Frieden durch Frei­handel?

Am 19. Juni 2022 blicken wir in meinem Podcast auf die These, dass Freihandel, wirtschaftliche Verflechtung, nicht nur zu mehr Wohlstand führt, sondern auch die Gefahr von kriegerischen Auseinandersetzungen mindert. Als Gesprächspartner dabei: der Politikwissenschaftler Professor Erich Weede, bis 2004 Lehrstuhlinhaber für Soziologie an der Universität Bonn.

Zur Vorbereitung die Kernaussagen von ihm aus einem Beitrag aus dem Jahre 2005:

  • Die Hypothese, dass Demokratie zum Frieden beitrage, hat eine ehrwürdige Herkunft, die mindestens bis zu Kants Schrift ‘Zum Ewigen Frieden’ (1795) zurückreicht. (…) seit Kant (ist) immer wieder die Hoffnung entstanden, dass mit zunehmender Verbreitung der Demokratie der Krieg immer seltener werde. Seit dem 20. Jahrhundert wird diese Hoffnung nicht nur von machtlosen Gelehrten, sondern auch von manchen Staatsmännern westlicher Demokratien vertreten – nicht nur im Frieden, sondern auch in Vorkriegs-, Kriegs- und Nachkriegszeiten. Ein Krieg erscheint dann moralisch akzeptabler und entschuldbarer als sonst, wenn er zum Sturz eines Despoten und der darauf vielleicht folgenden Demokratisierung eines Landes führt und damit auf lange Sicht auch zur Kriegverhütung beitragen kann.“ – bto: Das war damals natürlich im Lichte des Irakkrieges hoch aktuell. Wir wissen, dass das Projekt gescheitert ist, erst recht in Afghanistan.
  • Mit Hilfe großer quantitativer Datensätze über das Auftreten von Konflikten und deren mutmaßlichen Determinanten und manchmal recht komplizierten statistischen Methoden haben vorwiegend amerikanische, aber auch europäische Sozialwissenschaftler dazu eine Vielzahl von Studien erstellt. Bei allen technischen Unterschieden zwischen den einzelnen Studien kann man dennoch so etwas wie typische Untersuchungspläne erkennen. Dabei geht es um Paare von Staaten, die Dyaden genannt werden. Das sind die Untersuchungseinheiten. Bei 100 Staaten gäbe es schon 4950 Dyaden, in denen es innerhalb eines Beobachtungszeitraums Konflikte geben kann oder auch nicht. Fast immer gibt es in den meisten Dyaden keinen Krieg und nur eine kleine Minderheit – vielleicht nur ein Prozent aller Dyaden – wird von Konflikten betroffen.“ – bto: Simpel gesprochen hat man also die Beziehungen von allen Staaten der Welt jeweils zueinander untersucht und dann geschaut, ob es zu kriegerischen Auseinandersetzungen kam oder nicht.
  • Nun kann man die Frage aufwerfen, warum es in wenigen Dyaden Konflikte gibt, in den meisten Dyaden aber nicht. (Dabei besteht die) Notwendigkeit, mehrere mutmaßliche Determinanten der Konfliktgefahr gleichzeitig zu betrachten. Wer möchte ernsthaft den Frieden zwischen der Schweiz und Finnland in erster Linie durch den demokratischen Charakter dieser Länder und nicht durch die geografische Entfernung erklären? Im Fall Großbritanniens und Frankreichs dagegen oder – in Anbetracht der zahlreichen Kriege zwischen beiden Ländern – erst recht im Fall Deutschlands und Frankreichs, ist die Erklärung des Friedens durch Demokratie schon plausibler.“ – bto: Und ich würde bei der Beurteilung der Konfliktgefahr auch die demografische Entwicklung mit einbeziehen.
  • Bei dieser Art der quantitativ-empirischen Kriegsursachenforschung konnte zwar kein völliger Konsens erzielt werden, aber es bildete sich eine zurzeit herrschende Auffassung heraus. Danach ist die Kriegsgefahr unter Demokratien wesentlich geringer als anderswo. Der „demokratische“ Frieden bezieht sich zunächst  auf die zwischenstaatlichen Beziehungen unter den Demokratien. Umstritten aber ist die Frage, ob die Kriegsgefahr zwischen Demokratien und Autokratien niedriger oder höher als unter Autokratien ist (…).“ – bto: Das ist so weit auch einleuchtend, neigen doch Autokratien auch dazu, über echte oder vermeintliche externe Gefahren eine interne Disziplinierung herbeizuführen.
