Gunnar Heinsohn: Wirt­­schaft und Welt bis 2050

Mit Bestürzung und Trauer habe ich vom Tode Professor Gunnar Heinsohns erfahren. Er starb am 16. Februar in Danzig (Gdansk) in Polen. Nahe der Stadt war er im November 1943 auch geboren worden. Bis zu seiner Emeritierung im Jahr 2009 lehrte der Sozialwissenschaftler an der Universität Bremen Sozialpädagogik, bis 2020 zudem Kriegsdemografie am NATO Defense College in Rom.

Ich habe Gunnar Heinsohn vor mehr als 30 Jahren kennengelernt. Bereits in meiner Dissertation habe ich die Werke von ihm und seinem schon vor Jahren verstorbenen Kollegen Otto Steiger zitiert. Sein Blick auf die wirtschaftlichen Zusammenhänge hat mich bis heute geprägt. Wohl keinen Autor habe ich so oft auf meinem Blog zitiert bzw. kein anderer Autor hat mir so bereitwillig und hilfsbereit Materialien zur Verfügung gestellt. Mit fünf Aufritten war Professor Heinsohn so häufig in meinem Podcast zu Gast wie kein anderer.

Ich werde Gunnar Heinsohn als freundschaftlichen Ratgeber, als intellektuelles Vorbild und als warmherzigen Menschen vermissen. Meine Gedanken sind bei seiner Familie.

Von den insgesamt 97 Beiträgen auf meinem Blog bringe ich in diesen Tagen eine kleine Auswahl. Diesen hat er im März 2021 als Beitrag zu seinem damaligen erstmaligen Auftritt in meinem Podcast verfasst: 

I. EUROPAS SIEGESZUG DURCH EIGENTUM; KOMPETENZ UNG GEBURTENEXPLOSION

Kompetenz zweiter Klasse schlägt Kompetenz erster Klasse, wenn die zweite Klasse mit Eigentum operieren kann, die erste aber auf Feudalbesitz mit Befehlsproduktion und Güterabgaben beschränkt ist.
Eigentum als Basis für die Besicherung von Geld und als Pfand für die Besicherung von Kredit zwingt zur gewaltfreien Verteidigung von Vermögen, dessen Preis fällt, wenn der Ertrag des Eigentums unter den Aufwand für seinen Erhalt liegt.
Vor allem durch technischen Fortschritt wird der Eigentumspreis verteidigt. Er führt zu Wachstum und/oder Modernisierung in der Produktion bekannter Waren sowie zur Herstellung gänzlich neuer physischer und immaterieller Waren. Das führt über das plötzliche „Veralten“ von Produktionsprozessen zum Preisverfall des zugehörigen Betriebseigentums
Bei Verlust des Eigentums behält der Wegkonkurrierte immerhin das Eigentum an seiner Person, seine Freiheit also. Darin unterscheidet sich Europas Neuzeit von seiner Antike. Jeder Gescheiterte behält das Recht, sich gegen Lohn-Geld bei anderen Verteidigern von Eigentumspreisen zu verdingen.
Da Kredit den technischen Fortschritt finanziert, ergibt sich mit dem Zins ein zusätzlicher Treiber von Wachstum: Für 1 Jahr wird 100 geliehen, aber 105 müssen getilgt werden. Solange es private Emissionsbanken gibt, verlieren diese beim Belasten von Eigentum für das Wertvollmachen von Geld zeitweilig die Dispositionsfreiheit über das Eigentum und verlangen für diesen Verlust Zins.
Ab 1484 kombiniert Europa seine Eigentumsstrukturen mit einer welthistorisch einmalig brutalen Bestrafung von Geburtenkontrolle, um die Menschenverluste aus den Pest-Epidemien des 14. und 15. Jahrhunderts auszugleichen. Fast 450 Jahre lang (bis ca. 1925) wachsen immer viel mehr Menschen nach als durch Alter, Krankheit und Gewalt ihr Leben verlieren. Zwischen 1450 und 1915 geht es in Europa von 50 auf 500 Millionen Einwohner.
Auch Europas Eliten haben über diese 440 Jahre hinweg (1484-1925) viel mehr Söhne als vererbbares Eigentum. Diese Jungen werden mindestens so gut und oft besser als der Erb-Sohn erzogen. Sie sind es, die den technischen Fortschritt für die Verteidigung der Eigentumspreise maximieren. Sie produzieren Waffen als Waren, die unverkäuflich werden, wenn die Konkurrenz tödlicheres Gerät auf den Markt bringt. Das führt zu stetiger Steigerung der Tötungsfähigkeit. Die Verbindung zwischen überzähligen Söhnen und stetig besseren Waffen erlaubt Europäern die Eroberung von mehr als 90 Prozent der Erde. Alle Stammesverbände und Besitz-Aristokratien verlieren auch dann gegen Europäer („Weiße“), wenn sie ihnen bei der Kompetenz nicht nachstehen. Nur Besitzsysteme höherer Kompetenz – Feudalismen in China, Japaner und Korea – können nicht dauerhaft unterworfen werden. Hingegen müssen selbst die muslimischen Top-Nationen am Ende kapitulieren.

