„Die Leute haben Zukunftsängste“

Man schreibt mir: “Sehr geehrter Herr Stelter, da Sie immer wieder das Demografieproblem thematisieren und da Sie in Ihren Büchern auch für den Laien verständlich und schlüssig argumentieren, wäre eine Kommentierung des folgenden Interviews mit dem Sozialrichter Borchert sicher sehr lehrreich.” 

Also schauen wir uns das Interview an. Es ist mit dem ehemaligen Sozialrichter und Rentenexperten Dr. Jürgen Borchert:

  • Frage: “(…) ist der Sozialstaat am Ende? Schon vor fast 23 Jahren haben Sie das in einem Buch geschrieben. Was hat sich seitdem geändert?”
    Antwort: “(…) Dass ein System, das seinen Nachwuchs verliert und gleichzeitig den Nachwuchs in eine immer größer werdende Armut schickt, keine Zukunft haben kann. Wirtschaftspolitisch, gesellschaftspolitisch, bildungspolitisch – wo immer man hinguckt, ist diese Gesellschaft eine Gesellschaft des Raubbaus an der Nachwuchsgeneration – physisch und psychisch, bildungsmäßig und alles, was dazugehört.” – bto: Das ist zunächst eine drastische Aussage, die Borchert dann aber belegt.
  • Die Rentenversicherung (RV) ist ja unmittelbar vom Nachwuchs abhängig. Denn anders, als die Leute sich das vorstellen, verführt durch die Versicherungsterminologie, ist die RV ja ein System, was nur das laufende Volkseinkommen umverteilen kann. (…) Man kann nicht für die Zukunft ansparen, für die Alterssicherung einer ganzen Generation, das funktioniert nicht.” – bto: Ja, es ist ein System der Umverteilung zwischen Generationen, von dem auch Wissenschaftler wie Piketty meinen, es sei das beste denkbare System. Die Menschen würden a) Kinder bekommen und b) diese möglichst gut ausbilden. Dass dies mit der Realität irgendwie nicht zusammenpasst, sieht er nicht.
  • “Das war übrigens der ordnungspolitische Grund in den 1950er-Jahren, aus dem wir damals kein kapitalgedecktes System eingeführt haben. Weil kluge Leute ausgerechnet haben, dass wir dann ganz Belgien aufkaufen müssen. Die Rentenversicherungsträger würden die französische Wirtschaft aufkaufen, und schließlich wären sie der Gesamtkapitalist in Europa.” – btohmm. Das klingt natürlich erst mal richtig. Aber: Wir hätten mehr im Inland investieren können und hätten so zum Beispiel eine bessere Infrastruktur. Wir hätten global investieren können, wie das Norwegen, Singapur und die Schweiz tun.
  • Das System der Zukunftssicherung setzt immer voraus, dass wir eine Nachwuchsgeneration haben, die gut ausgebildet, willens und in der Lage ist, die Alten zu versorgen. Daran hat sich seit den Vor-Rentenversicherungszeiten nichts verändert.” – bto: Und es gilt bei Umlage- wie bei Kapitaldeckung. Da hat Borchert natürlich recht. Und was machen wir???
  • Wir (…) meinen, wir könnten auf Kinder verzichten. Alles, was Kinder angeht, ist in dieser Gesellschaft doch unter ferner Liefen angesiedelt.” – bto: interessanterweise gerade dort, wo es am nötigsten wäre.
  • Eine private Säule kann uns gar nicht aus diesen Schwierigkeiten heraushelfen, weil sie nicht den Produktionsfaktor Arbeit kreiert. Wir haben ja keinen Kapitalmangel. (…) Wir haben eine Hyperinflation an den Börsen, an den Kapitalmärkten, und wir haben gleichzeitig Liquiditätsmangel, Kreditmangel bei den kleinen Mittelständern, vor allen Dingen bei den Handwerkern.” – bto: Das sehe ich im ersten Teil genauso, im zweiten nicht. Natürlich haben wir zu hohe Bewertungen an den Kapitalmärkten. 
  • “Das Zweite, was man sich überlegen muss: Wenn wir alle sparen und den Gürtel enger schnallen – das bedeutet ja Kapitaldeckung –, dann müssten wir Konsumverzicht üben. (…) Und das bedeutet, dass wir mehr Arbeitslosigkeit haben.” – bto: Naja, das hat Thomas Mayer im schon letzte Woche verlinkten Beitrag schön widerlegt. Es hätte mehr Investitionen gegeben, allerdings bei uns vielleicht noch anhaltend und größere Handelsüberschüsse.
  • Man schreckt davor zurück, den Bürgern die ganze Wahrheit zu erzählen. Sie müssen nämlich damit anfangen, dass das RV-System niemals eine Versicherung ist und auch keine sein kann. Eine Versicherung ist gekennzeichnet dadurch, dass Sie bei einem Einzelfall, der von der sozialen Norm abweicht, die Sicherung gewährleistet. Das war zu Bismarcks Zeiten völlig klar. Allgemeine Lebenserwartung von 40 Jahren und Renteneintrittsalter von 70 Jahren, das war die absolute Ausnahme, das konnte man versichern. Heute ist es umgekehrt, und es ist die soziale Norm, dass wir alle das Rentenalter erreichen. Das kann man nicht versichern.” – bto: Und das kann man auch nicht bezahlen!
