Dabei weiss sie es besser: Lobgesang auf Merkels Bilanz

Karen Horn war lange Zeit Redakteurin der F.A.Z. und versteht wirklich was von Wirtschaft. Später war sie Vorsitzende des Vorstands der Friedrich A. von Hayek-Gesellschaft und leitete den Juniorenkreis Publizistik. 2015 gab sie gemeinsam mit etwa 50 weiteren Mitgliedern ihren Austritt bekannt. Ihren Austritt begründete sie im Monatsmagazin Cicero mit einem Rechtsruck in der Hayek-Gesellschaft. So Wikipedia.

Ich denke, das muss man im Hinterkopf haben, wenn eine eigentlich vernünftige und zudem wirtschaftsliberale Journalistin sich nicht zu fein dafür ist, die objektiv desaströse wirtschaftspolitische Bilanz der letzten Jahre so zu beschönigen. Nein: Merkels Bilanz kann sich nun wahrlich nicht sehen lassen. Schauen wir uns die Argumentation an:

  • “(…) als Merkel im Herbst 2005 den Sozialdemokraten Gerhard Schröder im Kanzleramt ablöste, da zählte Deutschland noch rund fünf Millionen Arbeitslose. Heute sind es weniger als die Hälfte, und es gibt so viele Stellen wie nie. Das Wirtschaftswachstum dümpelte 2005 bei 0,7 Prozent; Deutschland war Schlusslicht in Europa. Während der Kanzlerschaft Merkels nahm die deutsche Wirtschaft wieder Fahrt auf und erholte sich dann sogar rasch von der globalen Finanzkrise. Durch diesen Sturm steuerte Merkel das Land erfolgreich hindurch, mit ruhiger und sicherer Hand, mit persönlicher Überzeugungskraft und maßvoll eingesetzten fiskalpolitischen Stabilisierungsmitteln.”  bto: Wesentliche Treiber des Erfolgs sind die Lohnzurückhaltung (und das war die SPD mit Hartz IV), das billige Geld und der schwache Euro Folge der Weigerung der Regierungen Merkel, die Eurokrise wirklich zu lösen. So gesehen ein teurer “Erfolg”, wie wir noch sehen werden.
  • “Als Stütze erweist sich dabei gar nicht mehr so sehr der deutsche Export, der lange vom schwachen Eurokurs profitiert hatte, sondern vielmehr die mittlerweile doch noch in Schwung gekommene Binnenwirtschaft. Konsum wie auch Investitionen wachsen stetig.”  bto: Der Exportanteil an der Wirtschaft ist deutlich höher als vor zehn Jahren. Ansonsten liegt es am billigen Geld in Folge der verschleppten Krise.
  • “Zudem ist die Staatsverschuldung im Griff, dank der Schuldenbremse, die seit 2009 in der Verfassung steht und tatsächlich greift. Das alles kann sich gut sehen lassen.”  bto: Hm, schon mal was von verdeckten Schulden gehört? Ich nehme an ja, denn die Hajek-Gesellschaft schaut ja über den Tellerrand. Dann kann man diesen Satz nur als Propaganda empfinden.
  • “(…) es (kam) zu mancherlei ordnungspolitischen Sündenfällen. Die Mehrwertsteuer sank nach der Wahl nicht etwa wie angekündigt, sondern stieg um drei Prozentpunkte, so heftig wie nie. Der Wohlfahrtstaat wurde in den darauf folgenden Jahren nicht gestutzt, sondern ausgebaut, wenn auch weniger stark als beispielsweise noch unter der Kanzlerschaft Helmut Kohls. Immerhin gelang zunächst noch die zur Sanierung der Rentenkassen dringend notwendige Anhebung des Rentenalters auf 67 Jahre – wovon aber später, in der zweiten großen Koalition,  wieder Abstriche gemacht wurden.”  bto: So kann man es natürlich auch verkaufen …