Quelle: Gunnar Heinsohn

II. BEI EIGENTUMSGLEICHHEIT SIEGT KOMPETENZ

Erst ab 1980 werden die überlegenen mathematischen Fähigkeiten von Chinesen, Japanern und Koreanern empirisch gemessen. Doch schon hundert Jahre früher beginnt durch Japans Meiji-Reformen (1870er- bis 1890er-Jahre mit Übernahme deutschen Rechts) der globale Angriff eines Konkurrenten, der europäische Eigentumsstrukturen mit einer Kompetenz oberhalb der abendländischen kombinieren kann.

Quelle: Gunnar Heinsohn

Das bringt uns zum liebenswertesten Denkfehler aller ökonomischen Theorien. Er besteht in der Gewissheit, dass beim Einsatz vergleichbar hoher Mittel auf die Erziehung eines Kindes irgendwo auf der Welt auch vergleichbar hohe Kompetenz entsteht. Bis 1980 war das ein Dogma, weil es niemals bewiesen wurde. Seit 1980 ist es schlichtweg ein Fehler, wenn nicht gar Rassismus gegenüber Ostasiaten.
Japan besiegt 1905 – mit 50 Millionen Einwohnern – in der Tsushima Straße Russland, die damals mit 140 Millionen Menschen bevölkerungsreichste „weiße“ Nation. Im September 1914 gelingen Japan von der Wakamiya die welthistorisch ersten Luftangriffe vom Wasser her. Im Dezember 1922 wird die Hōshō (Foto) der global erste operable Flachdeck-Flugzeugträger. Zwischen 1939 und 1945 stellt Japan siebzehn Flugzeugträger nebst den erforderlichen Spezialflugzeugen in Dienst – gegenüber null im Deutschen Reich.

Die Angriffe auf die USA (Pearl Harbour 7. Dezember 1941) und das Britische Imperium (Singapur 10. Dezember 1941) scheitern 1945 an Japans zu geringen demografischen Reserven sowie an der – aus Europa vertriebenen – aschkenasischen Kompetenz, die im Rennen um Nuklearwaffen Amerika an die Spitze bringt.
Das 21. Jahrhundert wird – obwohl bis in die 1990er-Jahre befürchtet – kein japanisches, weil die Kinderzahlen des Landes nicht ausreichen, was allerdings – mit der Ausnahme Israels und Island – auch alle westlichen Konkurrenten trifft. Bei reinen Kompetenz-Produkten wie etwa den PCT-Patentanmeldungen wäre Japan bei einer Bevölkerung à la China (oder auch nur mit einem Viertel davon) selbstverständlich die Nummer Eins geworden.

