirtschaftlichen Aktivität, (ii) energisches und entschlossenes Handeln in naher Zukunft mit einer Anhebung der Zinssätze, um die Inflationserwartungen zu senken, (iii) den Primat der Preisstabilität so laut und überzeugend wie möglich als das Ziel zu bekräftigen, das die Politik leitet, und (iv) die relativen Kosten einer hohen Inflation nach oben zu korrigieren und sich gleichzeitig wieder auf die Gesamtangebotspolitik zu konzentrieren.”

Eine gänzlich andere Sicht als die, die wie hier überwiegend zu hören bekommen.