„Das kann nicht gutgehen mit dem Kapitalismus“

Ein Leser hat mich schon vor einiger Zeit auf dieses Interview mit dem Soziologen Wolfgang Streeck hingewiesen. Er fragte, was ich von dieser Kapitalismuskritik halte. Nun, recht wenig:

  • „Ich glaube, dass es gute Gründe dafür gibt, anzunehmen, dass der Kapitalismus nicht durch eine Revolution abgeschafft oder überwunden wird, sondern von selbst verendet. Es gibt viele Symptome des Niedergangs (…).“ – bto: In der Tat gibt es viele Symptome des Niedergangs. Nur stellt sich die Frage, ob diese auf den Kapitalismus zurückzuführen sind oder auf andere Einflussfaktoren. Meines Erachtens sind viele Probleme die Folge der Aushebelung von kapitalistischen Grundprinzipien.
  • „Zuerst der anhaltende Rückgang der Wachstumsraten verschärft seit 2008. Verbunden damit die extreme Zunahme der Verschuldung, sowohl der Staaten als auch der Privathaushalte und Unternehmen. Drittens die Zunahme der ökonomischen Ungleichheit in diesen Gesellschaften.“ – bto: Diese Themen sehe ich auch. Allerdings muss man wissen, dass rückläufiges Wachstum kein Problem wäre, würden wir nicht in einer Ponzi-Wirtschaft leben, die vor allem von der Politik herbeigeführt wurde: immer mehr Versprechen und Schulden bei gleichzeitig immer weniger Investitionen, die die Grundlage für Wachstum wären. Die Ungleichheit bei Vermögen ist die Folge der Verschuldung (Leverage!) wie ich immer wieder erkläre. Die Ungleichheit der Einkommen innerhalb von Ländern hat zugenommen, global jedoch abgenommen. Das ist der größte Wohlstandszuwachs seit Menschengedenken und ein enormer Erfolg. Dies wird hier mit keinem Wort erwähnt!
  • „Die Lösungen, die das Wachstum ankurbeln und die Verteilungsprobleme beschwichtigen sollten, waren Inflation, Staatsverschuldung, Aufblähen des Finanzsektors. Die aktuelle Phase ist das Aufblähen der Bilanzsummen der Zentralbanken. Alle diese Lösungen sind hochgefährlich!“ – bto: O. k., nichts davon ist systemimmanent, sondern es ist die Folge von Eingriffen in das System! Der Kapitalismus ist inhärent deflationär, und zwar im positiven Sinne. Produktivitätsfortschritte führen zu sinkenden Kosten und Preisen. Das kann, wie die Geschichte lehrt, mit hohen Wachstumsraten einhergehen. Staatsverschuldung (und zum Teil auch private Schulden) sind die Folge von falscher Politik. Statt in Bildung und Innovation zu investieren, wurde lieber kurzfristig konsumiert. Dem Finanzsektor wurde eine implizite Staatsgarantie gegeben. Nur deshalb waren die Risiken überhaupt möglich. Und was die Notenbanken jetzt machen, kann man doch auch nichts ernsthaft dem Kapitalismus anlasten!
  • „Bei den politischen Entscheidungsträgern herrschte immer wieder Alarmzustand. Als in den Siebzigerjahren die Konjunktur einbrach und die Arbeitslosigkeit stieg, hatten Helmut Schmidt und die anderen damaligen Regierungschefs ständig das Schreckensbild der großen Krise von 1929 vor Augen. (…). Auch heute ist man sich in den Zentralen des Kapitalismus der Dramatik der Lage sehr bewusst. Larry Summers, der unter Clinton die Finanzmärkte deregulierte, spricht von ‚säkularer Stagnation‘. Und der Ökonomie-Nobelpreisträger Paul Krugman fordert, man solle lieber Crashs riskieren und gefährliche Kredite vergeben, als gar keine. Da herrscht doch die schiere Panik.“ – bto: genau bei jenen, die durch ihre Politik die eigentlichen kapitalistischen Steuerungsmechanismen außer Kraft gesetzt haben!!