Quelle: Gunnar Heinsohn

Selbst als westliche Experten Japans Untergang besiegelt sehen, steigert es in zwei vermeintlich „verlorenen“ Jahrzehnten zwischen 1991 und 2010 seine PCT-Anmeldungen um den Faktor 16. Staatsschulden können die Innovationen der Firmen nicht verhindern.
Eine Nation hat die Eigentums-Ökonomie verstanden, wenn es ein Bankrottgesetz erlässt. Anders als Besitzsysteme, die durch Gewalt – ein Adliger besiegt einen anderen, ein Stamm vertreibt oder vernichtet einen anderen – Liegenschaften verlieren, muss in Eigentumsgesellschaften der Konkurrent gewaltfrei um sein Eigentum gebracht werden. Das erreicht man durch technische und innovative Überlegenheit, mit der die Eigentumspreise stagnierender Wettbewerber ins Minus gedrückt werden.

Quelle: Gunnar Heinsohn

Während im ex-kommunistischen Osteuropa westliche Fachleute der Neoklassik (mit fast allen Ökonomie-Nobelpreisen) das System für eine „Marktwirtschaft“ halten und deshalb zu freien Märkten raten, ahnen die Chinesen, dass Kreditverträge zwischen Eigentümern über Geld den Kaufverträgen vorhergehen. Der Markt ist ein abgeleitetes Geschöpf, dessen Vater das Eigentum ist. Deshalb fehlen Geld, Zins und Märkte in reinen Besitzsystemen (Stämme, Feudalismus, Kommunismus). Und zu den Operationen des Eigentums gehört neben Belasten, Verpfänden und Verkaufen auch das Einlösen in das Eigentum des Geldbesicherers und Vollstrecken in das Pfand des nicht-tilgenden Schuldners.
China erlässt sein erstes Bankrottgesetz 1986 (anfangs für Staatsbetriebe, weil es andere noch kaum gibt) und bringt es bis 2006 auf internationalen Stand. Obwohl 1979 Deng mäusefangende Katzen jeder Farbe aus dem Sack lässt, steht das Reich der Mitte erst seit 35 Jahren ernsthaft im globalen Rennen. Bei den PCT-Patenten tritt es sogar 1994 an und übernimmt 2019 die Weltspitze.
Damit steht ein bald zwölffaches Japan auf der Weltbühne, das bei der Kompetenz mindestens so hoch liegt wie das kaiserliche Inselreich. Zwar mögen bei PISA-Mathematik 2018 die Schüler aus der Volksrepublik besonders scharf ausgewählt worden und deshalb so weit vorne gelandet sein. Doch Chinesen anderer Nationen müssen sich vor Japanern auch nicht verstecken und liefen ein Annäherungsmaß für die Kompetenz in der Volksrepublik. Chinas Bankrottgesetze etc. sorgen dafür, dass es etwa beim Eigentumsschutz fast schon mit Südkorea gleichgezogen hat (siehe Tabelle S. 7).
Die Positionen Lebensschutz und Freiheit, in denen China krass hinten liegt, werden vielfach als Indikatoren für sein langfristiges Scheitern gesehen. Man könnte sie aber auch als Felder sehen, auf denen China noch aufholen kann, während die Wettbewerber längst alle Register gezogen haben.
Zu Chinas Nachteilen gehört auch, dass ihre Unternehmen immer noch Zinsen bedienen müssen, während die westliche und auch japanische Konkurrenz durch Nullzins der Zentralbanken geringer belastet wird. Doch gerade der zusätzliche Innovationsdruck für das Verdienen des Zinses in Kombination mit seiner Kompetenz dürfte Chinas Marsch an die Spitze weiterer globaler Märkte nur beschleunigen.
Wenn man ein weiteres Zurückfallen der westlichen Ökonomien verhindern oder sie wieder an die Spitze führen will, muss man dafür überzeugende Faktoren vorweisen. Da der Westen bei der Eigentumsfreiheit ohnehin vorne liegt, müsste er auf der Kompetenzseite die Wende schaffen. Bei PISA aber zeigt sich, dass die Ostasiaten die Spitze über Jahrzehnte hinweg behaupten, während westliche Länder mit bildungsferner Einwanderungspolitik wachsende Anteile an schwer Beschulbaren versorgen müssen. Westliche Länder mit hoch qualifizierter Einwanderungspolitik hingegen bleiben den Ostasiaten auf den Fersen, weil sie sich – Beispiel Kanada – vor allem Chinesen als Einwanderer holen.