  • “Von reiner ‘neoliberaler’ Lehre war generell nur wenig zu erkennen; auch als Merkel 2009-2013 die FDP an Bord nahm. Zum Jahresbeginn 2015 traten dann auch noch der flächendeckende gesetzliche Mindestlohn und die Mietpreisbremse in Kraft. Es folgten die Rente mit 63 und die Mütterrente. Und so weiter. Doch nie konnte man den Eindruck gewinnen, dass Merkel diese Dinge ein eigenständiges Anliegen waren; sie waren Antworten auf die Wünsche der Bürger und der Preis für Stabilität.”  bto: Hauptsache es bringt Stimmen.
  • “Von allergrößter politischer wie auch wirtschaftlicher Tragweite hingegen waren Angela Merkels Entscheidungen zum Atomausstieg, zur sogenannten Euro-Rettung und zur Flüchtlingsmigration. Ohne sie sähe Deutschland anders und gewiss nicht besser aus. Sie sind es, die als das große Erbe der ersten deutschen Bundeskanzlerin in die Geschichte eingehen werden. Hier hat Merkel gestaltet, nicht nur moderiert und optimiert.”  bto: und in allen drei Bereichen den maximal möglichen finanziellen Schaden verursacht. Wie kann man diese drei Fehlleistungen als “großes Erbe” bezeichnen?
  • “Alle diese drei Entscheidungen waren richtig und wohlbegründet: der Atomausstieg mit den allzu lange überhaupt nicht in die Kalkulation einbezogenen, nach der Reaktorkatastrophe in Fukushima jedoch überdeutlich in Erscheinung getretenen Risiken; die Euro-Rettung mit der sonst stark gefährdeten Systemstabilität in der europäischen Währungsunion; die Aufnahme von Flüchtlingen mit einer humanitären Notlage, an der der Westen nicht unbeteiligt war.”  bto: Bei uns gibt es ja Tsunamis, der Euro ist krank wie zuvor und die “Flüchtlinge” stammen überwiegend nicht aus Kriegsgebieten. Das weiß auch Frau Horn. Dennoch dieses beschönigende Verdrehen der Fakten.
  • “Alle diese drei Entscheidungen ließen jedoch erhebliche Kostenrisiken entstehen, und dann war auch noch die praktische Umsetzung problematisch. Die Energiewende (…) entwickelte sich zu einem wahren Koloss der Intervention und der staatlichen Anmaßung von Wissen über aussichtsreiche Zukunftstechnologien; mit der Euro-Rettung navigierte man nach langem Zögern ordnungspolitisch fragwürdig und hart am Rand des Zulässigen; die Aufnahme der Flüchtlinge wurde zum gesellschaftlichen Dauerstresstest und legte Schwachstellen der Bürokratie offen, die alle Befürchtungen übertrafen.”  bto: Wie kann man angesichts dieser offensichtlich fatalen Folgen überstürzter Entscheidungen von “großem Erbe” sprechen? Verschließt sich mir. Aber völlig.
  • Um dann zu schließen: “(…) ohne Angela Merkels besonnenes Management sähe nicht nur die politische, sondern auch die wirtschaftliche Bilanz der vergangenen 13 Jahre gewiss schlechter aus. Letztlich ist es Deutschland mit ihr gut ergangen.”  bto: Da bleibt einem die Spucke weg. So kann nur schreiben, wer den Kurs von Merkel aus humanitären Gründen will (das ist legitim, auch wenn ich selber anderer Meinung bin) und deshalb die Kanzlerschaft um jeden Preis verteidigt. Entgegen dem eigenen Sachverstand. Ich finde, es geht zu weit.

