Gassank­tionen sind schmerz­haft

Damit Sanktionen echte Auswirkungen auf den russischen Haushalt haben, muss Europa auch seine Abhängigkeit von russischem Gas beenden, fordern nicht wenige. Da hilft es nur vorläufig, dass die Chemieindustrie laut warnt. So der VCI-Präsident Christian Kullmann bei den 108. „Wirtschaftsgesprächen am Main“, wie die F.A.Z. berichtete:

  • „Bundesweit seien eine halbe Million Arbeitnehmer für die Chemiebranche tätig, rechnet er vor, mit einem Durchschnittsgehalt von 80.000 Euro brutto jährlich zahlten sie zudem erheblich in die Steuer- und Sozialkassen ein. Die Chemiebetriebe lieferten Inhaltsstoffe und Vorprodukte für mehr als 90 Prozent aller Güter, die in Deutschland produziert würden. ‘Ohne uns kein Leichtbau, keine Elektromobilität und keine Windräder.’“ – bto: und damit auch keine leichte Erholung, wie von vielen Beobachtern angenommen.

Doch was bedeutet es für die EU? Daniel Gros ist Vorstandsmitglied und Distinguished Fellow des Centre for European Policy Studies und kommentiert für die FINANZ und WIRTSCHFT (FuW):

  • „Europa braucht Erdgas als winterliches Heizmittel und als Rohstoff für die weltgrösste chemische Industrie, auf die ein erheblicher Anteil der EU-Exporte entfällt. Und bestimmte Merkmale des Erdgasmarktes werden es viel schwieriger und kostspieliger machen, Alternativen zu russischen Lieferungen zu finden, als das beim Öl der Fall war.“ – bto. Ja, das hat eine Bedeutung, vor allem für Deutschland.
  • „Zunächst einmal gibt es, weil die meisten Erdgasproduzenten langfristige Verträge mit ihren Käufern haben, ausserhalb Russlands kaum freie Produktionskapazität. Zwar gibt es Spotmärkte, auf denen man begrenzte Mengen an Gas kaufen oder verkaufen kann. Doch ihr Zweck besteht darin, das Angebot und die Nachfrage bedarfsgerecht regional umzuverteilen, und nicht, ein zusätzliches Angebot zu schaffen.“ – bto: vor allem auch, weil Gas am effizientesten in der Pipeline transportiert wird.
  • “Europas nervöse Energieminister haben bereits verschiedene globale Gasproduzenten besucht. (…) Aber sie warnen, dass es bis zu vier Jahre dauert, neue Projekte zu starten, und dass das wirtschaftlich nur dann sinnvoll ist, wenn der Kunde bereit ist, einen Zwanzigjahresvertrag zu unterzeichnen.“ – bto: siehe Katar mit Blick auf Deutschland. Man muss schon Politiker sein; um sich darüber zu wundern.
  • „Transport von Erdgas ist teuer und seine Lagerung schwierig. (…) Nachdem das Gas verflüssigt und auf einen Spezialtanker verladen worden ist, machen ein paar tausend Kilometer Fahrt keinen grossen Unterschied. Das ist der Hauptgrund für die Integration der asiatischen und der europäischen LNG-Märkte mit in der Regel kaum voneinander abweichenden Preisen auf beiden Kontinenten. Die Spotpreise für Gas erreichten schon im letzten Herbst – Monate vor dem russischen Einmarsch in der Ukraine – ein sehr hohes Niveau, weil eine starke Konjunkturerholung in Asien die Nachfrage befeuerte.“ – bto: Es hat eben nicht so viel mit dem Krieg als mit den unzureichenden Investitionen zu tun. Der Transport mag dann billig sein, ist aber natürlich sehr klimaschädlich.
  • „Wenn das LNG ankommt, müssen die Importländer das Flüssiggas lediglich in den Tankern erhitzen. (…) schwimmende LNG-Terminals sind ebenfalls eine Option, und Länder wie Deutschland, Frankreich und Italien nutzen sie bereits, um sicherzustellen, dass sie das LNG bei Ankunft auch entladen können. Zusammen mit den Pipelines, die die meisten EU-Anbieter vernetzen, bieten diese flexiblen Verdampfungsanlagen einen gewissen Schutz vor russischen Versuchen, gegen einzelne Länder vorzugehen. Europa hat in dieser Frage bereits seine Solidarität bewiesen. Als der russische Energieriese Gazprom kürzlich seine Gaslieferungen an Polen und Bulgarien einstellte, sorgten Pipelines aus Deutschland und Griechenland dafür, dass die beiden Länder bekamen, was sie brauchten. Die Frage ist, ob Europa die gleiche Entschlossenheit an den Tag legen wird, wenn alle Länder unter Druck stehen.“ – bto: Es ist nicht unvorstellbar, dass Putin die Antwort mal testen möchte.
  • „Solange Amerikas Exportkapazitäten begrenzt sind, wird die Umlenkung der US-Lieferungen aus Asien nach Europa nichts tun, um den Nachfrageüberschuss auf dem gemeinsamen LNG-Markt der EU und Asiens zu verringern. Für die USA hat dies den Vorteil, dass die Erdgaspreise dort viel niedriger geblieben sind als in Europa oder Asien.“ – bto: einer der vielen Bereiche, wo deutlich wird, dass es die USA sind, die am meisten von diesem Krieg profitieren.
  • „Die Herausforderung, LNG-Verflüssigungsanlagen zu bauen, erhöht auch die Kosten für Russland, wenn es versucht, das Gas, das Europa nicht mehr abnimmt, zu exportieren. Russland wäre mehrere Jahre lang nicht in der Lage, die 140 Mrd. Kubikmeter Erdgas zu verkaufen, die bisher jedes Jahr nach Europa gingen. Wenn Europa bereit ist, den Preis für teure LNG-Importe zu bezahlen, könnte es daher Russlands Fähigkeit, sich über Gasexporte harte Devisen zu beschaffen, schwer beeinträchtigen.“ – bto: ja, könnte Europa. Dennoch dürften die Schäden erheblich sein.

fuw.ch: „Europas Gasproblem“, 2. Juni 2022

faz.net: „„Das Gasembargo ist derzeit vom Tisch““, 4. Juni 2022