Quelle: Gunnar Heinsohn

Zurück zur Verteidigung der Eigentumspreise. Sie zwingt global operierende Firmen dort zu produzieren, wo das Verdienen der Geldschulden für Löhne und Anlagen am ehesten gelingt. Geringe Löhne an sich bringen nichts, wenn die damit bezahlten Arbeitskräfte den Anforderungen einer anspruchsvollen Industrieproduktion oder gar von Hightech-Branchen nicht genügen. Territorien, die der Ersten Welt bei der Kompetenz überlegen sind, werden hingegen selbst dann Investitionen anziehen, wenn sie höhere Löhne verlangen, weil sie besser verkaufbare Qualität liefern. Entsprechend sind geringere Löhne bei besserer Qualität und mehr Innovation unschlagbar. Solche Bedingungen gibt es nur in Ostasien. Die 1640 Millionen Menschen in seinen Top-Ökonomien China/Taiwan, Japan und Südkorea (30 Millionen Reserve im Norden) werden den 420 Millionen Menschen in den westlichen Top-Ökonomien USA und Deutschland das Nachsehen geben. Erstere lassen nur Könner über die Grenzen, während letztere schwer Beschulbare aus Afrika und Ländern aus den drei rechten Kolumnen obiger Tabelle hereinholen. Wir haben es bei Chinas Aufstieg erstmals seit 1500 also mit einem Konkurrenten zu tun, der nicht nur zahlreicher, sondern auch intelligenter ist als der Westen, dessen Eigentumsstrukturen er smart übernimmt und sich so schwer besiegbar macht.
Wenn Volkswagen und Mercedes ihre Zukunft in China sehen, dann sind sie nicht pflichtvergessen gegenüber der Heimat, sondern tun das geschäftlich Gebotene. Da die hiesigen Chefs im Regelfall keine Juden sind, können Antisemiten aus ihrem globalen Agieren keinen Profit schlagen. Bei den westlichen Atommächten, in denen signifikante jüdische Minderheiten leben, sieht das längst anders aus. Bei einer „patriotischen“ Beschränkung auf die USA oder Bundesrepublik würden die Firmen nebst ihren beargwöhnten Bossen untergehen, könnten also nicht einmal mehr sich selbst helfen. Dazu ein Beispiel: Als Deutschland die bis 1970 quasi als Weltmonopol operierende Kamera-Produktion an Japan verliert, wäre der Kauf von Canon- oder Nikon-Anteilen der richtige Weg gewesen. Stattdessen wird die Branche nach letzten teuren Zuckungen ausgelöscht und obendrein halten Bundesbürger kaum Anteile an Canon und Nikon oder ihren Produktionsstätten in China.