Capital war angesichts der Lobhudelei der eigenen Kolumnistin wohl nicht ganz wohl und hat sich dann noch bei Hans-Werner Sinn bedient, der  wenig verwunderlich  nicht ganz zur selben Einschätzung gelangt. Auszüge aus dem Interview:

  • “Angela Merkel fing an mit der Ankündigung weiterer Reformen am Arbeitsmarkt, die über Schröders Reformen noch hinausgehen würden. Tatsächlich hat sie durch die Rente mit 63 und durch den gesetzlichen Mindestlohn Schröders Reformen ein Stück weit zurückgedreht. Außerdem hat sie eine Energiewende zum Zappelstrom aus Wind- und Sonnenlicht eingeleitet. Der Versuch, aus der Atomkraft und aus der Kohle zugleich auszusteigen, wird der Industrienation Deutschland nicht gut bekommen. Bei der Flüchtlingskrise und bei den neuerlichen EU-Beschlüssen gegen die deutsche Automobilindustrie zeigte die Kanzlerin einen bedrohlichen Macht- und Kontrollverlust. Beim Brexit war ihre Migrationspolitik das Zünglein an der Waage für die Entscheidung der Briten. Ich hätte mir eine bessere Bilanz gewünscht und bedauere sehr, dass sie nicht zustande kam (…).”  bto: wie wohl jeder klar denkende Bürger!
  • “Die (…) Rettungskaskade über die fiskalischen Rettungsschirme und die Tolerierung der Rettungsaktionen durch die EZB haben die Portfolios der Finanzanleger gerettet und den Ländern Südeuropas geholfen, ihre Probleme vor sich herzuschieben. Italien und Griechenland zeigen, dass nichts, aber auch gar nichts erreicht wurde. Die Kanzlerin ließ sich, weil sie selbst wenig von den Dingen verstand, von der Finanzindustrie und Frankreich ins Bockshorn jagen. Die Entscheidung der Kanzlerin, ihrem Finanzminister Schäuble 2015 in den Rücken zu fallen, der ja schon 15 andere Finanzminister für eine Rettung Griechenlands außerhalb des Euro hatte gewinnen können, war grundfalsch, denn damit wurde die Chance einer Gesundung der griechischen Wirtschaft und einer Klärung der Klubregeln der Eurozone verpasst. Nun geht es mit einem wachsenden Strom an Gemeinschaftsgeld zugunsten der nicht mehr wettbewerbsfähigen Länder in Südeuropa immer weiter.”  bto: Tja, Frau Horn, das sind doch wohl bessere Argumente.
  • “Analysen zu den langfristigen Wirkungen ihrer rückwärtsgewandten Wirtschaftspolitik (mochte Merkel) nicht – um hier einmal ein Gutachten des deutschen Sachverständigenrates zu zitieren. Mit den langfristigen Sachproblemen, die Volkswirte in den Vordergrund ihrer Betrachtungen stellen, wollte sie sich nicht belasten. Sie war die Kanzlerin des Hier und Jetzt.”  bto: Nach mir die Sintflut und die kommt jetzt!
  • “Wir haben nun 1,6 Millionen Hartz-IV-Empfänger aus Nicht-EU-Staaten. Und man vergesse nicht: Auch Migranten, die als Geringqualifizierte arbeiten, sind netto gerechnet Kostgänger des Staates, weil sie nur unterdurchschnittlich Steuern und Abgaben zahlen, doch mindestens durchschnittlich vom Potpourri der staatlichen Leistungen im Bereich der Infrastruktur, der Rechtspflege, der Bildung und der Sozialleistungen profitieren. Dass neue Migranten Wachstum schaffen, wenn sie arbeiten, ist zwar richtig. Nur gehört ihnen dieses Wachstum in der Marktwirtschaft selbst, weil es den Löhnen entspricht, die sie beziehen. Die Altsassen haben davon nichts.” bto: immer meine Rechnung: Deckungsbeitrag genügt nicht!

Horn vs. Sinn? Ach, das wäre zu billig.

→ capital.de: “Warum sich Merkels Bilanz sehen lassen kann”, 6. November 2018

→ capital.de: “Hans-Werner Sinn: „Merkel war die Kanzlerin des Hier und Jetzt“”, 8. November 2018