Die Zentrifugal­kräfte der Euro­zone

Jürgen Stark, ehemaliges Mitglied des Direktoriums und des Rates der Europäischen Zentralbank (EZB) äußerte sich im Interview mit der WELT kritisch zur Lage der Eurozone. Hier die Kernaussagen:

  • “Die Corona-Pandemie hat eine Schulden-Pandemie zur Folge. Angesichts der unkontrollierten Explosion der Staatsschulden im Euroraum bleiben Forderungen nach Schuldenstreichung, der Änderung des europäischen Vertragswerks und nach der Umwidmung der ESM-Mittel natürlich nicht aus. Daran ist nicht viel Neues. Aber jetzt nimmt man die katastrophale Finanzlage infolge der Corona-Krise in Ländern mit chronisch unsoliden Finanzen zum Anlass, diese Forderungen mit noch mehr Nachdruck zu erheben. Hier zeigt sich erneut, dass wir politisch und ökonomisch unqualifizierte Mitgliedstaaten in die Währungsunion aufgenommen haben.” – bto: Hundert Prozent Zustimmung. Die Frage ist, wie wir damit intelligent umgehen.
  • “Das darf aber nicht Anlass sein, die EU und die Wirtschafts- und Währungsunion dauerhaft in diese Richtung umzubauen. Damit würden die entscheidenden Prinzipien der Solidität und Stabilität mit Eigenverantwortung und Haftung der Mitgliedstaaten aufgegeben. Dies würde nicht nur zu erheblichen Akzeptanzproblemen in den nördlichen Staaten führen, sondern zu neuen Konflikten und zur tieferen Spaltung Europas.” – bto: und zwar durch enttäuschte Hoffnungen bei den Empfängern und Verärgerung bei denen, die zahlen, obwohl man ihnen jahrelang anderes versprochen hat! Gerade hier in Deutschland!
  • “Betrachtet man sie gemeinsam mit der US-amerikanischen Fed, der Bank of England und der Bank of Japan, haben diese vier Zentralbanken ihre Bilanzen auf zusammen 20 Billionen Euro ausgedehnt und viele Risiken übernommen. Damit verändern sie natürlich auch den Charakter der großen Volkswirtschaften.” – bto: Ja, sie haben das Risiko aus den Märkten genommen und damit massive Fehlanreize gesetzt.
  • “(Das Versprechen von Mario Draghi) war der Gamechanger. Ab da war klar: Hier gibt es eine Institution, die den Euro-Raum zusammenhalten wird – um jeden Preis. Politisch kann man das verstehen. Die Frage ist jedoch: Ist es noch im Rahmen des Mandats einer Zentralbank, eine solche Garantie abzugeben, oder hätte man nicht an die Politik verweisen und sagen können: Der Ball ist in eurem Feld!” – bto: Das sehe ich nicht so. Eine Notenbank muss auch ihre eigene Existenz verteidigen. Richtig ist, dass die Politik letztlich handeln muss, was sie nun tut, wenn auch in die falsche Richtung.
  • “(…) es findet eine gewaltige Umverteilung von Gläubigern zu Schuldnern statt. (…) Wir sind in einer neuen Episode, in der die Unabhängigkeit der Zentralbanken nicht mehr gewährleistet ist. (…) In der Tat manifestiert sich diese Entwicklung in der personellen Besetzung bei vielen Zentralbanken. Nehmen wir den EZB-Rat. Europäische Regierungen benennen für die Posten an der Spitze ihrer nationalen Notenbanken tendenziell dafür nicht mehr Fachleute für Geldpolitik, sondern Politiker. Das haben wir in fünf Fällen: EZB-Präsidentin Christine Lagarde, ihr Vize Luis de Guindos, Olli Rehn, Peter Kazimir, und Mario Centeno, der frühere Eurogruppenchef. (…) Das ist ein sichtbares personifiziertes Zeichen für die Politisierung der EZB.” – bto: mit einem klaren Ziel: die Notenbank so zu dominieren, dass wir MMT umsetzen, ohne zuvor die Verteilungswirkung dieser Maßnahmen durchdacht und korrigiert zu haben.
  • “Die niedrigen Zinsen verschleiern die Risiken. Griechenland zahlt weniger als die USA für ihre Treasuries. Das zeigt deutlich, dass man hier zu weit gegangen ist. Es ist ein Anreiz für die schon hoch verschuldeten Regierungen, sich noch mehr zu verschulden. Dabei waren die Staatsfinanzen in vielen Ländern schon vor der Krise nur bedingt tragfähig. Das gilt auch für Deutschland, wie der diesjährige 5. Tragfähigkeitsbericht des Bundesfinanzministeriums gezeigt hat. Natürlich erforderte die aktuelle Krisensituation besondere Zentralbankmaßnahmen, aber ob nun eine Verdoppelung des Pandemie-Notfall-Programms (PEPP) von 750 Milliarden auf 1,35 Billionen Euro oder sogar eine weitere Erhöhung gerechtfertigt ist, das bezweifele ich.” – bto: Hier spricht Stark die verdeckten Staatsschulden an, nur lösbar durch Monetarisierung.
  • “Als die USA in den 2. Weltkrieg eingetreten ist, verpflichtete sich die Fed, den Zinssatz für langfristige Papiere nicht über 2,5 Prozent steigen zu lassen. Diesen Kurs, mit dem sie die sogenannte Zinsstrukturkurve kontrolliert hat, hat sie von 1942 bis 1951 gehalten. Das hat nach dem Krieg dazu geführt, dass die Schulden der USA relativ zur Wirtschaftsleistung deutlich gesunken sind. Erst als die Inflation auf über zehn Prozent gestiegen ist, ist die Fed aus dieser Geldpolitik ausgestiegen. Mit diesem Modell der finanziellen Repression oder Fiskaldominanz über die monetäre Dominanz hat man die Zeit genutzt, um die Schulden zurückzuführen (…).” – bto: Das ist der Weg gewesen. Aber heute ist es ungleich schwerer, dies zu erreichen. Es fehlt schlichtweg am realen Wachstum.
  • Frage: Ist ein Szenario denkbar, in dem die Notenbanken die Kontrolle über die Zinsstrukturkurve verlieren? – “Ja, das ist denkbar, wenn das Vertrauen in die Zentralbanken verloren geht, dass sie das wirklich auf lange Zeit durchhalten, insbesondere wenn die Inflationsrisiken steigen. Die Finanzmärkte könnten höhere Risikoaufschläge verlangen oder ein Land könnte völlig den Marktzugang verlieren.” – bto: womit wir beim entscheidenden Punkt sind. Es geht um das Vertrauen, und unsere Politiker tun so, als wäre dieses stabil. Ist es aber nicht.
  • Frage: Die EZB verweist darauf, dass der natürliche Zins über die letzten 30 Jahre kontinuierlich gesunken sei und sie selbst sich nicht so weit von diesem Satz entfernt findet bei null Prozent. – “Das stimmt. Aber der natürliche Zins ist ja nicht direkt beobachtbar, sondern die Werte sind modellbasierte Schätzungen. Es gibt viele Ökonomen, etwa der Stanford-Ökonom John Taylor, die sagen, der natürliche Zins ist gesunken, aber die Bedeutung dieses Absinkens wird überinterpretiert.” – bto: Und wenn man das glaubt, dann muss man auch einen Anstieg erwarten aufgrund der demografischen Entwicklung.

welt.de (Anmeldung erforderlich): „Wir haben politisch und ökonomisch unqualifizierte Mitgliedstaaten aufgenommen“, 26. November 2020