III. KRISEN

Krisen sind in die Eigentumstheorie des Wirtschaftens gewissermaßen eingepreist. Die Verteidigung des Eigentums durch eigene Innovationen fürs Runterpreisen der Konkurrenz oder für den Nachvollzug der Konkurrenz-Erfindungen erfordert Geld, das per Kredit besorgt wird oder aus dem Cashflow kommt, der dann nicht in die Reserve gehen kann. Die Innovationen sorgen für einen Boom durch das Geldausgeben für rare/neue Materialien und/oder steigende Löhne für die noch knappen Spezialisten fürs Neue.
Bei Innovationen haben Eigentümer nur die Wahl zwischen dem Verzicht auf ihren Nachvollzug mit der Gewissheit eines umgehenden Falls des Eigentumspreises sowie der Chance, nach Umsetzung des technischen Fortschritts zu denen zu gehören, die Markt schaffen, also genügend Käufergeld zur Ablösung ihrer Schulden und damit zur Auslösung ihres verpfändeten Eigentums gewinnen können. Sie müssen also sehenden Auges an der Überproduktion von morgen mitwirken oder gleich heute Eigentum verlieren, weil sie nicht für Nachfrage produzieren, sondern ihr Betriebseigentum retten wollen und hoffen, dass die reale Nachfrage bei ihnen und nicht beim untergehenden Wettbewerber landet. Nach Abschluss der Modernisierung muss die überbordende Produktion durch Deflation in die Märkte gedrückt werden, bis genügend Unternehmen erledigt sind. Diese tilgen dann nicht bei ihren Banken, was diese durch Eigenkapitalverlust ebenfalls ruiniert. Das ist die Branchenkrise, die bei Innovationen quer durch alle Branchen (Strom, Telefon, Internet etc.) zur großen Krise wird.
In Krisen wird Eigenkapital also nicht nur bei untergehenden Firmen, sondern auch bei ihren Banken verloren, die dann gesunden, also verpfändungsfähigen Firmen keinen Kredit mehr gewähren können. Die Krise verschärft sich, weil in den Eigenkapitalen historisch immer häufiger Staatspapiere stecken. Ihr Volumen nimmt aufgrund der plötzlich notwendigen sozialen Hilfen etc. sprunghaft zu, bis sie schwer bedienbar werden, im Preis/Kurs fallen und massenhaft bisher Kreditwürdige durch faul werdendes Eigenkapital auslöschen.
Die (1) Stabilisierung der Staatspapier-Preise und die (2) Rekapitalisierung der Banken für Kredite an gute Schuldner konstituiert die Krisenbewältigung. Durch eine Sondersteuer auf Staatspapiere kann die erste Aufgabe relativ einfach gelöst werden. Wer 10.000 hält, bekommt 2.000 weggesteuert. Der Zorn ist groß, weil 100 schöner sind als 80, aber man behält den Kopf auf den Schultern und macht mit den verbleibenden 80 womöglich einen Kursgewinn, der einen Teil des Verlorenen wiederbringt. Die Sondersteuer reduziert in keiner Weise die Kompetenz des legal Beraubten, wie umgekehrt eine Steuerbefreiung für bildungsferne Individuen deren Einfallsreichtum ja nicht erhöht. Bei der zweiten Aufgabe fallen die Banken aufgrund ihres Bankrotts an den Staat, der alle Konten per Mausklick so weit reduziert, bis das Wegrasierte für die Rekapitalisierung reicht. Wieder gibt bei den Kreditgebern an die Bank (=Kontoinhabern) Heulen- und Zähneklappern, aber – wie die Bankenkrise Griechisch-Zyperns von 2013 mit 10 bis 40 Prozent Rasur zeigt – geht es bald weiter wie zuvor. Alle verstehen, dass Verluste hart sind, bei Totalverlusten aber Schlimmeres beginnen könnte.
Das Loben der Krise als Chance, in der das Verfaulte weggeschnitten und dem längst sprießenden Neuen endlich Raum gegeben wird, übergeht gerne, dass für bisher nie gesehene Innovationen Kompetenzen vorhanden sein müssen. Begabte Analytiker wie etwa Markus Krall oder Marc Friedrich sprechen vom Wiederaufleben alter Tugenden oder sogar von einem goldenen Zeitalter nach Europas nächstem Crash. Aber werden dann Jung-Genies aus Essen oder Lyon in elterlichen Garagen Smartphones entwickeln, die Samsung und Huawei aus dem Felde schlagen? Werden Google oder Alipay einpacken, weil in Dortmund und Salamanca global ausgreifende Tüftler ans Werk gehen? Unsere Krisen-Optimisten teilen das beliebte Dogma von weltweit gleichgestrickten Talenten, denen man nur Hürden aus dem Wege räumen müsse, damit sie fertig Ausgearbeitetes endlich ans Licht bringen können. Realiter aber haben 80 Millionen Deutsche einen 22:1-PCT-Patentevorsprung gegenüber 50 Millionen Südkoreanern in nur 25 Jahren auf ein mageres 1:1 zurückfahren müssen (siehe S. 6 oben). Krisen treffen selbstverständlich auch Ostasiaten, aber sie haben für die Zeit danach weit mehr Kräfte, dem Westen weitere Branchen abzujagen als umgekehrt.
Kriege gelten wie Wirtschaftskrisen ebenfalls als Innovationschance. Der von Deutschland verlorene Erste (1914 – 1918) sowie der von Deutschland und Japan verlorene Zweite Weltkrieg (1939 – 1945) hindert beide Länder nicht daran, nach 1945 „Wirtschaftswunder“ vorzulegen (D nur im Westen). Eigentumsstrukturen bleiben intakt, sodass Geld und Kredit besichert werden können. Ein Teil der Menschenverluste durch Genozid und anderes Schlachten wird durch Flüchtlinge aus den verlorenen Gebieten wettgemacht. Ab den 1960er-Jahren streben beide Länder auseinander. Deutschland holt bildungsferne Einwanderer, während Japan das unterlässt. Die Schweiz hingegen wirbt weltweit Elite an und schlägt heute sogar Japan bei Kompetenz und PCT-Applikationen pro eine Million Einwohner. Allerdings werden die Eidgenossen von Schulversagern härter als Japan getroffen, das von vornherein weniger davon hat (s o. S. 9). Für Top-Nationen ist es leichter, fremde Könner zu gewinnen, als eigene Bildungsferne zu verlieren.