  • Auch herrscht kein Konsens darüber, warum Demokratien selten – oder bei hinreichend anspruchsvoller Demokratiedefinition vielleicht sogar nie – gegeneinander Krieg führen. Denkbar sind eine Reihe von Gründen: die schon bei Kant erwähnte Belastung der Bürger durch Krieg, die diese nicht freiwillig auf sich nehmen, wenn man sie fragt. Denn Demokratien befragen per definitionem ihre Bürger regelmäßig, wer regieren soll und damit indirekt auch, welche Politik betrieben werden kann. Weiter lassen sich Demokratien im Verhältnis zu anderen Demokratien von denselben Normen leiten, die innerhalb des Staates Ausgleich, Kompromisse und Gewaltverzicht möglich machen.“ – bto: Das leuchtet ein, wir wissen aber aus der Geschichte – Großbritannien –, dass sich auch Demokratien mobilisieren lassen. Aber dann eben zur Verteidigung, was etwas ganz anderes ist.
  • Ein zweiter Befund dieser Art von Kriegsursachenforschung besagt, dass die Konfliktgefahr zwischen Staaten umso geringer ist, je mehr Handel sie miteinander treiben und je abhängiger sie damit von diesem Handel sind. Die mit diesem Befund gestützte Hypothese „Frieden durch Freihandel“ ist immer noch und seit langem umstritten, weil einige Studien eher einen Zusammenhang zwischen Handel und größerer Konfliktgefahr als pazifizierende Handelseffekte nahe legen. Nach dem Forschungsstand vom Frühjahr 2005 sieht es allerdings so aus, dass sich die These vom Frieden durch Freihandel besser stützen lässt, wenn eine oder gar mehrere der folgenden Bedingungen erfüllt sind.“ – bto: Und heute würde man dann fragen, ob dies noch zutrifft oder ob der Krieg in der Ukraine nicht beweist, dass die These falsch ist.

Doch schauen wir uns die Bedingungen an:

  • 1. Man analysiert nur solche Dyaden, bei denen räumliche Nähe und/oder der Machtstatus überhaupt die Gelegenheit für militärische Auseinandersetzungen bieten.“ – bto: Das ist naheliegend.
  • 2. Man definiert das Explanandum oder die abhängige Konfliktvariable so, dass man sich auf die Erklärung von Konflikten mit Todesfolgen beschränkt und nicht etwa militärisches Säbelrasseln einbezieht. Wegen der Seltenheit von militärischen Konflikten gibt es zwar gute methodologische Gründe für die weit verbreitete Praxis, schon Drohungen und Truppenbewegungen als Konflikte zu verkoden. Aber letztlich werden zwischenstaatliche Konflikte nicht durch diplomatische Grobheiten, sondern erst durch die Tötung von Menschen schlimm.“ – bto: Es geht ja darum, zu sehen, ob Beziehungen dabei helfen, dass es zu keinen Kriegen kommt. Wenn Säbel rasseln und es nicht zum Krieg kommt, hat die Verflechtung bereits gewirkt.
  • 3. Außerdem hängt die Bewährung der Hypothese ‘Frieden durch Freihandel’ auch davon ab, wie man die Handelsvariable definiert. Wenn man den Handel zwischen zwei Staaten als Anteil am jeweiligen Bruttosozialprodukt der Staaten erfasst, dann stützen die Befunde die Hypothese. Wenn man den bilateralen Handel als Anteil am Außenhandel erfasst, dann sprechen die Befunde eher dagegen. Die erste ist schon deshalb der zweiten Forschungsstrategie vorzuziehen, weil die Konzentration auf wenige Handelspartner und damit hohe Quotienten zwischen bilateralem Handel und Außenhandel in einigen wenigen Dyaden eher bei relativ geschlossenen als bei offenen Volkswirtschaften anzutreffen sind.“ – bto: Hier habe ich weniger gekürzt für diese Zusammenfassung, weil ich den Punkt mit der Unterscheidung BIP/Außenhandel durchaus interessant finde.