  • „Nach der Großen Depression war der Kapitalismus so gut wie am Ende; nur der Krieg und sein Ausgang haben ihn wieder möglich gemacht. Allerdings wohl kaum für immer. (…) Aber aus der Geschichte des Niedergangs des Römischen Reiches kann man vielleicht lernen, wie in Übergangsphasen ein Zustand der Rat- und Regellosigkeit eintritt. Das Leben in den Provinzen verliert seine Sicherheit gewährende Struktur, weil das Imperium mit seinen Legionen es nicht mehr schützen kann.“ – bto: Niedergang Roms: Demografie war neben der Entstehung von Monopolen und fehlendem Wettbewerb bei gleichzeitiger Entwertung des Geldes wohl die Hauptursachen. Da gibt es heute erhebliche Parallelen. Jedoch sind diese eben nicht ‚Kapitalismus‘-inhärent, sondern Folge der Politik!
  • „Ein Beispiel ist die abnehmende Gestaltungskraft des Arbeitsmarktes für die Lebensführung. Niemand kann sich mehr auf seinen Job verlassen. Jeder muss ständig improvisationsbereit sein. Der Einzelne muss sich sozusagen mit Humankapital bis an die Zähne bewaffnen, weil das System nicht für seine Sicherheit sorgen kann. (…) Der Wandel ist so schnell geworden, dass viele nicht mehr mitkommen können.“ – bto: Was ist mit den Hunderten von Millionen Menschen, die dafür nicht mehr in Armut leben müssen?
  • „Und dennoch strömen den kapitalistisch weit fortgeschrittenen Ländern wie Deutschland die Menschen zu und die weniger entwickelten Länder streben ihrem Vorbild nach. Alle wollen kapitalistisch werden. Und da reden Sie vom Ende des Kapitalismus? – Sie wollen vor allem reich werden, so reich wie die Amerikaner in den Fernsehserien. Die werden in der Realität aber in der großen Mehrzahl immer ärmer, genau wie heute die meisten Südeuropäer.“ – bto: Was ist verwerflich daran, nach einem besseren Leben zu streben?
  • „Damit aber der Kapitalismus als Gesellschaft funktioniert, muss es Gegenkräfte geben, die die Marktergebnisse.“– bto: Das stimmt. Vor allem müssen Monopole verhindert werden und es muss eine gewisse Umverteilung geben. Wichtig: Die natürliche Flucht der Marktteilnehmer aus dem Druck des Systems (Korruption, Vetternwirtschaft, Monopole) muss verhindert werden.
  • „Der französische Ökonom Gabriel Zucman hat kürzlich recherchiert, dass die unfassbare Summe von 4.700 Milliarden Euro in Steueroasen hinterzogen wird. Würde dieses Geld legal versteuert, könnten einige Staatshaushalte saniert werden. Siehe auch die von Piketty nun für alle dokumentierte wachsende Ungleichheit der Vermögen und Einkommen.bto: Wer versagt hier? Der Kapitalismus oder die Regulierung? Die Vermögen sind ungleich, weil wir eine enorme Verschuldung zugelassen haben, die vor allem dazu diente, schon vorhandene Vermögenswerte uns gegenseitig zu immer höheren Preisen zu verkaufen. Meine Piketty-Kritik ist hier nachzulesen.
  • „Ich weise nur auf die rapide zunehmenden gesellschaftlichen Brüche hin und wünsche mir, dass wir beim Nachdenken über die Zukunft die Möglichkeit eines langsamen Zerfalls der kapitalistischen Ordnung – einer Reduzierung des gesellschaftlichen Lebens auf die Gesetze des Marktes – nicht ignorieren. Eine Gesellschaft ohne Sicherheit und Solidarität, von Zynismus zerfressen und ständig von platzenden Blasen bedroht, in der sich rettet, wer kann, zusammengehalten durch grenzenlose Konsumlust am Rande der ökologischen Möglichkeiten – das kann nicht gutgehen.“

Ich halte davon recht wenig. Zum einen versteht der Kapitalismuskritiker den Kapitalismus nicht, der ja eher ein „Debitismus“ ist. Siehe dazu die Serie zur Eigentumsökonomik. Dazu verkennt er die grundlegenden Probleme wie die rückläufige Bevölkerung und die immer schlechtere Bildung und die geringen Zukunftsinvestitionen. Auch werden kapitalismusfremde Eingriffe und deren Folgen als Beleg für den Niedergang des Kapitalismus angeführt. Der Nutzen des Kapitalismus für andere Menschen in ärmeren Regionen wird verneint oder ausgeblendet. Es passt aber in die Strategie der Politik, die Schuld für die Folgen des eigenen Versagens woanders zu suchen.

WiWo.de: „Das kann nicht gutgehen mit dem Kapitalismus“, 8. Januar 2016