Quelle: Gunnar Heinsohn

IV. REFORMEN UND GEBURTENRATEN

Ökonomisch führende Nationen können die Kosten kühner Reformen zur Minderung von Leid am ehesten schultern. Als das Deutsche Reich die Produktivität der Spitzenreiter in England zu überholen beginnt, schafft es – zwischen 1883 und 1891 – mit den Pflichtversicherungen für Krankheit, Unfall, Arbeitslosigkeit und Alter ein Sicherheitsnetz, das inzwischen fast alle Top-Nationen nachgeahmt haben, weil damit die Arbeitskräfte loyal gehalten, also vor Demoralisierung und Systemhass bewahrt werden. Eigentumsgesellschaften schaffen immer kommunistische, also eigentumsfeindliche Bewegungen, weil Menschen vermögens- und gleichzeitig arbeitslos sein können. Bei Verbleiben im System liefern deshalb soziale Sicherungssysteme die denkbar größte Revolution. Sie ist weitgehend abgeschlossen.
Außer Island und Israel gelingt bisher allerdings keiner Top-Nation die Nettoreproduktion von 21 Kindern pro zehn Frauenleben. Darin liegt mit der Kompetenz-Knappheit ihr größtes Problem, dessen Lösung nur gelingt, wenn eine Zunahme der Kinderzahl zugleich einen Kompetenzgewinn bringt. Das Problem bleibt so übermächtig, weil die Konkurrenz auf Arbeitsmärkten das stärkste aller Verhütungsmittel darstellt. Ohne Nachwuchs bleibt mehr Zeit für Regeneration und Qualifikation zum Erfolg in diesem elementaren Wettbewerb, der über 90 Prozent der Bürger im Griff hat.
Was sind Ersatzlösungen? Japan wird größter Roboterbauer und Südkorea größter Roboternutzer der Welt auch deshalb, weil sie verstehen, dass man hoch qualifizierte Rentner nicht durch bildungsfernen Nachwuchs aus der ökonomisch abgeschlagenen Welt ersetzen können. Wie zwei Greise keinen Jüngling machen, so lassen sich zwei Schulversager nicht in einen Exzellenz-Studenten umformen. Nationen mit weniger Kompetenz bleibt der Roboterweg allerdings verschlossen. Deshalb ist nur China den kleineren Ostasiaten hart auf den Fersen. Deutschland hatte noch Glück, seine bedeutendste Roboterfirma – die 1898 gegründete KUKA aus Augsburg – 2016 an die 1968 gegründete MIDEA aus Beijiao (Guandong) verkaufen zu können. MIDEA (aktueller Marktwert im Bereich von BMW oder Mercedes) hat Talente für eine Weiterentwicklung der Firma. In Deutschland hingegen hat man zwar Millionen Menschen aus der ganzen Welt in imponierender sozialer Versorgung, aber zum Herstellen und Programmieren von Automaten eignen sich die allermeisten bisher nicht.
Kann China anders vorgehen als Japan und Korea? Es hat bei der Ein-Kind-Politik von 1979 bis 2015 mit Brutalität bis hin zu Zwangsabtreibungen und Infantizid operiert. Ein pro-natalistisches Gegenstück des Beamtenapparats wäre kaum vorstellbar. Doch es gibt weichere Druckmittel. Man könnte Zweifachmütter bei der Besetzung attraktiver Arbeitsplätze bevorzugen. Eine solche Maßnahme – ohnehin verfassungswidrig in Demokratien – wäre abwegig in Nationen mit hoch divergenten Kompetenzprofilen. Keine Firma kann einer Vielfachmutter ohne Schulabschluss eine Spitzenstellung anbieten und dafür die qualifizierte Kinderlose ablehnen. Wenn aber die meisten Bewerberinnen ähnlich qualifiziert und motiviert sind, bliebe das Risiko einer Vergeudung von Talent kalkulierbar. Es bleibt ja dabei, dass die ökonomisch führende Nation viel riskieren kann.
Eine der Strafen für Chinesen, die ihr Konto korrekten Sozialverhaltens überziehen, besteht im Ausschluss des Nachwuchses von den besten Schulen und Universitäten. Würde das Fehlen eines zweiten Kindes ebenso als nationalmoralische Sünde geahndet, wäre gerade der zur Kinderlosigkeit drängende Berufsehrgeiz in die Fortpflanzungspflicht genommen. Gelingt China der Zuwachs von 16 auf 21 Kinder pro 10 Frauenleben, wird Weltdominanz nicht nur erreicht, sondern auch auf Dauer gestellt.