  • Zwischenfazit: „Trotz aller Verweise auf offene Fragen sollte man beim gegenwärtigen Forschungsstand davon ausgehen, dass die Konfliktgefahr in solchen Dyaden besonders niedrig ist, wo beide Staaten demokratisch regiert werden und viel Handel miteinander treiben bzw. ökonomisch interdependent sind. (...) Wenn man die zwei Befunde aus der Kriegsursachenforschung mit dem Befund aus der politischen Soziologie und dem aus der politischen Ökonomie kombiniert, dann kann man vom „kapitalistischen Frieden“ sprechen, der folgendermaßen funktioniert: Wirtschaftliche Freiheit, vor allem auch im Außenhandel, trägt zum Wohlstand bei. Wohlstand trägt zur Demokratisierung und der Überlebensfähigkeit des demokratischen Systems bei. Unter Demokratien ist die Kriegsgefahr gering. Außerdem hat der Freihandel einen direkten pazifizierenden Effekt auf die zwischenstaatlichen Beziehungen, wenn er von volkswirtschaftlicher Bedeutung für die betroffenen Länder ist.“ – bto: Umgekehrt bedeutet dies, wenn man den Handel abbaut, dann erhöht man ceteris paribus die Konfliktgefahr. So oder so.
  • Die Globalisierung, die ja auf Abbau der Schranken für den Handels- und Kapitalverkehr zwischen den Nationen hinausläuft, wird damit zu einer pazifizierenden Kraft. (…) Seit Adam Smith, also seit mehr als 200 Jahren, wissen wir, dass das Ausmaß der Arbeitsteilung von der Größe des Marktes abhängt, und dass Arbeitsteilung die Produktivität erhöht. Die Globalisierung verspricht also globale Produktivitätsgewinne und eine globale Wohlstandssteigerung, die zum einen  über die zunehmende Handelsverflechtung zwischen den Staaten und zum anderen über die durch zunehmenden Handel und Wohlstand ermöglichte Demokratisierung pazifizierende Effekte hat.“ – bto: Das stimmte 2006 und das stimmt heute. Es ändert aber nichts daran, dass es große Kritik an der Globalisierung gibt, was vor allem daran liegt, dass die Produktivitätsgewinne zu einigen Verlierern führen und die Politik hierauf keine brauchbare Antwort gefunden, sondern sich in die Verschuldung geflüchtet hat.
  • Die Betrachtung militärischer Konflikte seit dem Ende des Kalten Krieges und des Zerfalls der Sowjetunion und ihres Warschauer Paktes kann das veranschaulichen. Von einer Konfliktliste des Osloer Friedensforschungsinstituts und der Universität Uppsala ausgehend kommt man auf zwölf verschiedene dyadische Konflikte, in denen mindestens 25 Menschen getötet worden sind: Vier dieser Konflikte waren Konfrontationen zwischen Jugoslawien bzw. Serbien einerseits und anderen vormals aus Jugoslawien hervorgegangenen Staaten (Slowenien, Kroatien, Bosnien) und einer von den USA unter NATO-Flagge geführten Koalition (Kosovo-Krieg) andererseits; ein Konflikt ereignete sich zwischen sowjetischen Nachfolgestaaten, zwischen Armenien und Aserbaidschan; drei Konflikte ergaben sich aus der Weltpolizistenrolle der USA (nämlich der oben schon erwähnte Kosovo-Krieg gegen Serbien, die Kriege gegen Afghanistan und den Irak); drei lokale Konflikte ereigneten sich in Afrika, zwischen Äthiopien und Eritrea, zwischen Kongo-Kinshasa (früher Zaire) einerseits und Ruanda und Uganda andererseits; je einen Konflikt gab es in Asien (zwischen Indien und Pakistan) und in Lateinamerika (zwischen Ecuador und Peru).“ – bto: Natürlich lässt sich diese Liste seit dem Erscheinungstermin dieses Kommentars verlängern, zuletzt – und darum geht es ja im Podcast am 19. Juni 2022  – in der Ukraine.
