Das Dilemma der EZB

Das Dilemma der EZB ist bekannt. Dennoch kann man es sich nochmals zusammengefasst vor Augen halten. Charles Wyplosz, Professor für International ­Economics am Graduate Institute in Genf erläutert seine Sicht in der FINANZ und WIRTSCHAFT:

  • “Viele andere Notenbanken haben mittlerweile grössere Zinsschritte gemacht, weil die Inflation so weit über dem offiziellen Ziel liegt, dass es mit Schritten von 25 Bp ewig dauern würde, ein Zeichen zu setzen. Die EZB wurde sehr spät aktiv, und so hatte sie keine vernünftige Alternative, als dem Vorbild der anderen zu folgen, zumal ihr Zögern den Euro belastet hat, was natürlich die Inflation weiter befeuert.” – bto: Und dies wird es weiter tun, denn wir haben eine schwierige Lage.
  • “Der EZB gebührt Lob, dass sie nun die Abkehr von der Forward Guidance angekündigt hat. (…) Als die Inflation auf sehr niedrigem Niveau verharrte, war Forward Guidance sinnvoll. Nun, da jede Veröffentlichung neuer Daten Überraschungen birgt, ist das anders.” – bto: Das entspricht der Kritik, die auch Ricardo Reis im Gespräch mit mir betont hat.
  • Wie weit die EZB die Zinsen noch anheben muss. ist dennoch bedeutsam. Die einfache Rechnung sieht wie folgt aus: In ihrer jüngsten Prognose (Juni) geht die Notenbank von einer Inflationsrate von 3,5% im Jahr 2023 und etwa 2% für 2024 aus. Die geldpolitische Wirkung tritt in der Regel mit einer Verzögerung von über einem Jahr ein. Damit die Geldpolitik jetzt restriktiv ist, müsste der EZB-Einlagensatz höher sein als 3,5% plus der reale Gleichgewichtszins. Wie hoch Letzterer ist, weiss man nicht. Schätzungen reichen von 0,5 bis 2%. Somit müssten die Zinsen bei 4 bis 5,5% liegen.” – bto: Genau auf diesen Wert kam auch Ricardo Reis.
  • “Ein solches Zinsniveau könnte die Tragfähigkeit der Staatsschulden gefährden. Deshalb befürchtete man, die EZB werde sich nicht trauen, die Zinsen so weit zu erhöhen, wie es nötig ist, um die Inflation einzudämmen. Ihre Antwort darauf ist das neue Transmissionsschutzinstrument (Transmission Protection Instrument, TPI). Es erlaubt ihr, gewisse nationale Staatstitel zu kaufen, die am Markt stark unter Druck sind. Das neue Instrument kommt zusätzlich zu den Outright Monetary Transactions (OMT) – auch bekannt im Zusammenhang mit «Whatever it takes» – und dem Pandemic Emergency Purchase Program (PEPP) hinzu.” – bto: Das allein unterstreicht schon, dass es eben nicht nötig war, ein neues Instrument zu schaffen.
  • “EZB-Präsidentin Christine Lagarde hat zu Recht darauf hingewiesen, dass das TPI und die Zinserhöhungen eng miteinander verbunden sind. Ohne dieses Instrument stünde die EZB vor der unmöglichen Entscheidung, die Inflation zu senken, damit aber eine potenziell verheerende Schuldenkrise auszulösen. Das TPI kann da Wunder wirken, seine Konditionalität bringt aber eine gewisse Unsicherheit mit sich, die sich der Kontrolle der EZB entzieht. Das zeigt, dass die EZB trotz erheblicher Fortschritte immer noch keine normale Zentralbank ist.” – bto: Nein, ein Zinsdeckel für Italien und Co. bedeutet anhaltende Inflation.
  • “Bei strenger Auslegung sind jegliche Interventionen ausgeschlossen, die als Bail-out gedeutet werden könnten. Wohl deshalb hat die EZB zwei Jahre gebraucht, um OMT zu lancieren, während sich eine Reihe von Schuldenkrisen abspielte. Ein Urteil des Europäischen Gerichtshofs zu OMT hat die strikte Auslegung zwar aufgehoben, dennoch sieht sich die EZB immer noch genötigt, Bedingungen aufzustellen, um weitere Klagen zu verhindern und Konflikte zwischen hoch und niedrig verschuldeten Mitgliedländern zu vermeiden. Genau das hat sie mit der Verabschiedung des TPI erreicht.” – bto: Die Gerichte winken es ohnehin durch, egal, dass es die Deutschen noch ärmer macht.
  • “Zudem könnte dieses Risiko die EZB davon abhalten, die Inflation entschlossen zu senken. Auch deshalb kann sie nicht als normale Zentralbank gelten. Abgesehen von rechtlichen Erwägungen wird sie zudem durch einen Mangel an Vertrauen ihrer Mitgliedländer behindert: Die niedrig verschuldeten Staaten sind nicht gewillt, über die EZB für die Schuldensünder zu zahlen, und die hoch verschuldeten scheinen nicht in der Lage zu sein, ihre Haushaltsdefizite in den Griff zu bekommen. Wenn das reibungslose Funktionieren, ja das Überleben des Euros gewährleistet werden soll, muss etwas geschehen.” – bto: Gemeint sind Transfers von uns nach Italien.

fuw.ch (Anmeldung erforderlich): „EZB im heiklen Kampf gegen die Inflation“, 8. August 2022