V. NEUE WIRTSCHAFKRISEN GLEICH NEUE KRIEGE?

Von ökonomischen Krisen werden – besonders bei gleichzeitigem Absinken bisheriger Vormächte – gerne auch Kriege befürchtet. Ein so erfolgreicher Investor wie Ray Dalio (*1949) etwa sieht eine Wiederholung der 1930er-Jahre mit Straßenkämpfen und womöglich ganz großem Krieg. Henry Kissinger (*1923) will gar eine Situation wie vor dem Ersten Weltkrieg erkennen. Doch drei Dinge sind heute anders. (1) Atomwaffen der wichtigsten Konkurrenten lassen sie international vorsichtig agieren. (2) Soziale Sicherung reduziert das Elend von Arbeitslosen bankrotter Firmen. Entscheidend aber wird (3) der Rückgang des Kriegsindex von 4 bis 5 vor 1914 und 3 bis 4 vor 1939 auf unter 1 heute. Auf tausend 55 – bis 59-Jährige folgen also nicht mehr 4.000 oder 3.000 Ehrgeizige von 15 bis 19-Jahren, sondern weniger als 1000. Die Tötungs- und Sterbebereitschaft der heutigen Spitzen-Nationen unterscheidet sich radikal von damals. Das gilt global allerdings noch nicht.

VI. GLOBALE ZUKUNFT

Schon heute gehören fast 5 Milliarden und in 30 Jahren mindestens 7 Milliarden Menschen zu Nationen, deren Kompetenz – jenseits von Rohstoffen – für Erfolge auf Weltmärkten und zumeist auch auf eigenen Märkten nicht ausreicht. Ihre Besten fliehen in die immer talenthungrigen Topregionen, der Rest gibt Gewalt, Kriegen und Völkermorden eine solide Zukunft.

Quelle: Gunnar Heinsohn