  • Wenn man bei Koalitionskriegen unter amerikanischer Führung deren Verbündete nicht berücksichtigt – selbst die Briten hätten im letzten Jahrzehnt nie allein gegen Afghanistan oder den Irak gekämpft – sind das zwölf verschiedene Konfliktdyaden. Bei Verwendung üblicher Maßstäbe gibt es darunter keine Dyade, bei denen beide Gesellschaften der Konfliktdyade gleichzeitig Demokratien waren und dennoch gegeneinander kämpften. Es gab darunter allerdings auch keine Dyade, in der beide Staaten von wirtschaftsliberaler Seite gleichzeitig eindeutig als „wirtschaftlich frei“ oder, was bei diesen Quellen auf dasselbe hinausläuft, als kapitalistisch bezeichnet werden können. Es ist also deshalb schwer, zwischen einem kapitalistischen Frieden unter wirtschaftlich freien Staaten und einem demokratischen Frieden unter Demokratien zu unterscheiden, weil beide Ansätze in weitgehend ähnlichen Teilmengen von Dyaden kriegerische Konflikte entweder zulassen oder verbieten und damit entweder beide theoretischen Ansätze gleichzeitig oder keiner mit Anomalien zu kämpfen hat.“ – bto: Man kann diese Kriege also so interpretieren, dass sie die These stützen.
  • Sofern nur die These des demokratischen Friedens gültig ist und diese auch nur unter wohlhabenden Demokratien gilt, sieht die Zukunft besonders düster aus. Denn dann würde nur eine wohlhabende chinesische Demokratie, die vermutlich erst in Jahrzehnten denkbar ist, die Konfliktgefahr zwischen China und den USA reduzieren. Anhänger einer Theorie des kapitalistischen Friedens (wie ich) können etwas optimistischer in die Zukunft schauen: Der Handel zwischen den USA und China, ebenso der zwischen dem chinesischen Festland und Taiwan, entwickelt sich kräftig und schnell.“ – bto: Danach kam es zum Bruch der Entwicklung, wie wir wissen. Ich wäre pragmatisch: Die Demokratie können wir nicht erzwingen, wir können aber eine wirtschaftliche Vernetzung fördern. Nun spielt es keine Rolle, wie stark Deutschland vernetzt ist mit China, sondern wie stark die USA es sind. Hier brauchen wir offensichtlich eine andere Antwort als nur die, die wir heute geben: nämlich keine.
  • Für das Verhältnis zwischen den USA oder dem Westen einerseits und China andererseits folgt aus dem demokratischen Frieden allein eine gewisse Ratlosigkeit. Denn aus dieser theoretischen Perspektive ist unklar, ob ein wohlhabenderes China wegen des sicher damit verbundenen Machtzuwachses eine größere Gefahr darstellt oder wegen der damit verbundenen Demokratisierungshoffnung eine kleinere Gefahr.“ – bto: Die heutige Antwort der Politik erscheint eindeutig zu sein. Eine (deutlich) größere Gefahr.
  • Unter der Annahme eines kapitalistischen Friedens kann man davon ausgehen, dass die zunehmende ökonomische Interdependenz zwischen China einerseits und den USA, Taiwan und dem Westen andererseits sofort pazifizierende Konsequenzen hat, womit die Kriegsgefahr reduziert werden kann, schon bevor es ein wohlhabendes und demokratisches China gibt. Unter dieser theoretischen Prämisse ist ein Containment Chinas kontraproduktiv und abzulehnen. Stattdessen wird die Kooptation Chinas in die Weltwirtschaft und die kooperative Weltpolitik der großen Mächte zum Gebot der Stunde.“ – bto: Das ist eine Aussage, die heute noch stimmen wird. Das bedeutet ja nicht, dass man technologisch so zurückfällt, dass man keine autonomen Fähigkeiten mehr hat. Man kann es sogar umdrehen: Um den Frieden zu sichern, muss man im offenen Wettbewerb mithalten. Und da sieht es – finde ich – nicht so gut aus.

    internationalepolitik.de: „Frieden durch Kapitalismus“, 1. Juli 2005