  • Wenn Sie mal schauen, was die Prachtgebäude aus dem letzten Jahrhundert, aus der Gründerzeit sind, da sehen sie überall öffentliche Infrastruktur. Vor allem Schulen. Daran konnten Sie sehen, was damals wichtig war. Wenn Sie sich heute in Berlin umgucken, verfallen die Schulen ringsherum. Und am wenigsten wird in Nachwuchs investiert.” – bto: eine Feststellung, die ich aus eigenem Erleben nur dick unterstreichen kann. Eine Schande. 
  • Wer aufhört zu arbeiten, lebt zu 100 Prozent von dem, was die jungen Leute produzieren. Und das ist das Entscheidende: dass die jungen Leute erst mal da sind. Wir haben mittlerweile die Geburtenzahl seit 1964 halbiert. Und zweitens: dass gut ausgebildet wird. Da stellen wir fest, dass Deutschland das Wunder fertiggebracht hat, die Geburtenzahlen zu halbieren und gleichzeitig den Anteil der Kinder in der Sozialhilfe um das 16-Fache zu steigern. Mit der Konsequenz, dass wir heute jedes vierte Kind, das die Schule verlässt, mit einem Bildungsstand in das Arbeitsleben entlassen, bei dem es am Lesen, Schreiben, Rechnen hapert, und deswegen noch nicht einmal Hilfsarbeiter-Tätigkeiten infrage kommen.”
  • Die Menschen haben auf breiter Front Existenzängste. Und Existenzängste führen immer zu Extremismus-Reaktionen. Die Leute radikalisieren sich. Man konnte in den 1930er-Jahren wunderbar beobachten, was in Deutschland los war, als die breite Masse Existenzangst kriegte. Da waren Möglichkeiten für radikale Parteien fürs Abfischen gegeben.”
  • “(…) Kapitaldeckung ist die Verschärfung eines Problems, das uns heute schon furchtbar zu schaffen macht. Die Empirie in der Schweiz zeigt: Es funktioniert nicht. Jede Form, in der wir versuchen, solidarisches, gesellschaftliches Teilen durch Kapitalmarktinvestitionen zu ersetzen, liefert unsere Gesellschaft den Kapitalmarktgesetzen aus. Und nichts ist zurzeit so volatil und unsicher wie der Finanzmarkt.” – bto: Und auch an den Kapitalmärkten sinkt demografiebedingt die Rendite.
  • An fünf Fingern einer Hand ist abzuzählen, dass wir bei einer schrumpfenden Nachwuchsgeneration und gleichzeitigem Bildungsverfall in dieser Generation nicht darauf hoffen können, dass wir in Deutschland eine wirtschaftlich strahlende Zukunft haben werden – und die ist ja Voraussetzung für eine gute Alterssicherung.” – bto: Klarer kann man es nicht sagen!
  • Das Erste ist, dass wir aus dem Klassensystem bei der Alterssicherung raus müssen. Dass die Abgeordneten Gesetze machen, die Beamten diese vollziehen und die Richter, die zu diesen Fragen Recht sprechen, dass die alle nichts davon mitkriegen, wie diese Gesetze sich am eigenen Leib anfühlen, das ist ein Skandal sondergleichen. Diese Zwei-Klassen-AV muss beendet werden.”
  • Alle Gruppen, alle Einkommensklassen müssen rein ins System. Das war mein Vorschlag, den ich schon vor 20 Jahren gemacht habe, dass wir das System steuerähnlich, nach dem Muster des Solidaritätszuschlages Ost, nämlich als Zugschlag zur Einkommenssteuer, finanzieren. Das alleine verspricht uns Transparenz.” bto: Das wird auch so kommen.
  • Wenn die Alten später, oder bereits jetzt, arbeiten müssen, dann werden sie arbeiten. Und das bedeutet, dass wir zurzeit eine schleichende Abschaffung des Rentenalters als solches erleben.” bto: Und was ist so schlimm daran angesichts einer ständig steigenden Lebenserwartung?
  • Die Leute haben Zukunftsängste, und Zukunftsangst macht empfänglich für radikale Botschaften. Das ist der eigentliche Entstehungsgrund für die AfD: dass wir von den etablierten Parteien eine Politik erlebt haben, die die wesentlichen Zukunftsfragen immer hat schleifen lassen und den Bürgern ein X für ein U vorgemacht hat. Und dafür müssen sie jetzt einen Preis zahlen, und ich hoffe, dass das jetzt endlich mal zum Aufwachen führt.”

bto: alles richtig. Jetzt packen wir dazu einen Abschwung der Weltwirtschaft, mehr Protektionismus, einen Zerfall des Euro/bzw. hohe Kosten des Weiterbetriebs, höhere Kosten für Verteidigung, hohe Kosten für Migration. Dann haben wir das Gemisch, welches zur politischen Krise wird. Alles die Folge verfehlter Politik. Ein Grauen.

 

→ freitag.de: „Die Leute haben Zukunftsängste“, 21. Oktober 2016